Sommergeschichten

Und es ist Sommer!

Man geht nach draußen und ins Freibad. Wirft bei 30 Grad im Schatten den Grill an und holt sich in Brandenburg den Sonnenbrand seines Lebens. Paare in Badeshorts streiten sich, Aggro-Kühe greifen friedliche Radfahrer an und am Ostseestrand wird man zum panierten Schnitzel. Die heißesten Anekdoten und selbsterlebten Geschichten aus dem heißen August von unseren Autorinnen und Autoren.

Der beste Sommer meines ­Lebens
Wie schön braun jetzt alle sind. Beobachtungen im Freibad, am See und zu Hause vor dem Spiegel. Von Jacinta ­Nandi
Teil 1
Ich genieße gerade den besten Sommer meines Lebens. Guckt mal, wie braun ich geworden bin, braun und schön, wie keine Frau es jemals war. Vergesst das ganze Gelaber über white privilege, ich habe jetzt brown privilege, ich sehe einfach wunderschön aus. Ich mache Selfies wie eine Teenagerin und jedes Mal, wenn ich mich für einen Augenblick in dem Spiegel anschaue, lächele ich mit Freude und denke: kein Wunder, dass die Weißen uns unterdrücken müssen, wenn unsere Haut so wunderschön aussieht im Sommer, die armen Weißen, die tun mir leid ey.
Ich gehe jeden Tag ins Prinzenbad. Mein weißer deutscher Kumpel Fabian wirft mir vor, dass ich mangelndes Selbstbewusstsein habe, sonst würde ich zum See fahren.
»Aber ich mag es im Prinzenbad!« protestiere ich.
»Wie kannst du es dort mögen?« sagt er. »Es ist so laut da, so laut und überfüllt und schmutzig und schrecklich. Man kann da gar nicht schwimmen und sich überhaupt nicht entspannen.«
»Ich mag es dort«, widerspreche ich. Und dann sage ich, um ihn zu nerven: »Das letzte Mal, als ich am See war, gab es Brennnesseln.«
Ich mag es tatsächlich dort im Prinzenbad. Ich liebe es dort sogar. Ich trinke heimlich Ostmost Outcider und hoffe, dass die anderen Eltern denken, dass es Apfelschorle ist. Ich gucke zu, wie türkische und arabische Jungs – all braun, verschiedene Altersgruppe, ich denke, dass die Brüder sind – wie sie alle Hände halten und von der verbotenen Längenseite des Schwimmbeckens reinspringen. Wie schön und braun diese Jungs sind und wie liebevoll die erwachsenen Brüder mit den Kleinkinderbrüdern umgehen. Sie sind so süß, streng, aber liebevoll; ich denke, dass sich nach einem Nachmittag im Prinzenbad sogar Thilo Sarrazin in die Türken und Araber Berlins verlieben müsste. Manchmal ist der Bademeister sauer, manchmal wird geklaut, aber eigentlich ist das hier das Paradies, hier im Prinzenbad.

Teil 2
Nur einmal erlaube ich Fabian, mich zu überzeugen, zum See zu fahren. Mein Sohn ist beim Vater und wir fahren zusammen zum Schlachtensee und es ist still und das Wasser ist dunkelblau und die Bäume sind dunkelgrün und Fabian gibt mir MDMA und ich erzähle ihm über den Neuseeländer, der mir das Herz gebrochen hat.
Zuerst war ich so traurig, so traurig, weil ich so glücklich war, als ich ihn kennen lernte, weil er mir gezeigt hat, wie schön das Leben sein kann, aber dann, als er so schnell weg war, so schnell, so plötzlich, da merkte ich, dass es mein Leben war, was so schön gewesen ist.
»Er hat dir dein Leben geschenkt«, sagt Fabian. »Komm, lass uns schwimmen gehen?«
Ich gucke auf das Wasser. »Ist es nicht ein bisschen gefährlich«, frage ich, »auf MDMA schwimmen zu gehen?«
»Quatsch!« sagt Fabian, und wir schwimmen raus.
»Es gibt einen Fisch hier, der so groß ist. Er hat einen Hund gefressen«, sage ich Fabian. »Einen kleinen Hund!«
Jetzt fängt die MDMA an zu wirken und wir sind in der Mitte des Sees und das hier ist der schönste Sommer meines Lebens und mein Leben ist superschön. Ich habe es endlich mal bemerkt.

