Flüchtlinge in Bayern organisieren sich politisch

Sachsen beginnt in Bayern

Worüber sich in Freital, Trögliz und Meißen die Wutbürger erregen, beginnt oft in Bayern. Passau ist für viele Geflüchtete der Ankunftsort in Deutschland. In der niederbayerischen Stadt an der Grenze zu ­Österreich haben sich einige Geflüchtete mittlerweile politisch organisiert.

Manche Textstellen lassen sich noch entziffern: »Sie haben kein Anrecht auf … « oder »Generelle Informationen zur Bestimmung des Flüchtlingsstatus in Ungarn« steht auf den vom Regen durchweichten Papierfetzen, die verstreut in dem lichten Waldstück liegen. Im Unterholz verteilen sich Rucksäcke, eine Unterhose, Konserven, Zahnpastatuben. Ein matschiger Trampelpfad führt in die Stadt. Im Hintergrund rauscht die wenige Meter entfernte Autobahn. Ausgesetzt an Orten wie diesem Parkplatz kurz vor der Abfahrt Passau-Mitte, laufen Geflüchtete zu Fuß in die Stadt. In der Hoffnung, eine Abschiebung zu erschweren, zerreißen einige ihre Unterlagen, die auf einen Aufenthalt in anderen EU-Ländern hinweisen. Täglich bringen Schleuser hunderte Menschen auf der A3 über die österreichisch-deutsche Grenze. Für viele Menschen, vor allem aus dem Nahen und Mittleren Osten, ist die 50 000 Einwohner zählende Stadt das Erste, was sie nach ihrer Flucht über die »Balkanroute« von Deutschland zu sehen bekommen. Regelmäßig werden aus Passau neue Rekorde gemeldet: Über 200 Geflüchtete haben die Bundes- und Landespolizei Ende Mai an einem Tag aufgegriffen. Manchmal drängen sich mehr als 30 Personen in den Laderaum eines Kleintransporters. Unter ihnen befinden sich auch immer mehr unbegleitete Minderjährige. Gemäß dem deutschen Asylverfahren werden diese vom örtlich zuständigen Jugendamt in Obhut genommen, das Gericht bestellt einen Vormund. Im »Clearingverfahren« bespricht dieser mit den beteiligten Behörden das weitere Vorgehen, was meh­rere Wochen dauern kann. 2014 wurden etwa 300 unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Passau aufgegriffen, fast 30-mal mehr als noch zwei Jahre zuvor. Dieses Jahr rechnet die Stadt mit bis zu 1 000 Inobhutnahmen. Das ist eine Belastung für die städtische Jugendarbeit, die den Oberbürgermeister Jürgen Dupper (SPD) zu einem Brandbrief an die bayerische Integrationsministerin Emilia Müller (CSU) veranlasst hat. »Der ungebremst wachsende Zustrom von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen stellt die Stadt Passau vor Probleme, die sie ohne nachhaltige Unterstützung durch den Freistaat Bayern nicht mehr bewältigen kann«, zitiert die Passauer Neue Presse den Oberbürgermeister. In­tegrationsministerin Müller reagierte nun mit der Ankündigung, der bayerische Staat werde in besonders belasteten Kommunen wie Passau, Rosenheim und München Erstversorgungszentren schaffen, von wo aus die unbegleiteten Minderjährigen auf den gesamten Freistaat verteilt werden. Eine angemessene Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen ist jedoch nicht das einzige Problem Passaus in der »Asylfrage«. Eba*, ein kleiner, rundlicher Mann mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, steht im Türrahmen seines Schlafzimmers. Vier Personen nächtigen in dem dunklen Raum, der mit Betten und Spinden vollgestellt ist. Ein Fenster, keine Heizung, die Wände sind verschimmelt. »Es ist eine Gefahr für deine Gesundheit«, sagt Ben, der an einem kleinen Tisch sitzt, konzentriert eine Zigarette dreht und kurz zu seinem Mitbewohner Eba aufschaut. Im Badezimmer sieht es ähnlich aus, nur das Wohnzimmer mit integrierter