Die Debatte um Polizeigewalt in den USA

Gewalt mit System

Schlecht ausgebildete Polizisten bewachen die verarmte und arbeitslose Bevölkerung in den verwaisten Industriemetropolen der USA. Seit 20 Jahren führt die Null-Toleranz-Politik zu Massenverhaftungen und systematischen Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei.

Die Rauschschwaden sind verschwunden, der Ausnahmezustand aufgehoben und auch die Nationalgarde ist vergangene Woche aus Baltimore wieder abgezogen. Dennoch ist die Stadt an der Ostküste der USA weit davon entfernt, zum Alltag zurückzukehren. Zu groß ist der Schock über den gewaltsamen Tod des 25jährigen Freddie Gray, der Ende April in Polizeigewahrsam starb, was die schweren Unruhen auslöste.
Nachdem die Staatsanwältin für Baltimore sechs Polizisten, die an der Verhaftung von Gray beteiligt waren, angeklagt hatte, davon einen wegen Mordes, beruhigte sich die Stimmung in der Stadt. Nur selten werden Polizisten wegen Übergriffen oder sogar wegen Mordes angezeigt. Noch ungewöhnlicher ist die Forderung, die die Bürgermeisterin von Baltimore, Stephanie Rawlings-Blake, anschließend erhob: Das Justizministerium in Washington solle untersuchen, ob die Polizeibehörde der Stadt regelmäßig Bürgerrechte verletzt und exzessive Gewalt anwendet hat. Bürgerrechtsorganisationen fordern dies schon seit Jahren vergeblich.
Entspannt hat sich der Konflikt dadurch aber nicht, denn der Tod des jungen Mannes ist nur der vorläufige Höhepunkt einer nicht enden wollenden Reihe von gewaltsamen Polizeieinsätzen, bei denen zumeist Schwarze ums Leben kommen. Wie in Ferguson, Missouri, wo im vergangenen Herbst ebenfalls wochelang Unruhen anhielten, nachdem dort ein 19jähriger Schwarzer erschossen worden war.
Doch während Ferguson noch als lokales Problem abgehandelt wurde, sind durch die Ereignisse in Baltimore Polizeigewalt und soziale Konflikte nun zu einem Thema des beginnenden Wahlkampfes avanciert. Demokraten und Republikaner müssen bald entscheiden, wer für sie in das Rennen um die US-Präsidentschaft im kommenden Jahr ziehen soll. Heerscharen von Journalisten und Kamerateams versuchen seitdem in Sandtown, dem Viertel, in dem Freddie Gray lebte, zu erklären, wie alles so weit kommen konnte.

Viele machen die desolate wirtschaftliche Lage verantwortlich, unter der Viertel wie Sandtown leiden. Anfang der siebziger Jahre arbeitete jeder dritte Beschäftigte in Baltimore bei großen Industrieunternehmen wie Bethlehem Steel, General Motors oder auf den Docks im Hafen. Vier Jahrzehnte später ist davon nicht mehr viel übrig. »Das ist ein doppeltes Unglück für die arme schwarze Bevölkerung in den Städten«, sagt der Politikwissenschaftler Thomas J. Vicino, der sich jahrelang mit der sozialen Situation in Baltimore beschäftigt hat. »Sie können nicht an den neuen ökonomischen Entwicklungen teilnehmen und im besten Fall bleiben ihnen die schlecht bezahlten Jobs im Dienstleistungsbereich. Das erzeugt eine Spirale aus kaputten Familienverhältnissen und verelendeten Nachbarschaften.« Diese Umwälzungen betreffen zwar auch weiße Arbeiter, aber diese sind mobiler und können wegziehen. Für Schwarze ist es wegen der allgemeinen Diskriminierung wesentlich schwieriger, eine Wohnung in einer besseren Gegend zu finden.
Der Hinweis auf die schlechte wirtschaftliche Lage wirft aber zugleich die Frage auf, in welchem Maß bestimmte soziale Schichten strukturell benachteiligt werden. Schließlich hat sich die US-Wirtschaft größtenteils von der Finanzkrise erholt und nur wenige Kilometer von dem Problemvierteln entfernt präsentiert sich Baltimore mit einer schicken Innenstadt, wo von Not und Elend nichts zu sehen ist, die Mittel- und Oberschicht wohnt zumeist in den gepflegten Vororten.

