Das bolivianische Atomprogramm

Atomkraft und das gute Leben

Während sich andere Länder von der Atomenergie abwenden, scheint Boliviens Präsident Evo Morales sie im industriellen Maßstab nutzen zu wollen. Dabei haben der Schutz von »Mutter Erde« und das »gute Leben« in Bolivien Gesetzesrang. Was verbirgt sich hinter dem bolivianischen Atomprogramm?

Auf seiner Deutschlandreise Ende vergangenen Jahres versicherte Evo Morales während einer Podiumsdiskussion an der Technischen Universität in Berlin, das bolivianische Atomprogramm diene ausschließlich der zivilen und friedlichen Nutzung, denn Bolivien stehe für eine »Kultur des Friedens und des Lebens«. Die bolivianische Regierung verweist stets auf die Tatsache, dass es sich bei dem Atomprogramm lediglich um Bau und Betrieb eines nuklearen Forschungszentrums handele, es also der Wissenschaft, Gesundheit und Ernährungssicherheit diene. Jenes Forschungszentrum, das mit Unterstützung der russischen Atombehörde Rosatom für rund 300 Millionen US-Dollar in El Alto errichtet wird, soll der Regierung zufolge einen Teilchenbeschleuniger für Nuklearmedizin, ein Zentrum zur Lebensmittelbestrahlung sowie einen kleinen Forschungsreaktor mit niedrigem Potential umfassen.
Dennoch ist das Programm dem Vizeministerium für Elektrizität und alternative Energien untergeordnet, liegt also im Verantwortungsbereich des Ministeriums für Kohlenwasserstoffe und Energie und nicht etwa des Gesundheits- oder Bildungsministeriums. Aus Sicht der bolivianischen Regierung scheint die Atomkraft eine ernsthafte Alternative zur derzeitigen Stromgewinnung aus fossilen Brennstoffen zu sein. Wegen ihrer geringeren Emissionswerte gilt die Atomenergie dabei sogar als »saubere« Energie, die dem Klimaschutz dient. In Deutschland scheint diese Diskussion obsolet, aber für die bolivianische Bevölkerung ist dieses Thema hochaktuell.
Was genau bezweckt nun das Atomprogramm: Forschung oder doch industrielle Stromerzeugung? »Wir wissen eigentlich nicht, was genau geplant ist, aber das Forschungszentrum wäre schon ein Fortschritt für unser Land. Doch hinsichtlich der Gefahren der Atomkraft wurden wir noch nicht ausreichend aufgeklärt«, so ein Bürger aus La Paz. Die Kommunikationsstudentin Julia Pérez sagt, sie wünsche sich mehr Transparenz von der Regierung, damit mündige Bürger auch ihre eigenen Entscheidungen treffen können. In der Tat wissen viele nicht, was das bolivianische Atomprogramm genau bedeutet, abgesehen davon, dass es offenbar keinem militärischen Zweck dient, was für Morales der entscheidende Unterschied zwischen Bolivien und dem »imperialistisch-kapitalistischen System« ist.
In der Agenda 2025 spricht man offiziell davon, mit Hilfe einer Diversifizierung der Stromerzeugung energetisches Zentrum Südamerikas werden zu wollen, um in Zukunft Elektrizität auch zu exportieren. Hierbei wird die Rolle der Atomkraft zur industriellen Stromerzeugung öffentlich kleingeredet und andere Quellen der Stromerzeugung rücken in den Vordergrund, hauptsächlich Wind, Wasser, Sonne und Erdwärme.
Carmen Capriles, Agrarwissenschaftlerin und Mitglied der »Bürgerbewegung gegen die nukleare Bedrohung«, sagt, die Regierung habe sich im Rahmen des gesamten Atomprogramms diese Hintertür zur Stromerzeugung durch Nuklearenergie stets offengehalten, obwohl die Verfassung im Artikel 344 eindeutig festschreibe, dass die Einführung, der Verkehr und die Lagerung von nuklearen und chemischen Abfällen verboten sei. »Schon allein der Vertrag mit Rosatom ist faktisch nicht verfassungskonform«, so Capriles. Bei dem Artikel handele es sich um eine vorbeugende Maßnahme, die die Lagerung von ausländischem Atommüll auf bolivianischem Territorium verbietet. In der verfassungsgebenden Versammlung 2009 sei offenbar nicht daran gedacht worden, dass Bolivien einmal selbst diesen Müll produzieren könnte. Cecilia Requina, die Verantwortliche der »Bürgerbewegung gegen die nukleare Bedrohung« für juristische Angelegenheiten, sagt, dass die Bewegung bereits eine Verfassungsklage und eine Normenkontrolle vorbereite. Neben der Verfassungskonformität des Vertrags mit Rosatom müsse ebenfalls die Legalität der Abstimmungsprozedur im Parlament und im Senat geprüft werden. Ziel sei ein Referendum über die Verträge mit Rosatom, was die Entwicklung des bolivianischen Atomprogramms behindern würde.