Küche, schmutziger Couch und alter Ölheizung scheint noch einigermaßen bewohnbar zu sein. Das sei jedoch allemal besser als seine letzte Behausung, meint Eba. Seit mehr als zweieinhalb Jahren lebt der Äthiopier im Passauer Umland. Nachdem er einen Asylantrag gestellt hatte, musste er ein ganzes Jahr bis zu seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge warten. Seit über einem Jahr steht nun die Entscheidung über seinen Antrag aus. Zurzeit wohnt der 32jährige mit zwei Nigerianern und einem Kosovaren in einer Unterkunft für Asylbewerber in Fürstenzell, einer zwölf Kilometer von Passau entfernten Marktgemeinde. Davor war Eba in einer alten Pension in der an Passau angrenzenden Gemeinde Salzweg untergebracht. »Es war schrecklich dort«, erzählt er, »nachts ist der Strom abgestellt worden, zeitweise hat man sich zu zweit ein Bett teilen müssen.« Auf dem gepflegten Rasen zwischen den beiden alten Arbeiterhäusern in Fürstenzell sitzen mehrere Männer bei Bier an einem Plastiktisch. Der Grill raucht, ein kleines Mädchen rennt über die Wiese. Die Bewohner der Unterkunft feiern den Geburtstag eines Freundes, aus dem Gebäude schallt Popmusik. Die Zimmergenossen Ben und Eba stehen auf dem Gehweg vor dem herunter­gekommen Haus, das sie bewohnen. »Die Menschen hier aus dem Ort helfen mir bei Problemen, fragen, ob ich genügend Kleidung oder so habe. Aber bei vielen Sachen wissen sie auch nicht, was man machen kann. Wenn es um Bürokratie geht, meine ich«, sagt Ben, der aus Nigeria stammt. »No Border Passau, das ist die Gruppe bei der ich schon lange aktiv bin. Die helfen dir bei solchen Problemen«, merkt Eba an. Als er noch in der alten Pension in Salzweg wohnte, hat Eba gemeinsam mit der Gruppe »No Border« einen Text über die Zustände in der Einrichtung geschrieben und veröffentlicht. Kurz darauf wurde er nach Fürstenzell verlegt. »No Border« ist ein »politischer Zusammenschluss von Geflüchteten/Non-Citizens und Nicht-Geflüchteten/Citizens«, wie es in der Selbstdarstellung der Organisation heißt. »Die zahlreichen Diskriminierungen gegenüber Geflüchteten, ob durch Gesetze, Behörden oder Alltagsrassismen, möchten wir sichtbar machen und so eine Gesellschaft mitgestalten, in der solche Ausgrenzungsmechanismen Vergangenheit geworden sind«, so das Selbstverständnis. »Wir haben es geschafft, dass die Essenspakete abgeschafft wurden«, sagt Eba stolz. Anfang 2010 kam es in Unterkünften im Passauer Land zu Hungerstreiks, die auf die dortigen Bedingungen aufmerksam machen sollten. Der Protest weitete sich zu einem bayernweiten Boykott der Essenspakete aus. Bayern war eines der letzten Länder, die wider alle ökonomische Rationalität zweimal die Woche Essenspakete statt Bargeld oder Gutscheine an Geflüchtete ausgaben. Im Zuge dieser Aktionen bildete sich die Gruppe »No Border Passau«, die früher als »Bündnis für die Rechte der Flüchtlinge« bekannt war. Auf einer Landzunge zwischen Donau und Inn liegt die von steilen Felsen umgebene Altstadt von Passau. Mit seinem frisch renovierten Dom und den zahlreichen barocken Gebäuden ist der Ort ein beliebtes Touristenziel. Neben Gästen aus den USA oder Kanada sieht man auf den Straßen auch immer wieder Gruppen von Menschen, die Urdu, Paschtu oder Arabisch sprechen. »Die Geflüchteten haben nichts zu tun, sie essen, schlafen und sitzen den ganzen Tag in der Stadt herum«, sagt Eba. Er sitzt auf einer Bank an der Passauer Innpromenade und blickt auf den türkisfarbenen Fluss zu seinen Füßen. Sein Handy klingelt, er spricht kurz in seiner Muttersprache Oromo mit