100 Tage Mindestlohn. Eine Bilanz

Nur ein Papiertiger

Jahrelang haben Arbeitgeberverbände und wirtschaftsliberale Ökonomen den Mythos gepflegt, der gesetzliche Mindestlohn sei ein Jobkiller. Erste Erfahrungen seit dessen Einführung belegen nun, dass er die regressive Lohnpolitik des Standortes Deutschland kaum tangiert.

Seit fast 100 Tagen gibt es in der Bundesrepublik einen gesetzlichen Mindestlohn. Glaubt man den Arbeitgeberlobbyisten der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM), ist er ein »schleichendes Gift« für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Angeblich seien durch die Lohnuntergrenze von 8,50 Euro Stundenlohn 570 000 Arbeitsplätze in Gefahr. Es gehe vor allem um die Jobs von »Geringqualifizierten« und um das Minijob-Segment. Davor warnt die von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanzierte INSM in einem kürzlich veröffentlichten Positionspapier, dem eine von der INSM in Auftrag gegebene Studie der Arbeitsmarktforscher Andreas Knabe und Ronnie Schöb zugrundeliegt. Die INSM fordert den Gesetzgeber auf, den Mindestlohn abzuschaffen oder zumindest schleunigst weitreichende Ausnahmen zu verabschieden, die eine weitere Aushöhlung des Mindestlohns zur Folge hätten.

Noch vor gut einem Jahr hatten Knabe und Schöb, damals im Auftrag des arbeitgeberfreundlichen Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München, in einer Studie nicht nur von einem »schleichenden Gift« gesprochen, sondern für den Fall der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns eine regelrechte »Horrorprognose« (Heinrich Alt, Bundesagentur für Arbeit) erstellt. Damals sahen sie 900 000 Arbeitsplätze konkret gefährdet, es war von der Vernichtung von »mindestens 660 000 Minijobs« und der damit einhergehenden Zerstörung dieses für die »Flexibilität des Standortes Deutschland so wichtigen Segments des Arbeitsmarktes« die Rede. Diesen Alarmismus nahmen konservative und liberale Medien nur allzu bereitwillig auf. »Rettet den Niedriglohnsektor«, forderte der FAZ-Wirtschaftsredakteur Sven Astheimer verzweifelt. Ein wenig professoraler formulierte es der liberale Würzburger Wirtschaftswissenschaftler Norbert Berthold, der als wissenschaftliche Autorität in den Studien des INSM häufig zitiert wird. »Gesetzliche Mindestlöhne sind ein Anschlag auf die marktwirtschaftliche Ordnung«, schrieb er in seinem Blog »Wirtschaftliche Freiheit«, um anschließend im typisch paranoiden Stil der wirtschaftsliberalen Tradition prinzipiell zu werden: »Das ist der Weg in die Knechtschaft, vor dem Friedrich August von Hayek gewarnt hat.«
Von solcher Hysterie ist die Debatte um den Mindestlohn derzeit weit entfernt. Auch in den Reihen der Bundesregierung scheinen sich die Wogen geglättet zu haben. Nach der Unterzeichnung des schwarz-roten Koalitionsvertrags mit der darin enthaltenen Verpflichtung zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns äußerten Teile der Union lautstark ihren Unmut.
Noch im vergangenen Frühjahr, wenige Wochen vor der Verabschiedung des Gesetzes, opponierten vor allem Spitzenpolitiker der CSU und des Wirtschaftsflügels der CDU gegen den Mindestlohn. Im Juni bezeichnete ihn Wolfgang Steiger, der Generalsekretär des Wirtschaftsrats der CDU, noch als »grundsätzlichen Irrweg«. Solch eine Fundamentalkritik ist inzwischen kaum noch zu vernehmen. Lediglich einige Hinterbänkler arbeiten sich noch an dem Gesetz ab, das im Juli verabschiedet wurde und am 1. Januar in Kraft getreten ist. Ende Januar warnte Alexander Bode, der Vorsitzende des Jungen Wirtschaftsrates der CDU, vor einem Rückgang von Unternehmensgründungen, mehr als einen Abbau der »bürokratischen Hemmnisse« bei der Dokumentationspflicht für die Unternehmen wollte aber auch er nicht fordern. Unstimmigkeiten scheint es nur noch darüber zu geben, wer sich diesen Erfolg zuschreiben darf. Die Einführung einer gesetzlichen Lohnuntergrenze gilt der Union mittlerweile als »Meilenstein in der christsozialen Politik«, wie man auf der Website der CDU/CSU-Bundestagsfraktion lesen kann. In den Verlautbarungen der Sozialdemokratie wird der gesetzliche Mindestlohn selbstverständlich als Verdienst der SPD dargestellt.