In vielen US-Metropolen sieht es nicht viel anders aus. Detroit, einst Zentrum der Autoindus­trie, gilt derzeit als eine der gefährlichsten Städte der USA und wurde zeitweise wegen Zahlungsunfähigkeit unter Bundesverwaltung gestellt. Pittsburgh, St. Louis, Memphis, Cleveland und Philadelphia erlebten ähnliche Veränderungen. In jeder dieser Städte gibt es Gegenden, wo die Verlierer des technischen Wandels und der Globalisierung unter sich bleiben, wo Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität überdurchschnittlich verbreitet sind, wo Drogenhandel die einzige florierende Wirtschaftsbranche ist und wo Polizisten wie eine Besatzungsmacht auftreten.
Soziale Ungleichheit ist auch eines der Lieblingsthemen von Hillary Clinton, die für die Demokraten in den Wahlkampf ziehen will. In ihrem ersten Werbespot sprach sie noch ausschließlich die prekäre Situation der Mittelschichten an. Nach dem Riot in Baltimore beschäftigt sie sich nun auch mit den sozial Deklassierten und kritisierte in einer Rede eine Wirtschaftspolitik, »die zu viele Menschen zurückgelassen hat«. Sie wolle die »Ära der Massenverhaftungen beenden« und den »Kreislauf aus Armut und Verbrechen« überwinden.
Diese Aussagen sind insofern erstaunlich, als diese Entwicklung unter Präsident Bill Clinton ihren Anfang nahm. Die Republikaner warfen Clinton damals vor, zu lasch gegen Kriminelle vorzugehen, worauf dieser 1994 den »Violent Crime Control and Law Enforcement Act« unterzeichnete. Es wurden zahlreiche neue Gefängnisse gebaut und mehr Polizisten eingestellt. Zudem wurden die Strafen selbst für geringe Vergehen verschärft, vor allem für den Konsum von Crack und anderen Drogen, die in den Armutsvierteln üblich waren. »Zero Tolerance« hieß die neue Strategie.
Seitdem hat sich die Zahl der Strafgefangenen auf über zwei Millionen verdoppelt. Die USA weisten damit die weltweit mit Abstand höchste Inhaftierungsrate auf. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sind vor allem Schwarze davon betroffen. »Die Polizei fegte die Straßen leer, verhaftete Leute wegen lächerliche Anlässe und warf jede Nacht Hunderte von Menschen ins Gefängnis, Tausende in einem Monat«, beschreibt David Simon, ehemaliger Polizeireporter in Baltimore und Autor der Serie »The Wire«, wie »Zero Tolerance« funktionierte. Auf dem Höhepunkt 2005 wurden in Baltimore rund 100 000 Personen, oft kurzzeitig, verhaftet – in einer Stadt mit 650 000 Einwohnern. 2011 waren es immer noch 58 000.

