Die russische Wirtschaft stagniert

Der Rubel fällt

Kann Russland von den Turbulenzen in der Euro-Zone profitieren? Die derzeitige Situation der russischen Wirtschaft erscheint kaum als ein Zustand, der Weltmachtambitionen ermöglicht.

Noch ist der Sieg der Nato im Kalten Krieg nicht unter Dach und Fach. Zumindest sieht das der US-amerikanische Großinvestor und Feuilleton-Star George Soros so. Kurz vor dem britischen Referendum über den EU-Austritt hatte er vor dem Untergang der EU und einem Wiederaufstieg Russlands zur Weltmacht gewarnt, sollte die Union ihre multiplen Krisen nicht in den Griff bekommen. Ohne eine Stabilisierung Griechenlands, die Erhaltung des Euro, die Einhegung der Fluchtbewegungen, dem Verbleib Großbritanniens in der EU und – dies ist seit längerem eines der Hauptinteressen des gebürtigen Ungarn – die Westintegration der Ukraine würde Russland bald wieder an die Pforten Europas pochen und auf der Asche der EU zu neuer imperialer Kraft kommen. Für Soros, dessen Stiftung Open Society Institute in Russland im Dezember verboten wurde, eine Horrorvision.

Dass zu einer Weltmacht eine konkurrenzfähige Ökonomie gehört, versteht sich von selbst. Und auch Soros sollte sich dessen bewusst sein. Lieber aber ergeht er sich in strategischen Überlegungen. »Verlässt Britannien (die EU, Anm. d. Red.), könnte dies einen generellen Exodus auslösen, und der Zerfall der EU wird praktisch unvermeidlich«, warnte er und halluzinierte eine Umkehrung des Dominanzverhältnisses aus den neunziger Jahren herbei.

Während nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem dramatischen ökonomischene Niedergang Russlands die EU eine »Gründungs- und Blütezeit« erlebt habe, sei die Perspektive nun genau umgekehrt. Dumm nur, dass die Zahlen dem eklatant widersprechen. Drei Jahre in Folge ist das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) gefallen. Und nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes wird dies auch im laufenden Jahr so bleiben. Am Ende des Jahres könnte sich das BIP pro Kopf im Vergleich zu 2012 halbiert haben. Ein globaler Bedeutungszugewinn oder gar ein Potential für Weltmachtambitionen ist so nur sehr schwer zu begründen: Hatte Russlands Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung zu Beginn der Krise im Jahr 2008 noch knapp vier Prozent betragen, sind es derzeit noch etwa drei Prozent – die EU bringt es trotz geringen Wachstums insgesamt immerhin auf 17 Prozent.

Vor allem in den vergangenen fünf Jahren ist Russlands Ökonomie zweifellos einer der Verlierer der Krise gewesen. Die EU-Sanktionen nach der Besetzung der Krim und vor allem der Verfall des Öl- und Gaspreises haben Russlands Exportwirtschaft schwer getroffen. Etwa drei Viertel der Ausfuhren des Landes sind Energieträger. Bereits zum Jahreswechsel hatte der russische Finanzminister Anton Siluanow seine Landsleute darauf vorbereitet, dass dieser Trend weiter anhalten werde. »Die Preise für unsere wichtigsten Exporte könnten noch niedriger ausfallen als erwartet«, so Siluanow im russischen Staatsfernsehen. Eine international konkurrenzfähige russische Industrie, die das kompensieren könnte, ist weiterhin praktisch nicht existent. Weder die 2011 von Putin begründete »Strategie 2020«, ein sozialpolitisches Sparprogramm, das Investitionsanreize für eine Modernisierung setzen sollte, noch die 2014 als Antwort auf die westlichen Sanktionen durch die Regierung angekündigte »vollständige Reindustrialisierung des Landes« haben bisher Wirkungen gezeigt. Nach wie vor dümpelt der Anteil an der Weltindustrieproduktion des größten Landes der Erde bei weniger als drei Prozent – etwa einem Fünftel des Anteils der ehemaligen Sowjetunion. Weniger als zehn Prozent der Gesamtexporte Russlands machen Industriegüter aus. Und dies trotz des Preisverfalls der ausgeführten Rohstoffe.

So ist auch der Absturz des Rubelkurses wenig überraschend. Jeweils zweistellige Inflationsraten entwerteten in den vergangenen drei Jahren vor allem die Einkommen der Beschäftigten, deren Reallöhne im Schnitt jeweils um fast zehn Prozent pro Jahr gesunken sind. Auch wenn die Verhältnisse nicht das Niveau der neunziger Jahre erreichen, als über die Hälfte der Russen unter der Armutsgrenze lebte, so nimmt die Armut zwischen St. Petersburg und Wladiwostok offensichtlich wieder zu. Bereits im vergangenen Jahr hatte etwa das UN-Kinderhilfswerk Unicef Alarm geschlagen, da fast 3,5 Millionen russische Kinder kein adäquates Zuhause hätten. Vor allem im staatlichen Gesundheitssektor waren zudem im vorigen Jahr umfangreiche Leistungskürzungen und Entlassungen vorgenommen worden, um die Haushaltsdefizite auffangen und Investitionen in den wichtigsten stra­tegischen Wirtschaftsbereichen weiter tätigen zu können. Die Versorgungsengpässe sind mittlerweile fast schon sprichwörtlich geworden.
Offenbar gerät die Politik Wladimir Putins und seiner Regierung innenpolitisch stärker unter Druck. Nach einem Bericht des »Komitees für Bürgerinitiativen«, einem Institut, das der ehemalige Finanzminister und enge Putin-Vertraute Aleksej Kudrin 2012 gegründet hat, stützt zwar die überwäl­tigende Mehrheit von 82 Prozent der Bevölkerung den außenpolitischen Kurs des Präsidenten, innenpolitisch seien aber die Zustimmungswerte für die Regierungspartei »Einiges Russland« seit Dezember von 56 Prozent auf 47 Prozent abgesackt.

Angesichts der allgemein wenig erfreulichen Lage, die sich durch die Verlängerung der EU-Sanktionen gegen Russland bis Januar 2017 noch verschärfen könnte, steht für die russische Staatsführung derzeit weniger Expansion als vielmehr das Werben um Investitionen und Partnerschaften im Vordergrund. Bereits im April hatte Putin in einer Fernsehsendung offensiv einen »Zufluss an Investitionen« als wichtigste wirtschaftspolitische Grundlage dargestellt. Auch der versöhnliche Tonfall gegenüber der EU – auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg im Juni hatte Putin der EU gar die Partnerschaft in der wenig erfolgreichen Eurasischen Union angeboten – und den USA, die er kurz zu­vor als »letzte verbliebene Supermacht« bezeichnet hatte, deuten die prekäre Lage des letztlich weitgehend vom Rohstoffexport abhängigen Staats an. Supermächte jedenfalls sehen in aller Regel anders aus.