Im NSU-Prozess könnte es eine Wende geben

Nur nichts aufbauschen

Beate Zschäpe erweckt den Eindruck, als wolle sie ihr Wissen vor Gericht preisgeben. Anders verhält es sich mit ehemaligen Verfassungsschützern und V-Leuten im NSU-Prozess.

Weit mehr als 200 Prozesstage hat Beate Zschäpe bisher im Münchner NSU-Prozess zu den Tatvorwürfen geschwiegen, nun bietet sie in einem Schrei­ben an die Richter des Münchner Oberlandesgerichts an, zu bestimmten Sachverhalten auszusagen. In dem handgeschriebenen vierseitigen Brief, dessen Inhalt am Montag öffentlich bekannt wurde, schreibt die Angeklagte, dass sie sich »durchaus mit dem Gedanken beschäftige, etwas auszusagen«. Voraussetzung dafür sei aber der Ausschluss ihrer Pflichtverteidiger. Die weitere Zusammenarbeit mit ihnen sei unmöglich, weil sie angekündigt hätten, ihr Mandat niederzulegen, sollte Zschäpe eine Aussage zu einzelnen Vorwürfen machen. Sie fühle sich »geradezu erpresst«.

Nachdem Zschäpe vor zwei Wochen bereits den Antrag gestellt hatte, Anja Sturm als Pflichtverteidigerin zu entlassen, richtet sie sich nun auch gegen die Mitverteidiger Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl. Sie stört sich ihrem Schreiben zufolge daran, dass Heer im Prozess ständig twittere und sich nur mit »der Organisation seines Urlaubs beschäftige«. Auch Stahl ist ihrer Meinung nach vom Prozessgeschehen abgelenkt, er surfe »ständig im Internet«. Anja Sturm gehe es nicht darum, »mich zu verteidigen, sondern darum, Pflichtverteidigergebühren zu kassieren«, klagt Zschäpe in dem Brief. Es herrsche »Funkstille« zu ihren Anwälten und jeder Gesprächsversuch laufe »eher auf eine Konfrontation anstatt Kommunikation hinaus«. Falls die Angeklagte glaubwürdig darstellen kann, dass ihr Vertrauensverhältnis zu den Verteidigern endgültig zerrüttet ist, wäre damit die Voraussetzung für einen Ausschluss der Pflichtverteidiger erfüllt. In diesem Fall stünde die komplette Beweisaufnahme vor einem Neubeginn. Doch bisher halten Prozessbeobachter dies für unwahrscheinlich. In ­einem Schreiben an das Münchener Oberlandesgericht weisen die Verteidiger alle Vorwürfe zurück. Man sei sehr wohl gesprächsbereit, stattdessen verweigere die Mandantin den Dialog. Auch die Behauptung, die Anwälte hätten für den Fall einer Aussage Zschäpes mit einer Mandatsniederlegung gedroht, entspreche nicht der Wahrheit. Weitere Angaben zum Sachverhalt seien aber »aufgrund der anwaltlichen Verschwiegenheitsverpflichtung« nicht möglich.
In einem gemeinsam verfassten fünfseitigen Schreiben wenden die Verteidiger sich auch an ihre Mandantin. Darin wird ihr ein »anmaßendes und selbstüberschätzendes Verhalten« vorgeworfen, das man »nicht weiter akzeptieren« werde. Die Verteidiger bemängeln zudem, Zschäpe habe »aufgrund der nur fragmentarischen Weitergabe ihr­es exklusiven Wissens« die Entwicklung einer optimalen Verteidigungsstrategie verhindert. Seit längerem gilt das Verhältnis zwischen Zschäpe und ihren Verteidigern als belastet. Schon 2014 hatte die Angeklagte allen drei Anwälten das Vertrauen entzogen. Doch das Gericht war ihrem Wunsch nach neuen Prozessvertretern nicht nachgekommen.
Das scheint auch dieses Mal nicht anders zu sein. Am Fortlauf des Prozesses wurde trotz Zschä­pes Antrag nichts geändert. In der vergangenen Woche ging es um die Rolle von Andreas Temme, jenem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, der am Tag des Mordes an Halit Yozgat am Tatort, Yozgats Internetcafé in Kassel, zugegen war. Sein Abteilungsleiter, Hans-Joachim M., beteuerte in seiner Zeugenaussage, »dass wir die Maßnahmen der Polizei weder behindert noch gesteuert haben«. Es habe sich um »ein ganz normales Telefonat« gehandelt, das er im Mai 2006 nach der Tat mit seinem damaligen Mitarbeiter geführt habe. In der Aufzeichnung des Telefonats ist zu hören, wie M. seinem Mitarbeiter den Rat gibt, einfach zu sagen, was gewesen sei. »Nichts aufbauschen, nichts weglassen«, legt er ihm nahe. Sein abschließender Rat an Temme lautet: »Ich würde da einfach offen aus der Hüfte schießen.«
Danach geriet die Aussage von Hans-Joachim M. etwas irritierend. Selbstverständlich hätten sich die Verfassungsschutzämter »mit dieser Serie beschäftigt«, so M., »alle Möglichkeiten« habe man damals in Erwägung gezogen. Der Verfassungsschutz in Hessen sei angewiesen worden, Erkenntnisse seiner V-Männer zu den Morden an Männern türkischer und griechischer Herkunft zu sichern. »Rechtsextremismus stand immer im Vordergrund«, behauptete der ehemalige Abteilungsleiter vor Gericht.