Wenn der Grill erstmal glüht
Schweizer Sommernächte sind lang und leicht entflammbar. Von Thomas Ewald
Plötzlich steht Flying Hirsch vor einem. Die ekelsüße Jägermeister-Red-Bull-Mische holt mich wieder zurück aus dem Reich der Gehirnschmelze. Leider. Denn ich stehe in irgendeinem Kaff in der nördlichen Schweiz, Alpenvorland, in einem Festzelt. Der Boden klebt, die Menschen schwitzen und starren uns an wie 15jährige die Touchscreens ihrer Mobiltelefone. Irgendwann muss in diesem Zelt ein Schlagerfestival stattgefunden haben – zumindest sprechen die Indizien dafür: goldgelbe Plakate mit Schnörkelschrift, Camp-David-betuchte Schweizer und ihre Frauen mit Schlagerfan-Shirts. Zum Glück ist von der »Party« nicht mehr viel übrig außer den leeren Stehtischen. Schnell noch den halbvollen Bierplastikbecher exen und dann raus hier. Eigentlich hätte es ein ­ruhiges Wochenende mit Wandern, Schwimmen und netten Gesprächen unter Jugendfreunden werden sollen. Doch Sommernächte können schnell eskalieren. Als Stunden vorher der Grill glühte, war auch schon der erste Kasten Bier leer, dann kam der Gin und so weiter. Erwachsene, einigermaßen Berufstätige wurden an diesem Abend wieder 16jährige. Die Nacht endete dann auf dem Dach einer alten leerstehenden Hotelruine am Hang, in der natürlich vorher Szenen aus »Shining« nachgespielt worden waren. Das ist wahrscheinlich etwas, was der Sommer am besten kann: die Illusion von Freiheit.

Der Klassiker: Würden Sie ganz kurz auf meine Sachen aufpassen?

Wie man sich und anderen den Bade­spaß verdirbt. Von Anne Kreby
Wir haben am Badesee eine schöne Stelle unter Bäumen gefunden. Mein Freund geht gleich ins Wasser, ich ruhe mich erstmal aus. Rechts neben mir legt sich ein Pärchen hin. Breitet seine Decke aus, zieht die Badesachen an und beginnt sofort eine Beziehungsdiskussion. Die beiden sehen aus wie das Paar aus »Gefühlt Mitte zwanzig«, also wie das unglückliche, ältere der beiden Paare aus dem Film. Es geht um das Verhalten des Mannes, der sich in bestimmten Situationen nicht so verhält, wie die Frau es sich wünscht. Sie spricht mit gedämpfter Stimme, der Mann guckt betreten und sagt gar nichts.
Mein Freund kommt aus dem Wasser und geht Eis holen. Die Schlange am Eiswagen reicht bis zum Horizont. Auf der Decke nebenan wird es jetzt ganz ruhig, weil der Mann die Frau zu streicheln beginnt. Dann sagt er aber ganz plötzlich was, und zwar zu mir: Ob ich so nett wäre, nach den Sachen der beiden zu sehen, während sie ins Wasser gehen? »Ja, klar.« Endlich kommt auch mein Eis, und dann könnten wir jetzt vielleicht auch mal zusammen baden gehen, schlägt mein Freund vor. Ich sage, dass ich eigentlich noch kurz warten will, bis das Pärchen zurück ist, weil ich versprochen habe, auf die Sachen aufzupassen.
Für wie lange gilt so eine Zusage eigentlich? Zehn Minuten? 15 Minuten? Eine halbe Stunde? Die ist inzwischen um. Die Sonne scheint jetzt voll auf unsere Decke und mir ist ziemlich heiß. Schließlich gehe ich allein ins Wasser und lasse meinen Freund als Aufpasser für die Klamotten der beiden zurück. Echt schade.
Als ich aus dem Wasser komme, ist wer immer noch nicht da? Das Pärchen! »Lass uns nach unten in den Schatten umziehen«, sagt mein Freund. »Aber die Sachen des Pärchens!« sage ich. Sind die beiden ertrunken? Hat sie ihn unter Wasser gezogen? Oder er sie? Oder schmusen die im Badesee und vergessen vor lauter Pärchenglück die Zeit?
Ich schaue auf die umliegenden Leute und überlege, wem ich die Sachen des Pärchens anvertrauen könnte, damit wir in den Schatten können. Dann der Glücksfall. Links unterhalb der Pärchendecke wird gerade ein kleiner Schattenplatz frei. Wir können umziehen und haben die Sachen der beiden immer noch halbwegs im Blick. Falls es hier überhaupt Diebe gibt. Wir sind hier am helllichten Tag in Brandenburg, nicht nachts am Strand der Copacabana. Im Ernstfall fiele mein Einsatz zur Rettung fremden Eigentums ohnehin sehr bescheiden aus.
Aber da kommen die beiden Turteltauben auch schon händchenhaltend anspaziert. Die Frau entdeckt uns nicht sofort an unserem neuen Platz und wähnt ihre Sachen völlig unbeaufsichtigt. Gleich prasseln die Vorwürfe auf den Mann ein: dass er mir die Sachen anvertraut hat und dass sie es gleich gesagt hat. Nie wieder – der blaue Himmel über Brandenburg ist mein Zeuge – hüte ich das Handtuch fremder Badegäste.