einem Bekannten. »Die Leute kennen mich, sie rufen mich an, wenn sie Hilfe brauchen«, erklärt er. »Ich bin aus Äthiopien geflohen, weil ich Probleme mit der Regierung hatte. Ich gehöre zu der Volksgruppe der Oromo, zur größten in Äthiopien. Die Regierung nimmt uns unser Land weg«, berichtet Eba. In seiner Heimat arbeitete er als Bauer und Viehhändler, wegen seines Engagements für die Rechte der Oromo hat ihn die Regierung verfolgt. Amnesty International zufolge werden Oromos von staatlichen Behörden gefoltert, vergewaltigt und umgebracht. Die Oromo Liberation Front (OLF) kämpft nach eigenen Angaben für die Rechte der Bevölkerungsgruppe, die äthiopische Regierung stuft sie als Terrororganisation ein und weist die Vorwürfe, die Amnesty erhebt, von sich. Die wichtigsten Regierungsposten werden von Angehörigen der Bevölkerungsgruppe der Tigray bekleidet. Eba hat Angst vor Repression, auch in Deutschland. Als ein Artikel über ihn und sein Engagement für die Oromo mit seinem Foto abgedruckt wurde, erhielt er Drohanrufe. »8 000 Euro habe ich für die Flucht nach Deutschland bezahlt. Meine Frau und meine zwei Kinder sind noch in Äthiopien. Ich möchte, dass sie nachkommen«, sagt er. Es ist schwierig für ihn, das hierfür nötige Geld zu verdienen. »Die Arbeitserlaubnis für Geflüchtete ist ein Schwindel«, meint er. Wenn Eba eine Stelle annehmen möchte, muss er erst eine Arbeitserlaubnis beantragen. Die Bundesagentur für Arbeit prüft die Arbeitsbedingungen, erst dann kann Eba den Vertrag unterschreiben. »Kein Arbeitgeber wartet zwei Wochen auf eine Antwort aus München«, sagt er. Wenn Geflüchtete mit der deutschen Bürokratie zu kämpfen und rechtliche Fragen haben, wenden sie sich meistens an Petra Haubner. Ihre Kanzlei in der Passauer Altstadt ist eine der wenigen im Regierungsbezirk Niederbayern, die sich auf Asylrecht spezialisiert hat. Von der Einreise bis zur Einbürgerung berät Haubner Geflüchtete. Einmal im Monat können Mandanten zur kostenlosen Sprechstunde vorbeikommen, meist werden die regulären Anwaltskosten in 50 Euro-Monats­raten beglichen. Das Bild des mittellosen Geflüchteten stimme nur bedingt, sagt sie: »Für eine Familie aus Afghanistan kann eine Flucht nach Deutschland schonmal 20 000 Euro kosten. Da sind meistens noch die paar hundert Euro Anwaltskosten mit drin.« Seit zwei Jahren tingelt die Anwältin neben ihrer Arbeit durch das Passauer Land und berät lokale Unterstützergruppen. »Zum Glück gibt es viele Helferkreise. Was rechtliche Fragen angeht, werden sie allerdings meist relativ alleingelassen«, sagt Haubner. Mit Vorträgen versucht sie, das Asylrecht und den Ablauf des Asylverfahrens verständlich zu machen. Bei der Stadtratssitzung zum Nachtragshaushalt Anfang Mai waren auch einige Geflüchtete und Mitglieder von Hilfsorganisationen anwesend. »Ich sehe meine Freiheit der Meinungsäußerung in Gefahr und überlege, ob ich nicht bei der Verwaltung Polizeischutz beantragen soll«, wird Stadtrat Oskar Atzinger im Passauer Bürgerblick zitiert. Er habe den »örtlichen Kommunistenführer« identifiziert und fühle sich bedroht, zitiert ihn ein antifaschistischer Infoticker. Der millionenschwere Nachtragshaushalt wurde unter anderem beschlossen, um eine angemessene Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten aufrechterhalten zu können. Oskar Atzinger stimmte als einziger dagegen. 