»Die Lage im Land ist angespannt«
Sie waren unmittelbar nach dem Anschlag in Ankara vor Ort und haben die Protest- und Trauerveranstaltungen der linken Opposition besucht. Wie ist die Stimmung in der Opposition und wie hat sich die Polizei ihr gegenüber verhalten?
Als wir die Nachricht von dem Anschlag in Ankara erhielten, waren wir noch in Urfa. In der Innenstadt von Urfa hat sich innerhalb von Minuten die Polizei positioniert. Mit Sturmgewehren und gepanzerten Fahrzeugen standen sie an jeder Ecke und demonstrierten ihre Macht, wohl zur Abschreckung. Mit dem Fotografieren haben wir uns lieber zurückgehalten. Von einem Gefühl der Sicherheit durch die Anwesenheit der Polizei kann ich nicht sprechen – eher umgekehrt. Ursprünglich wollten wir nach Mardin fahren, um dort weitere Gespräche zu führen. Nach dem Anschlag in Ankara riet man uns davon ab und teilte uns mit, man könne unsere Sicherheit nicht gewährleisten.
Als wir nach Ankara fuhren, um an den Trauerveranstaltungen teilzunehmen, trafen wir viele Aktivistinnen und Aktivisten, die uns davon abrieten. Sie befürchteten weitere Anschläge und eine Eskalation. Vor allem nach den Anschlägen in Suruç und Diyarbakır ist die Lage im gesamten Land angespannt, im Südosten, aber auch in den westlichen Städten wie Istanbul und Ankara.
Die Polizei in Ankara setzte auf Eskalation. Am Bahnhof, wo der Anschlag verübt worden war, hatte sie sich aufgestellt. Überall wo wir waren, sah man viele Polizisten mit Sturmgewehren und Gasmasken, begleitet von gepanzerten Fahrzeugen. Der Ort des Anschlags war abgeriegelt. Die Polizei hat unterbunden, dass ein Kranz für die Opfer niedergelegt wird, und es gab Nachrichten, dass die Polizei an anderen Orten mit Tränengas gegen die Demonstrierenden vorgeht. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass die Polizei in der Türkei offenbar nicht den Auftrag hat, die Menschen zu schützen. Man hat eher das Gefühl, die Bevölkerung wird als Feind oder zumindest als Gefahr identifiziert. Die Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängt, ist: Wen schützt die Polizei?
Anfang November sollen ja in der Türkei Neuwahlen stattfinden. Die Wahlprognosen sagen Ergebnisse voraus, die sich nicht stark von denen der vorigen Wahlen unterscheiden. Wie werden Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die Regierungspartei AKP darauf reagieren?
Insgesamt herrscht in der Türkei eine große Skepsis darüber, welche Bedeutung Wahlen jetzt noch haben. Bei den Gesprächen mit Oppositionellen hörte man immer wieder Sätze wie »wenn Erdoğan doch irgendwie wegzukriegen wäre«. Die wenigsten politischen Beobachter glauben daran, mit Wahlen allein etwas an der Situation ändern zu können. Vielmehr wird vermutet, dass die Wahlen am 1. November durch Ausrufung eines Ausnahmezustands gar nicht erst stattfinden. Falls die Wahlen doch stattfinden sollten, bereitet sich die türkische Bevölkerung auf erneute Neuwahlen im Frühjahr 2016 vor, weil Staatspräsident Erdoğan davon spricht, dass man wählen werde, bis das Volk »den richtigen Weg« finde. Derzeit liegt die Regierungspartei AKP bei etwa 40 Prozent der Stimmen und wäre damit weit weg von der absoluten Mehrheit, die sie sich wünscht. Der gesamte politische Diskurs dreht sich spätestens seit der Präsidentschaft Erdoğans nicht mehr um Inhalte, sondern nur noch um seinen Machterhalt. Auch die Opposition stellt keine gesamtpolitischen Wahlprogramme mehr auf, sondern konzentriert sich darauf, eine Diktatur zu verhindern – so ihre Wortwahl. An eine politische Änderung allein durch Wahlen scheint jedenfalls kaum noch jemand zu glauben.
Derzeit ist die Türkei nicht nur wegen des verheerenden Anschlags von Ankara in den Schlagzeilen, sondern auch wegen der Verhandlungen mit der Europäischen Union über die syrischen Flüchtlinge in der Türkei. Wie sieht die Lage der Flüchtlinge aus?