Come on England

Bei 30 Grad im Schatten zeigt sich, wer ein echter Fußballfan ist. Von Uli Krug
Normalerweise gilt die Oberkörperentblößung bei Minusgraden als ultimativer Härte- und Männlichkeitstest für unerschütterliche Fußballfans – idealerweise zelebriert bei einer ­Europapokal-Auswärtsfahrt in die winterlichen Karpaten. Wie man sich leicht vorstellen kann, bieten die meist ebenso tätowierten wie wohlbeleibten Herren einen Anblick, bei dem der Fernsehzuschauer für jede Spielminute dankbar sein muss, die ihm Bildregie und Kameraführung den Close-up in den Auswärtsblock ersparen. Dass es aber auch ganz anders, sprich: zivilisiert, geht, habe ich vor zwei Wochen im vor Hitze glühenden Werner-Seelenbinder-Stadion in Berlin-Neukölln gelernt. 30 Grad im Schatten, 50 auf dem Platz, wo sich für ein Testspiel die beiden Berliner Ex-Bundesligisten Tasmania und Tennis Borussia gegenüberstehen. Auf den Rängen wird geschwitzt, Shorts, Badelatschen und Unterhemden bestimmen das Bild. Nur einer tanzt aus der Reihe. Ein dem Autor wohlbekannter Fan trotzt den Temperaturen: komplettes England-Fan-Outfit, Mütze auf dem Kopf, der ganze Körper eingehüllt in die Fahne mit dem roten Kreuz. Stoisch und mit erstaunlich wenig gerötetem Gesicht steht der junge Mann die Partie durch, ohne auch nur ein Kleidungsstück abzulegen. Chapeau! Die Europameisterschaft 2016 kann also kommen, England darf auf Fans zählen, deren Fähigkeit, der Hitze zu widerstehen, auf jeden Fall die des Three-Lions-Teams bei der zurückliegenden WM übertrifft (Vorrundenaus im brasilianischen Dschungel). Mögen sich Rooney, Wilshere, Sterling und Co. daran ein Beispiel nehmen und am 26. März 2016 im Berliner Olympiastadion siegen – ist ja auch noch nicht so heiß dann.

