Verflixtes siebtes Jahr

Esma ist ein nettes Mädchen. Und überhaupt nicht doof. In deutscher Grammatik ist sie geradezu ein Crack, für eine Siebtklässlerin unserer Schule jedenfalls. Zumindest ist sie die einzige in der Klasse, die sicher ein Subjekt von einem Objekt unterscheiden kann, und eine der wenigen, die auf die Frage nach der Zeitform, in der ein Satz geschrieben ist, niemals freudig »Präposition!« antworten würde.
»Wenn Esma sich beherrscht und konzentriert arbeitet, kann sie in den meisten Fächern befriedigende Leistungen erbringen«, lautet der Satz, mit dem Esmas Arbeitsverhalten in ihrem Zeugnis beschrieben wird. Verstehen Sie, was ein Subtext ist? Dann wissen Sie jetzt ja Bescheid über Esma. Sie findet es schwer, sich über 90 Minuten hinweg auf den Unterricht zu konzentrieren. Genau genommen fällt es ihr schon schwer, sich 15 Minuten auf den Unterricht zu konzentrieren. Sie liest nicht gerne, schreibt nicht gerne und hört nicht gerne zu und löst das Problem, dass große Teile des Schulunterrichtes nach wie vor aus diesen drei Tätigkeiten bestehen, oft dadurch, dass sie sich mit etwas Interessanterem beschäftigt. Sie redet dann viel, gerne auch mit Mitschülern, die fünf Bankreihen vor ihr sitzen. Wird sie deswegen ermahnt, bekommt sie schlechte Laune und schreit irgendwen an, vorzugsweise die Lehrerin, die sie ermahnt hat. Auf Esmas Zeugnis, das ihr in diesen Tagen ausgehändigt wird, stehen viele Vieren und zwei Fünfen. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer lassen sich nämlich nicht so gerne anschreien und Esma bekommt natürlich auch nicht immer alles mit, wegen des ganzen Redens und Schreiens und Nicht-Zuhörens, und dann schreibt sie schlechte Noten.
Zwei Fünfen und sonst nur Vieren bedeuten, dass man nicht versetzt wird. Und wenn man in der siebten Klasse des Gymnasiums nicht versetzt wird, muss man auf eine andere Schulform wechseln. Die siebte Klasse ist das sogenannte Probejahr, die Reise nach Jerusalem unter den Schuljahren. Esma hat keinen Stuhl erwischt, die Musik ist aus und das Mädchen steht auf dem Schulhof und weint.
Dabei hat sie sich Mühe gegeben, das weiß ich, weil ich oft mit ihr und ihrem Vater geredet habe. Die Mutter ist tot und er mit den vier Kindern alleine und immer müde von den Schichten bei der Müllabfuhr, die Kleinen sind dauernd krank und nie bleibt genug Zeit für Esma, die Große. Der ganze Ken Loach halt. Und ich weiß das alles und werde Esma trotzdem nicht helfen, ihr die Drei nicht geben, die sie braucht, weil auch ich keine Zeit habe für eine von 32, die nicht zuhört, nicht stillsitzen kann und den Unterricht stört. Wer das jetzt alles falsch findet, hat vollkommen recht und soll bitte hingehen und sich beschweren, ich komme mit.