In den Tagen vor dem Anschlag war ich zusammen mit der Europaabgeordneten Terry Reintke in Urfa und Antep unterwegs und habe mit Flüchtlingsorganisationen sowie Journalistinnen und Journalisten gesprochen. Insgesamt sind in der Türkei etwa 2,5 Millionen syrische Geflüchtete, die in menschenunwürdigen Verhältnissen leben und nur einen ungesicherten und temporären Status als Kriegsflüchtlinge haben. Sie haben keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis in der Türkei und können jederzeit abgeschoben werden. Bereits die Einreise in die Türkei geschieht unter Lebensgefahr, weil die Grenzen für die Flüchtlinge nicht offen stehen. Viele der Geflüchteten, schätzungsweise etwa 500 000, sind in sogenannten Camps untergebracht, die mitten im Nichts liegen und die von unabhängigen Beobachtern nicht ohne weiteres besucht werden dürfen. Die übrigen zwei Millionen Geflüchteten müssen sich selbst um Unterkunft kümmern und diese privat finanzieren. Deshalb arbeiten sie mehrheitlich im informellen Sektor als illegale Beschäftigte. Es gibt zwar rechtlich gesehen die Möglichkeit, unter erschwerten Bedingungen in bestimmten Sektoren legal zu arbeiten, aber das können nur die wenigsten Geflüchteten nutzen. Auch zu Gesundheitsversorgung und Bildung haben die Geflüchteten kaum Zugang, weil selbst rudimentäre Gesundheitsversorgung nicht überall gewährleistet wird. Eine Integration der syrischen Kinder und Jugendlichen ins türkische Schulsystem ist nicht vorgesehen und es gibt nur wenige Schulen, die extra für die Geflüchteten aufgebaut wurden. So ist es kaum überraschend, dass die syrischen Geflüchteten versuchen, möglichst schnell aus der Türkei weiter nach Europa zu fliehen, weil sie in der Türkei keine Lebensperspektive haben.
Die Europäische Union und EU-Mitgliedstaaten wie etwa Deutschland sprechen wieder davon, dass man mit der Türkei eng kooperieren müsse, auch wegen der sogenannten Flüchtlingskrise. Welche Folgen hätte eine solche Kooperation?
Die EU ist offensichtlich nur daran interessiert, sich die Geflüchteten vom Hals zu halten – koste es, was es wolle. Die übertriebene Angst vor sogenannten Flüchtlingsströmen darf aber nicht dazu führen, sich den falschen Partner zu suchen und die politischen Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Weder die EU noch ihre Mitgliedsstaaten sollten einen Deal zum Nachteil vieler Menschen eingehen, nicht nur auf Kosten der Geflüchteten, sondern auch der Bevölkerung in der Türkei. Es muss auch klar sein, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten an dieser Stelle ein dreckiges Spiel spielen. Die Türkei soll für sie die unliebsame Arbeit übernehmen, die Geflüchteten an der Weiterreise nach Europa zu hindern. So müssten die EU-Staaten keine unter Umständen gewaltsame Flüchtlingsabwehr betreiben, die man der eigenen Bevölkerung immer schwerer erklären kann.
Statt die türkische Regierung mit EU-Geldern für ihre Politik zu »belohnen«, wie es die EU derzeit plant, müsste genau das Gegenteil passieren. Die Türkei braucht die finanzielle Unterstützung seitens der EU und über dieses Druckmittel könnte die EU auch eine positive Wirkung im Sinne der Bevölkerung in der Türkei und der Geflüchteten erzielen. Es ist ja eigentlich paradox, dass die EU sich von Erdoğan Bedingungen für ihre Geldleistungen diktieren lässt. Die EU müsste die Themen Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit zur Priorität in den Verhandlungen mit der Türkei erklären.
Falls diese Druckmittel nicht reichen, müssten auch Investitionen aus den EU-Mitgliedsstaaten in der Türkei gestoppt werden. Die Entziehung der finanziellen Mittel und die ökonomische Isolierung der Türkei unter der Herrschaft Erdoğans sind der einzige sinnvolle Weg, um die türkische Demokratie zu retten. Eine Aussetzung der ohnehin schon seit Jahren stagnierenden EU-Beitrittsgespräche hingegen ist nicht nur kein Druckmittel, sondern könnte eher den gegenteiligen Effekt haben und Erdoğan die Möglichkeit geben, sich wieder einmal als Märtyrer zu inszenieren.