Dieses Vorgehen provozierte schon früher gewalttätige Reaktionen, so wie 2001 in Cincinnati. Nachdem im Viertel Over the Rhine zum wiederholten Male ein unbewaffneter Schwarzer von der Polizei erschossen worden war, kam es zu tagelangen Straßenschlachten, weshalb der Ausnahmezustand verhängt wurde. Die Parallelen zu den Ereignissen in Ferguson und Baltimore sind frappierend. Vermutlich hätte sich schon damals eine gesellschaftliche Debatte über Polizeigewalt, Rassismus und Armut ergeben können. Doch kurz darauf ereignete sich der 11. September und in den folgenden Jahren spielten soziale Konflikte in der öffentlichen Wahrnehmung kaum mehr eine Rolle. Der »War on Terror« verdrängte den »War on Crime«.
Mit dem Amtsantritt von Präsident Barack Obama wurden Rassismus und Polizeigewalt wieder zu einem Debattenthema. Die Hoffnung, dass sich durch den Aufstieg einer schwarzen Mittel- und Oberschicht die Verhältnisse von alleine ändern würden, erwies sich jedoch bald als trügerisch. In Ferguson konnte man zwar noch zu Recht auf extreme Ungleichheit in den staatlichen Institutionen verweisen – die Opfer von staatlicher Gewalt sind dort zumeist schwarz, Polizei, Verwaltung und Justiz hingegen sind überwiegend mit Weißen besetzt. Die Baltimore haben Schwarze hingegen fast alle wichtigen Ämter inne, von der Bürgermeisterin bis zum Polizeipräsidenten. »Die brutalsten Cops waren Schwarze. Sie traten dir ohne nachzudenken in den Arsch«, beschreibt David Simon seine Erfahrungen in Baltimore.
Immerhin initiierte Obama nach den Unruhen in Ferguson eine »Task Force zur Polizeiarbeit im 21. Jahrhundert«, die Empfehlungen liefern soll, wie einerseits Kriminalität effektiver bekämpft, aber zugleich das Vertrauen der Bevölkerung wiederhergestellt werde soll. Das ist auch bitter ­nötig, denn zumindest Teile des Polizeiapparats scheinen völlig unkontrolliert zu agieren. So publizierte die Baltimore Sun bereits im vergangenen Herbst einen erschütternden Bericht über Entschädigungszahlungen, die über 100 Opfer von Polizeigewalt von der Stadtverwaltung zwischen 2011 und 2014 erhalten haben – darunter befand sich ein 14jähriger Junge, eine 27jährige schwangere Frau und eine 87 Jahre alte Großmutter. In den Fällen ging es um gebrochene Knochen, Schädeltraumata, Organausfälle und Todesfälle in Polizeigewahrsam. Insgesamt musste die Stadtverwaltung 5,7 Millionen Doller an Entschädigungen leisten. Einen ähnlich hohen Betrag gaben die Behörden zudem für die Verteidigung der Beamten aus.

Eine der Ursachen für das brutale Auftreten liegt in der mangelhaften Ausbildung der Polizeibeamten begründet. Erst vor wenigen Wochen erregte ein Todesfall in South Charleston, North Carolina, landesweit Empörung. Auf einem Video war zu sehen, wie ein Streifenpolizist nach einer Verkehrskontrolle einem unbewaffneten Schwarzen acht Mal in den Rücken schoss. Der Polizist war bereits zuvor wegen Gewalttätigkeiten aufgefallen. Drei Jahre zuvor hatte er nach einer nur zehnwöchigen Ausbildung seinen Dienst aufgenommen. In Tulsa, Oklahoma, verwechselte Anfang April ein Hilfssheriff seinen Teaser mit einem Revolver und erschoss versehentlich einen Verdächtigen. Der 73 Jahre alte Reservepolizist arbeitet hauptberuflich als Versicherungsvertreter, eine Polizeischulung hatte er Anfang der sechziger Jahre absolviert.
Die zahlreichen Todesfälle ruinieren mittlerweile aber auch das Image der einflussreichen Polizeigewerkschaft. Jahrzehntelang sorgte sie dafür, dass ihre Mitglieder kaum belangt wurden und politische Reformen unterblieben. Während der Unruhen in Baltimore sprach ein lokaler Gewerkschaftspräsident von einem »Lynchmob« und wies später die Forderung nach einer Untersuchung zurück. Bei den Einwohnern Baltimores kommt so etwas nicht mehr gut an. Ebenso wie bei Justizministerin Loretta Lynch in Washington, die Ende vergangener Woche erklärte, dem Anliegen der Bürgermeisterin nachzukommen. Lynch wurde kürzlich als erste schwarze Justizministerin in der US-Geschichte vereidigt – an dem Tag, als in Baltimore die Straßen brannten.