Doch damals, vor neun Jahren, bezeichneten Medien und Behörden die Terrorserie unisono als »Döner-« und »Česká-Morde«. Von rechtsextremen Tätern ging kaum jemand aus. »An Rechts­radi­kalismus haben wir nie gedacht. Der Name NSU ist nie gefallen«, sagte ebenfalls in der vergangenen Woche Frank Ulrich F., ein weiterer ehemaliger Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, vor Gericht. Es sei nicht um die Vertuschung einer möglichen Beteiligung Temmes gegangen, als er ihm in einem Telefonat versichert habe, dass er sich »dienstlich« wegen des Mordes keine Sorgen machen solle, so der ehemalige Verfassungsschützer. Er habe sich auf Temmes Aufgabe als Führer von Vertrauensleuten bezogen. Allein dies habe er in dem Telefonat gemeint, beteuerte der Zeuge. »Wir haben alle angenommen, dass Temme zum falschen Zeitpunkt am falschen Platz war«, gab F. vor Gericht an.
Zum Ziel der Ermittlungen wurde in den vergangenen Wochen auch ein ehemaliger Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen. Nach dem Anschlag am 19. Januar 2001 auf ein kleines Kölner Lebensmittelgeschäft, bei dem die Tochter des Besitzers schwer verletzt worden war, erstellten die Behörden ein Phantombild anhand der Aussage des Vaters. Vor dem Oberlandesgericht in München sagte der Mann ebenfalls aus: Seiner Meinung nach sieht keiner der toten oder angeklagten NSU-Verdächtigen dem damaligen Täter ähnlich. Dagegen bestehe eine große Ähnlichkeit mit dem wegen Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz im Jahr 1986 vorbestraften Kölner Neonazi Johann »Helle« H., der, wie sich nun herausstellte, jahrzehntelang für den Verfassungsschutz gearbeitet hat.

»Geheimdienstinformant soll in Mordserie ver­wickelt sein«, titelte deshalb die Welt am Sonntag. »Zündete Geheimdienstspitzel Bombe für den NSU?« legte Bild nach. Spiegel Online gegenüber behauptete der ehemalige Informant des Verfassungsschutzes dagegen, dass er »mit dem Anschlag in der Probsteigasse nichts zu tun« habe und »niemals Neonazi« gewesen sei. Als Jugend­licher sei er Anarchist gewesen, habe sich »die Birne zugekifft« und gegen das »Schweinesystem« agitiert. Nachdem er in einer leerstehenden Fabrik Gasflaschen zur Detonation gebracht und dabei eine Passantin verletzt habe, sei er seinen Ausbildungsplatz losgewesen und habe eine Jugendstrafe erhalten. Als Waffennarr habe er sich zur Bundeswehr gemeldet. Nach dem Wehrdienst schloss sich H. nach eigenen Angaben dem »Heimatschutzbund« an, einer obskuren Vereinigung, der neben Waffennarren und Lagerfeuerromantikern auch Nazis angehörten. Deshalb habe ihn der Kölner Staatsschutz angesprochen und damals, Ende der achtziger Jahre, als Informanten angeworben. Die Zusammenarbeit währte lange: Erst Anfang 2015 wurde der V-Mann H. abgeschaltet.