Bad Doberan

Eine Familie mit Grundsätzen besucht die Ostsee. Von Christina Mohr
Bad Doberan an einem Mittwoch im August, nachmittags halb vier, es ist knallheiß. Die Leute warten auf die nostalgische Bäderbahn mit Dampflokomotive, Touristenattraktion und ÖPNV in einem. Wir warten auch. Neben uns eine ganz normale Kleinfamilie, Vater, Mutter, zwei kleine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, die um den Springbrunnen herumrennen und Fangen spielen. Sweet.
Der Vater dreht sich um und ich lese den Spruch auf seinem T-Shirt: »Nach England flieg ich nur mit der Luftwaffe«. Ich starre ihn an, so lange, bis er mit Frau und Kindern auf die andere Straßenseite wechselt. Das kleine Mädchen dreht sich noch mal zu uns um, auf ihrem rosa Shirt steht »PEACE«.

Technik of Love
So freizügig geht es in Speyer zu.
Von Jürgen Kiontke
Zum Geburtstag habe ich eine Reise nach Speyer geschenkt bekommen. Irgendwann bin ich mal aufgewacht und hab’ gedacht: Alle reden von Berlin, aber was machen Leute in Speyer eigentlich?
Ich wohne im umgebauten Pfarreihaus, die Kirche hatte keine Verwendung mehr dafür. Wo früher eine Bühne mit Treppe war, ist nun eine Ferienwohnung. Die Treppe ist sechs Meter lang und hat sechs Stufen. Das ist prima. Du hast immer was, wo du den Einkauf abstellen kannst. Oder die Schuhe zubindest. Auf die Treppe haben sie die Trennwand zum Schlafzimmer draufgesetzt. Dort geht sie dann noch ein Stückchen weiter. Halbe Treppe, höhö. Tolle technische Lösung.
In Speyer gehe ich im Rhein schwimmen. An diesem Fluss bin ich aufgewachsen, aber dort konnte man nie hineingehen. Das war stinkende, tote Chemiebrühe früher. Jetzt geht das aber wieder, man hat überall Kläranlagen gebaut. Technik, ’ne super Sache!
Muss man noch sagen, dass es hier ein tolles Technikmuseum gibt? Auf dem Dach steht eine Boeing 747, man kann dort hinein. Eine Dependance steht in Sinsheim um die Ecke. Da gibt’s eine Concorde und eine Tupolew 144, die russische Schwester, zu besichtigen. Wer weiterfliegen will, steigt herab und betritt die sowjetische Variante der Challenger. Sie ist nur einmal in den Orbit geflogen, das war 1988. Da stand die Mauer noch, sogar im Weltall. Wenn man die Geräte sieht, die vielen verlöteten Kabel, glaubt man nicht, dass das alles fliegen kann. Aber von wegen, alles eine Frage der Technik!
Das ist ein sehr politisches Museum hier, der ganze Kalte Krieg ist ausgestellt. Und sogar der letzte große heiße. Irgendwo stehen Teile der V2-Rakete herum. Dass man damit London in Schutt und Asche legen konnte, Wahnsinn. Sicher – auch – eine Frage der Technik.
Zurück in Speyer, dort gibt es auch Badeseen. Dort wo wir reinspringen, sind sie alle nackt. Auch der sehr sehr dicke Mann in seinem winzigkleinen Gummiboot, der immer vor uns auf und ab fährt. Dass der damit nicht untergeht – das regelt bestimmt die Technik.
Ein schönes Pärchen kommt, geht schwimmen und fängt an zu kuscheln, und zwar so richtig heavy petting. Vorbeikommenden winken sie zu wie alten Bekannten – ach so, ich glaub, ich bin auf dem FKK-Gelände vom Swingerclub!
Die beiden sind ganz schön professionell – eine Erektion bringt der Mann zum Beispiel nicht aus dem Wasser mit. Na, bestimmt bloß eine Frage der Technik!