Die breite Zustimmung zum Mindestlohn im politischen Establishment – lediglich Protagonisten von AfD und FDP präsentieren sich gelegentlich noch als scharfe Kritiker – speist sich daraus, dass die Erfahrungen, die man seit dessen Einführung gesammelt hat, bewiesen haben, worauf Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) schon immer hingewiesen hat: Jenseits einer Korrektur einiger weniger »sittenwidriger Arbeitsverhältnisse« hat sich nicht viel geändert. Das durch geringe Lohnstückkosten und den größten Niedriglohnsektor Europas angefeuerte Exportmodell des Standorts Deutschland und dessen Erfolg werden durch den Mindestlohn nicht in Frage gestellt. Nicht nur weil in der Exportindustrie Stundenlöhne von weniger als 8,50 Euro kaum vorkommen, profitieren von dieser ohnehin ausgesprochen niedrig angesetzten Lohnuntergrenze derzeit nur sehr wenige Beschäftigte. Nur etwa 4,4 Prozent der Beschäftigten seien von der Regelung betroffen, heißt es in einer Mitte März veröffentlichten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, einer Einrichtung der Bundesagentur für Arbeit (BA). Nur jeder achte Betrieb in der Bundesrepublik sei überhaupt betroffen und dies zusätzlich meist nur in wenigen Bereichen.
Verantwortlich dafür sind auch die mannigfaltigen Ausnahmeregelungen für bestimmte Arbeitsbereiche und gesellschaftliche Gruppen, die in das Gesetz aufgenommen wurden. So gilt die Lohnuntergrenze nicht für Jugendliche, und auch nicht für Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten nach Aufnahme einer Beschäftigung. Es gibt Arbeitgeber, die das nutzen, nach einem halben Jahr endet dann das Beschäftigungsverhältnis und ein anderer Arbeitsloser erhält den Job. Auch für Saisonarbeiter in der Landwirtschaft und Zeitungsausträger gelten Ausnahmen vom Mindestlohn. Darüber hinaus bleiben abgeschlossene Tarifverträge bis Ende 2016 gültig, auch wenn in ihnen geringere Stundenlöhne vereinbart wurden. Unternehmern, denen selbst diese Ausnahmen nicht reichen, bieten sich diverse Möglichkeiten des weitgehend ungeahndeten Abrechnungsbetrugs, über den derzeit häufig berichtet wird. Unternehmen kündigen ihren Angestellten und lassen sie nur noch als Selbständige arbeiten. Für die gilt der Mindestlohn nämlich nicht. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, wird diese Methode insbesondere in der Baubranche angewandt. Zeit Online widmete sich den unerfüllbaren Vorgaben, die Arbeitgeber ihren Angestellten machen. In vielen Branchen sind für bestimmte Tätigkeiten feste Zeitspannen vorgesehen. In einem Krankenhaus kann der Arbeitgeber der Reinigungskraft die Vorgabe machen, einen bestimmten Flur in zwei Stunden zu reinigen. Dabei weiß auch er: Für diesen Flur benötigt man eigentlich 2,5 Stunden. Das Nachsehen hat der Arbeitnehmer, der die halbe Stunde dennoch arbeiten muss, natürlich unbezahlt. Ähnliches wurde auch über die Branche der Paketzusteller berichtet. Manche Arbeitgeber sind ungeheuer kreativ, wenn es darum geht, den Mindestlohn zu umgehen. Vollzeitstellen werden in Teilzeitstellen umgewandelt, bei gleicher Arbeitszeit. Oder es wird eine Bezahlung in Naturalien angeboten. So berichtete der Stern über Mitarbeiter von Kinos, denen statt der Auszahlung des Mindestlohns Popcorn angeboten wurde.

In seiner Frühjahrsprognose geht das IAB sogar davon aus, dass die Einführung des Mindestlohns einer der Gründe für den derzeitigen Aufschwung auf dem deutschen Arbeitsmarkt sei. Der Analyse zufolge nimmt die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen zu. Es wird gegenüber dem Vorjahr ein »Anstieg um 540 000 auf den Rekordwert von 30,74 Millionen« für das Jahr 2015 prognostiziert. Darüber hinaus konnte das IAB eine Verringerung der Zahl der Arbeitslosen auf derzeit 2,79 Millionen vermelden. Gerade »Wirtschaftsbereiche, die vom Mindestlohn besonders betroffen sind, bauen weiterhin Beschäftigung auf«, gab Enzo Weber, der beim IAB Leiter des Forschungsbereichs »Prognosen und Strukturanalysen« ist, der Berliner Zeitung zu Protokoll. Grundsätzlich könne sich der Mindestlohn in vielerlei Hinsicht positiv auswirken, »zum Beispiel auf Arbeitsangebot, Humankapitalinvestitionen, Beschäftigungsstabilität, Stellenbesetzung und Produktivität«, heißt es in der aktuellen IAB-Prognose. Der Mindestlohn wirkt offensichtlich auch als Schrittmacher notwendiger Modernisierungen in wenig produktiven Branchen.
Die von Arbeitsministerin Nahles angesichts solcher Zahlen geäußerte Hoffnung, dass der Mindestlohn »den Aufwärtstrend am Arbeitsmarkt mit einem Plus bei der Kaufkraft« stützen könnte, ist dennoch völlig aus der Luft gegriffen. Denn obwohl einige der seit Dezember weggefallenen etwa 255 000 Minijobs offenbar tatsächlich durch versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse ersetzt worden sind, geht es den dort verbliebenen 6,6 Millionen Beschäftigten nicht wesentlich besser. Vor allem für die 1,35 Millionen Aufstocker in Deutschland, die bis zur Einführung des Mindestlohns fast durchgängig mit weniger als 8,50 pro Stunde abgespeist wurden, wird sich nicht viel ändern. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet insgesamt nur mit rund 50 000 Bedürftigen, die durch die Einführung des Mindestlohns nicht mehr auf Hartz IV angewiesen sind. Und auch ihr Haushaltseinkommen wird sich nicht nennenswert erhöhen, weil die höheren Einkommen lediglich den Wegfall der Sozialtransfers kompensieren werden. So ist derzeit die fast einzig relevante Veränderung durch den Mindestlohn die Entlastung der öffentlichen Haushalte: Bis zu 900 Millionen Euro könnte die öffentliche Hand sparen, schätzen die Experten des IAB. Und sie geben Entwarnung: Für den Standort seien durch den Mindestlohn auch weiterhin »keine entscheidenden negativen Effekte« zu erwarten. Insgeheim wusste man das vermutlich auch schon bei der INSM.