15 Jahre war der Zahnarzt Mitglied der Republikaner, bis er aus der Partei ausgeschlossen wurde, weil er sich nicht an die Abgrenzungsbeschlüsse gegen die NPD gehalten haben soll. 2013 beteiligte er sich an der Gründung der Wählervereinigung »Alternative für Passau«, die sich nach Streitigkeiten mit dem lokalen AfD-Kreisverband in »Pro Passau« umbenannte. Radikaler auftretende Organisationen wie der neonazistische »Dritte Weg« hoffen im Raum Passau bei »besorgten Bürgern« punkten zu können. So verteilte die Gruppe in der 6 000 Einwohner zählenden Gemeinde Salzweg bei Passau Flugblätter gegen »ausländische Sozialtouristen« und »Asylantengewalt«. Der Plan eines Immo­bilienbesitzers, in einem Gasthaus in Salzweg 100 syrische Geflüchtete unterzubringen, stieß auf teils heftigen Widerstand in der Bevölkerung. Mehr als 500 Unterschriften gegen das Vorhaben wurden gesammelt. Die Gemeinde erwog sogar, den Gasthof zu kaufen, um eine Umwandlung in eine Unterkunft zu verhindern und die Ortskernsanierung wie geplant durchführen zu können. »Wir haben hier zum Glück keine sächsischen Verhältnisse«, sagt Rechtsanwältin Petra Haubner. Zwar müssten sich Helferkreise des Öfteren fragwürdige Kommentare anhören, Fälle wie Salzweg seien jedoch die Ausnahme. »Der Stadt Passau kann man zumindest im Fall der minderjährigen Geflüchteten keinen Vorwurf machen. Sie hat sich viel Mühe gegeben und gut gerödelt«, sagt Haubner. Probleme gebe es jedoch immer wieder mit bestimmten Mitarbeitern der Ausländerbehörde. »Sie entscheiden nicht unbedingt immer härter als anderswo, aber der Ton lässt oft zu wünschen übrig. Viele Geflüchtete haben Angst dort hinzugehen, sei es auch nur wegen kleinerer Angelegenheiten, etwa um Gutscheine abzuholen«, sagt die Juristin. Mit der steigenden Zahl an Geflüchteten werden nicht nur in Passau, sondern im ganzen Regierungsbezirk Niederbayern neue Unterkünfte eingerichtet. Im 50 Kilometer von Passau entfernten Deggendorf entstand im Januar eine Erstaufnahmeeinrichtung für »Balkan-Flüchtlinge«. Pünktlich vor der jüngsten Verschärfung des Asylrechts, welche die Abschiebung von abgelehnten Aslybewerbern aus sogenannten sicheren Herkunftsländern erleichtern soll, meldete die Regierung von Niederbayern, dass in der Deggendorfer Erstaufnahmeeinrichtung aufgrund mangelnder Kapazitäten Zelte errichtet werden mussten. »Bisher kam die Erstaufnahmeeinrichtung Deggendorf bei deutlich höheren Zugangszahlen ohne Zelte aus. Die Regierung von Niederbayern inszeniert nun passgenau den Notstand in der Deggendorfer Erstaufnahmeeinrichtung, um bebildern zu können, wie sehr Bayern angeblich von den Balkan-Flüchtlingen überfordert wird«, kritisiert Alexander Thal vom bayerischen Flüchtlingsrat. Scharfmacher wie Sozialministerin Emilia Mülller möchten Sozialleistungen für Menschen aus den Balkanstaaten kürzen, nur so könne man die »Zuzugsanreize in den Ländern, in denen niemand verfolgt wird, reduzieren«, sagt die CSU-Politikerin. Auch Eba ist auf den Staat angewiesen. Weniger als 350 Euro stehen ihm im Monat zur Verfügung. Auf der Bank am Passauer Innufer verfinstert sich seine Miene, er spricht lauter. »In Äthiopien habe ich Arme unterstützt, die das Schulgeld ihrer Kinder nicht zahlen konnten. Ich möchte hier nicht rumsitzen müssen. Ich will ein Bürger sein. Alles was ich will, sind meine Rechte als Mensch«, sagt er. Für seinen Aktivismus ist er in Äthiopien mehrmals in den Knast gewandert, beim ersten Mal war er 17 Jahre alt. Aus Angst vor der Regierung hat Eba nur sporadisch Kontakt zu seiner Frau und den Kindern. »Es geht mir seelisch nicht gut«, sagt er. Bevor er sich aufmacht, um einen Bekannten zu treffen, sagt er noch: »Mir tut diese Gesellschaft leid.« * Name von der Redaktion geändert