Nach Angaben Requinas sahen anfängliche Planungen der Regierung vor, die Atomtechnologie zur industriellen Stromerzeugung in Atomkraftwerken zu nutzen, was auch öffentlich so propagiert worden sei. Nach der Havarie in Fukushima 2011 wurde das Atomprogramm zunächst von der Agenda gestrichen. Drei Jahre später tauchte es wieder auf, doch nun mit der Angabe, es handele sich nur um ein Forschungsprogramm. Die erste Hürde für das so neu aufgesetzte Atomprogramm war die Standortentscheidung für das nukleare Forschungszentrum. Erste Planungen sahen vor, das Forschungszentrum in der reicheren »Südzone« von La Paz im Stadtteil Mallasilla zu errichten. Hier führten die Ängste der Anwohner vor den negativen Folgen der radioaktiven Abgase und Abwässer jedoch zu öffentlichen Protesten, die zu einem Standortwechsel zwangen.
Das war laut Carlos Carafa, einem Anwohner Mallasillas, auch die Geburtsstunde der »Bürgerbewegung gegen die nukleare Bedrohung«, der mittlerweile Mitglieder verschiedener NGOs und Umweltverbände angehören. Die ehemalige Staatssekretärin für Elektrizität und alternative Energien, Hortensia Jiménez, begründete den Standortwechsel im September vergangenen Jahres mit der Unnachgiebigkeit einer kleinen Gruppe von Anwohnern, die mit falschen Informationen die Öffentlichkeit alarmiert habe. Carafa zufolge gingen hingegen rund 1 500 Personen, ein wesentlicher Anteil der Einwohner Mallasillas, auf die Straße.
Einen Monat nach den Protesten in Mallasilla hat sich der Rat der Anwohner El Altos dazu bereit erklärt, das Forschungszentrum im Stadtteil Parcopata im südlichen VIII. Bezirk errichten zu lassen. Vergangenen Monat wurde hier bereits in Anwesenheit der Vertreter Rosatoms und unter Applaus der lokalen Bevölkerung der Grundstein gelegt. Sergei Kirijenko, Geschäftsführer der russischen Atombehörde, bedankte sich derweil in öffentlichen Interviews für das Verständnis und den Optimismus der lokalen Bevölkerung.
Parcopata befindet sich am äußersten Rand El Altos und ist dabei, sich als Wohngebiet zu konsolidieren. Viele Häuser befinden sich noch im Bau, die Straßen sind noch nicht asphaltiert. Auf den Agrarflächen bauen die Anwohner verschiedene Feldfrüchte an und schicken ihr Vieh auf die Weide. Unweit des designierten Territoriums des nuklearen Forschungszentrums befindet sich das Wohngebiet »El Sol«, die Sonne.
Der Tenor der Anwohner ist eher positiv. Dabei verweisen viele auf die Chancen bei der Infrastrukturentwicklung und der Schaffung neuer Arbeitsplätze. »Momentan gibt es hier nur Pampa, aber bald wird das hier so aussehen wie in der Ceja«, so ein Anwohner Parcopatas, der damit auf das Zentrum El Altos verweist. Ein anderer Anwohner sagt, dass das Projekt sehr willkommen sei, da es Fortschritt bedeute, »einen Blick nach vorne«, wie er sagt. Eine junge Mutter und Besitzerin eines kleinen Lebensmittelladens meint, das Forschungszentrum schaffe neue Arbeitsplätze und neue Fortbildungsmöglichkeiten für junge Menschen. Auf die möglichen Gefahren angesprochen, sagt sie, den Anwohnern sei versichert worden, dass mit Vorsicht gearbeitet werde und Experten am Werk seien.
»Wenn es um Sicherheitsstandards geht, hat Bolivien in anderen Bereichen, beispielsweise der Agrarindustrie und der chemischen Pestizide, bereits bewiesen, dass diese nicht eingehalten werden«, sagt hingegen Capriles. Den Anwohnern Parcopatas sei »Entwicklung« versprochen worden, was auf längere Sicht jedoch bedeute, dass sie lediglich Tee und Sandwiches am Eingang verkaufen werden, da nur Experten in dem Forschungszentrum arbeiten, so Mitglieder der Bürgerbewegung. »Ethisch ist das Vorgehen sehr kritikwürdig, denn man nutzt hier auf üble Art und Weise das Wohlwollen und die Not der armen Lokalbevölkerung aus«, sagt die Sozialpsychologin, Feministin und Umweltschützerin Eli­zabeth Toledo.
Dabei argumentiert die Gruppe, die Atomtechnologie könne durchaus auch ihre Vorteile haben. Der Teilchenbeschleuniger und das Bestrahlungszentrum seien jedoch am falschen Standort und müssten eher ins Landesinnere beziehungsweise an Hauptexportrouten verlagert werden. Grundsätzlich lehnt die Gruppe jegliche Art von nuklearen Reaktoren ab, die zur Urananreicherung dienen könnten. Physikalische Forschung mit nuklearen Reaktoren habe meist das Ziel einer Ausweitung und Industrialisierung der Stromerzeugung, so Fabrizio Uscamayta, ein Umweltschützer.
Beim Modernisierungs- und Technologisierungskurs der bolivianischen Regierung bleibt fraglich, welche Rolle das Erbe der Menschheit spielt, wie Morales einst die Atomtechnologie titulierte. Der Export von Elektrizität ist jedoch von der geopolitischen Lage abhängig. Brasilien und Argentinien setzen auf Fracking bei der Erdöl- und Erdgasförderung und werden somit im Energiebereich immer weniger abhängig von Bolivien sein.