Kleine rosa Muscheln

Vom Glück, am Ostseestrand zu sein und seine Geschwister zu verbuddeln. Von Elke Wittich
Nur wirklich gemeine Menschen bezeichnen die Ostsee als Badewanne, Tümpel, nicht mal besonders großen See – dabei ist sie zwar laut Wikipedia »das größte Brackwassermeer der Erde«, aber, Brackwasser hin oder her, eben doch ein Meer. Und sogar eines mit Salz drin (jedenfalls in der Westostsee, wo ein bisschen Nordsee hineinfließt) und an manchen Stellen sogar mit wirklich sehr schönem Wellengang (wenn in einer der benachbarten Hafenstädte gerade eine der großen Fähren ausgelaufen ist; in den Ostseebädern nahe Travemünde wurde beispielsweise bis 1997 immer durchgesagt, wann die Finnjet und die von ihr erzeugten Wogen erwartet wurden). Ansonsten sind Ostsee­urlaube von wundervollster Verlässlichkeit, jedenfalls, wenn man noch klein ist. Dann geht man morgens gleich nach dem Frühstück mit den Eltern zum Strand, wo man sich umgehend wichtigen Tätigkeiten wie der Matscheproduktion oder dem möglichst geräuschlosen Verbuddeln ungeliebter Geschwister widmen kann, bis es Zeit ist, ins Wasser zu gehen, wo man bleiben muss, bis einem irgendjemand sagt, dass man schon ganz blaue Lippen hat, denn alles andere wäre unsportlich. Anschließend wird man sorgfältig abgetrocknet, mit Sonnencreme eingeschmiert und mit Sand paniert und kann interessante Dinge tun wie Löcher in Luftmatratzen bohren, rosa Muscheln zu Forschungszwecken einsammeln, anderen Leuten frisch gefangene Quallen über den Kopf schütten oder verlorengehen, was sehr toll ist, denn dann wird über den Strandlautsprecher eine Suchmeldung verbreitet und man darf bei der DLRG sitzen und der beim Leuteretten zugucken, bis Mama oder Papa einen wieder abholen kommen. Wenn der lange, aufregende Tag zu Ende ist, muss man zwar wie zu Hause auch ins Bett, aber mit etwas Glück erwischt man dort ein Stück loser Tapete und kann noch einige sehr hübsche innendekorative Experimente anstellen, bevor man glücklich und zufrieden einschläft. Immerhin: Auch wenn man nach vielen Sommern endlich erwachsen ist, kann man an der Ostsee noch das gleiche wundervolle Verlässlichkeitsgefühl haben wie früher. Denn irgendwie ändert sich nichts, außer den Sandburgen, die zu bauen an den meisten Stellen schwer verboten ist, aber das macht ja auch nix, wer will schon glattgehauene Sandmauern mit Muschelintarsienarbeiten produzieren, wenn es genau so schön ist, sich bei jedem Besuch davon zu überzeugen, dass es immer noch geht, man muss nur tief genug mit einer Hand graben und dann gluckert tatsächlich plötzlich Meer im Sand. Und yes, die kleinen rosa Muscheln sehen auch heute noch so schön aus wie früher und natürlich muss man welche einpacken, um zu Hause was auch immer damit zu tun, und jou, mit Sand paniert zu sein fühlt sich immer noch lustig an (und ist supergünstiges Peeling). Blöd ist’s nur, wenn’s regnet, denn die Strandpromenade, die einem früher so aufregend und voller käuflicher Wunderdinge erschien, ist gar nicht mehr so spannend, wenn man erstmal nicht mehr fünf ist und sich nicht mehr für State-of-the-Art-Sandspielzeug und Glitzerkram interessiert. Obwohl …

Arschbomben im Lochow
Ein Tagebucheintrag aus dem Sommer 1982 erinnert an das wilde Wilmersdorf im alten Westberlin. Von Tanja Dückers
Meine Eltern in Berlin-Wilmersdorf misten gerade bei sich aus. Und entdecken dabei jede Menge alten Krempel, den ich seit 25 Jahren »temporär« bei ihnen gelagert habe. Unter anderem fand sich – das war dann doch sehr interessant – ein altes Tagebuch von mir. Da habe ich mich über den langweiligen Sommer 1982 beklagt. In diesem (überarbeiteten) Eintrag geht es um das berüchtigte Freibad Lochow am Lochowdamm. Damals war Wilmersdorf ein wilder Bezirk.
Meine Mutter war beruhigt, dass ich nicht allein ins Lochow fuhr. Sie sagte immer mit rollenden Augen zu mir: »Du weißt ja, das Lochow ist … naja … eben das Lochow.«
Meine Freundinnen und ich liebten das Lochow. Es war riesig; zum Lochow gehörten hügelige Wiesen, die nie gemäht wurden, sie wurden die Bumshügel genannt, weil sich da öfter mal ein Pärchen vergnügte. Unkraut wuchs überall.
Zwischen den Sträuchern hatten Maria, Nike und ich aber auch schon mal Spritzen gefunden. Ein Fuchs, den alle den »Lochow-Fuchs« nannten, strich besonders gern zwischen den Bumshügeln herum – es war ein Fuchs mit leuchtend rotem Fell, der immer mit der Dämmerung auf die Lochow-Wiesen kam.
Meine Mutter ging auch gern ins Lochow (mein empfindlicher Vater hingegen fand es furchtbar dort), und ich hatte sie schon oft ­bewundert, wie sie Leuten ihre Meinung sagte, die direkt vor ihr ins Wasser köpperten, arschbombten oder versuchten, ihr Handtuch zu klauen – ein Volkssport im Lochow. Meine Mama konnte jeden Bierbauchfettsack zur Schnecke machen. Es reichte, dass sie ihre Badelatschen hinter dem Dieb her schmiss und »Handtuch – her!« brüllte. Den kleinen Fuchs mochte sie auch sehr, sie brachte ihm gern alte Brötchen und Kekse mit.
»Grüße vom kleinen Fuchs« sagten wir einander zu Hause, wenn einer mal wieder vom Lochow zurückgekommen war. Das Lochow sah so aus, als sei es seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert worden. Überall Rost, abgeblätterte Farbe, Verfall.
Im Lochow gab es keine Benimmregeln, man konnte kaum eine Bahn am Stück schwimmen, ohne sich vor Leuten, die von der Seite ins Wasser arschbombten oder köpperten, retten zu müssen. Teenies, Studenten, Großfamilien, Omas mit komischen Bademützen, Opas mit Glatzen, Kinderhorden, gestörte Leute – alle gingen ins Lochow. Viele Typen saßen allein herum und beobachteten junge Mädchen. Wir glotzten aber immer dolle zurück und sagten laut Sachen wie »Boah, ist das ein Fettsack!« oder »Gleich steht er ihm, guck mal«. Die Glotzer glotzten auch Jungs an, besonders die, die vom Fünfer oder vom Zehner sprangen.
So marode, wie die hohen Sprungtürme aussahen, hätte ich mich da nie im Leben raufgetraut, aber im Lochow ist, soweit ich weiß, nie irgendetwas passiert.

Der Kuhkoppel-Zwischenfall

In Mecklenburg-Vorpommern lauert das Ende an jeder Ecke. Von Michael ­Terbein
Der Himmel ist weit, eine Brise geht, Menschen trifft man in dieser Gegend nur im Supermarkt. Und auch dort nur wenige. Meistens sind sie alt. Zwei von ihnen stehen an der Kasse, unterhalten sich mit dem Kassierer, der auf dem Land offenbar die Funktion eines Barkeepers übernimmt: klassischer Kummerkasten. Er ist vielleicht der einzige unter 25 im Ort und lässt die Geschichten über Anni und ihren »dicken Arm« in aller Ruhe über sich ergehen. Und das Wetter, ja, das mache selbst ihm dieser Tage ordentlich zu schaffen. Zwei Leute also in dieser Schlange, und es dauert trotzdem eine gefühlte Viertelstunde, bis ich mit meinem Kakao und den beiden Wasserflaschen an der Reihe bin. Dass wir es an diesem Samstagmorgen etwas eilig haben, interessiert hier selbstverständlich niemanden.
Die Strecke zwischen Demmin und Kuhlrade beträgt auf der Karte zwar nur etwa 60 Kilometer. Aber man weiß nie, was kommt. Seen zum Beispiel, jeder muss ausprobiert werden; ehemalige Truppenübungsplätze, mit schlecht instand gehaltener Umzäunung; verlassene Grundstücke, auf denen man von der Straße aus oft schon Ruinen einer ehemaligen Fabrik oder Siedlung oder sonst was sehen kann; eine Ziegelei, die längst ihren Betrieb eingestellt hat, und stolze Eichen, deren Jahrhunderte lange Geschichten auf Infotäfelchen aufbereitet werden – alles hochinteressant!
Dass man bei so viel Sehenswertem vom Weg abkommt, versteht sich von selbst. Zum Glück kann man sich an der Sonne orientieren. Aber wo ist die eigentlich hin? Zwischen den Baumwipfeln sind bloß noch dicke Wolken zu sehen, es donnert in der Ferne und ist für diese Tageszeit, selbst im Wald, doch eigentlich viel zu düster. Die ersten Tropfen fallen und wir müssen uns eingestehen, dass wir einmal zu häufig auf die Intuition gesetzt haben. Wo zur Hölle sind wir nur gelandet? Ein Weg ist noch halbwegs fahrbar, die Brennnesseln und Disteln reichen trotzdem bis auf Ellenbogenhöhe.
Plötzlich stehen wir vor einem Elektrozaun. Kein Problem, die Situation ist bekannt und Momente später fahren wir über eine Koppel, die so hügelig ist, dass man nicht bis ans andere Ende sehen kann. Auf der Kuppel bremse ich abrupt aus einem Reflex heraus. Wo wir hin müssen, so gefühlt himmelrichtungsmäßig, haben sich einige Kühe von einschüchternder Größe zusammengerottet. Sie glotzen uns an. Wir glotzen zurück und ich gehe unwillkürlich die Schreckensmeldungen der vergangenen Wochen im Kopf durch.
»Mir ist das nicht geheuer mit den Tieren«, sagt mein Begleiter. »Wenn die ins Rollen kommen, bleiben sie nicht mehr stehen. Du hast das doch auch mitbekommen.« Ja, denke ich, danke, dass du es ausgesprochen hast. Vielleicht muss man sich für seine Furcht vor Kühen wirklich nicht schämen. Außerdem: Wenn diese Biester nicht so gefährlich wären, wieso hätte man dann einen Elektrozaun um sie gezogen? Den Wildtieren passiert das nicht!
Währenddessen wedeln die Kühe mit ihren struppigen Schwänzen. Möglicherweise ist es eine Drohgebärde. Einer von ihnen entfährt ein langgestreckter Laut, ein Geräusch, das zwar nicht unmittelbar nach Angriff klingt, aber man kann nie wissen.
»Was machen wir denn jetzt?« frage ich. Mittlerweile regnet es stark, Blitze zucken über unseren Köpfen. »Keine Ahnung, lass uns einfach runter von dieser Koppel. Nur nicht an denen vorbei!« Wir rollen einige Meter vorwärts, ruckartig setzen sich die Kühe in Bewegung. Sie preschen an uns vorbei, mit erhobenen Schwänzen, die Erde scheint zu beben. Ihre weiß-braunen Flecken verschmelzen miteinander, vor unseren Augen verschmilzt die Herde zu einer einzigen riesigen Kuh. Das ist wie bei den Zebras, denke ich, die machen das auch so, damit sich der olle Löwe nicht rantraut.
Die Biester rennen also donnernd vorbei und beziehen etwa 30 Meter entfernt am gegenüberliegenden Hang Stellung. Es sind bestimmt 20 Stück, die jetzt alle aufgereiht dastehen wie an einer Startlinie. Aus der Entfernung könnte man sie für Stiere halten. Dicke Stiere. »Mist«, denke ich. Der Tag hatte so wunderbar harmlos an der Kasse begonnen und jetzt schlägt womöglich meine letzte Stunde. Wir bewegen uns langsam auf den Zaun zu, sehen nicht zu den Tieren, unsere Blicke könnten sie aggressiv machen. Dass Strom durch den Zaun fließt, ist jetzt auch egal, binnen Sekundenbruchteilen schwingen wir uns auf die andere Seite und fahren fluchtartig davon. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass uns die Kühe bis zum Zaun gefolgt waren. Den Kakao habe ich nicht mehr runterbekommen.