Wird die Aufklärung der NSU-Mordserie von Verfassungsschutzbehörden behindert?

Die genaue Anzahl der Idioten

Ob es um vorenthaltene Akten, Spekulationen über weitere Täter oder die Recherche zu weiteren Opfern geht – die Aufklärung des NSU-Terrors gestaltet sich weiterhin schwierig, nicht zuletzt wegen der mangelnden Kooperation einiger Behörden.

Wie groß war der Unterstützerkreis des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) tatsächlich? Und gehen möglicherweise noch weitere ungeklärte Mordfälle auf das Konto der rechts­ex­tremen Terrorgruppe, nach bisheriger Meinung bestehend aus der in München angeklagten Beate Zschäpe und den verstorbenen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt? Der CDU-Politiker Clemens Binninger, Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags, hat in der vergangenen Woche in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau zumindest über die erste dieser Fragen laut nachgedacht. »Wenn ich die Fakten und Indizien aus Akten und Vernehmungen betrachte, bin ich zutiefst davon überzeugt, dass der NSU nicht nur aus drei Leuten bestand und dass es neben den Helfern und Unterstützern, die angeklagt sind, weil sie Wohnungen, Handys, Waffen beschafft haben, auch Mittäter gab«, sagte Binninger. Er zweifele an der Version des Generalbundesanwalts, nach der alle 27 Straftaten – zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge, 15 Banküberfalle – lediglich von Mundlos und Böhnhardt begangen worden sein sollen.
Zudem wies Binninger darauf hin, dass es einen potentiellen NSU-Unterstützerkreis von etwa 100 Personen gegeben habe. Man verfüge allerdings nur über die DNA von 19 Personen aus diesem Kreis, die man mit Tatortspuren abgleichen könne. Man müsse, so der ausgebildete Polizist Binninger, doch zumindest nachfragen, ob die anderen bereit wären, freiwillig Speichelproben abzugeben.
Ebenfalls in der Frankfurter Rundschau widersprach die Bundesanwaltschaft. »Parallel zu der Hauptverhandlung vor dem Oberlandesgericht München geht die Bundesanwaltschaft weiterhin allen Hinweisen und Spuren auf bislang unbekannte Mitglieder und Unterstützer oder bisher unentdeckt gebliebene Taten des NSU nach«, sagte die Sprecherin der Ermittlungsbehörde, Frauke Köhler. »Im Rahmen des rechtlich Möglichen sind dabei auch DNA-Profile erhoben und abgeglichen worden.« Das Strafprozessrecht könnte die Suche nach der richtigen DNA allerdings erschweren. Reihenuntersuchungen, für die Speichelproben von mehreren Personen auf freiwilliger Basis entnommen werden, sind nur unter streng definierten Voraussetzungen möglich. Im Gesetz heißt es, dass »bestimmte, auf den Täter vermutlich zutreffende Prüfungsmerkmale« erfüllt sein müssen. Strittig könnte sein, ob dies bei den mutmaßlichen Helfern des NSU der Fall ist. Vor dem Oberlandesgericht München stehen seit Mai 2013 das NSU-Mitglied Beate Zschäpe und vier weitere Personen, denen die Unterstützung der Rechtsterroristen vorgeworfen wird. Sie sollen unter anderem eine Waffe beschafft und Fluchtwagen zur Verfügung gestellt haben.
Im Bundestag sowie in mehreren Landesparlamenten versuchen Untersuchungsausschüsse zugleich, die Rolle und das Versagen der Ermittlungsbehörden und der Geheimdienste aufzuklären. Mitglieder der Ausschüsse äußern den Vorwurf, dass insbesondere die Verfassungsschutzämter die Arbeit der Parlamente und deren Akteneinsicht behinderten. Irene Mihalic, Obfrau der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im NSU-Ausschuss, etwa beklagte, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die Aufklärung blockiere. Vor allem die »Aktenlieferungsmoral des Bundesamts« verärgere sie. »Die eine Hälfte ist nicht da, und das, was kommt, ist das pure Chaos. Das ist eine Frechheit«, so Mihalic nach Angaben der Tageszeitung Die Welt. Auch die Praxis der Einsichtnahme in die vom BfV als geheim eingestuften Dokumente sorgt für Unbehagen unter den Ausschussmitgliedern. Um die Akten lesen zu können, müssen sie die Berliner Zweigstelle des Inlandsgeheimdiensts aufsuchen. Kopien dürfen sie nicht machen. »Da werden einem Schriftstücke vorgelegt, nach denen man nie gefragt hat. Das, was man einsehen wollte, bleibt verschollen im Reich der Panzerschränke. Das ist kein guter Umgang mit dem Parlament«, sagte Mihalic.
Den Eindruck, dass die Aufklärung der NSU-Mordserie von den Verfassungsschutzämtern behindert wird, haben auch einige Untersuchungsausschüsse in den Landesparlamenten gewonnen. Insbesondere in Hessen scheint dies der Fall zu sein. Nachdem die Linkspartei im dortigen Ausschuss im Jahr 2015 Akten über Personen aus dem Nazimilieu beim Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) angefordert hatte, trafen diese erst im März dieses Jahres ein – ein dreiviertel Jahr später. »Eine derartige Blockade eines NSU-Untersuchungsausschusses durch eine Landesregierung ist aus keinem anderen Bundesland bekannt«, so Hermann Schaus (Linkspartei).
Die Nachforschungen zum NSU in Hessen betreffen auch einen der skandalträchtigsten Fälle in der Affäre, den des ehemaligen LfV-Mitarbeiters Andreas Temme. Dieser war am Tag des Mordes an Halit Yozgat im April 2006 am Tatort, einem Internetcafé in Kassel. Er beteuert nach wie vor, nur zufällig dort gewesen zu sein. Für die hessische Fraktion der Linkspartei drängt sich jedoch der Verdacht auf, dass Temme von dem bevorstehenden Mord an jenem Tag wusste oder ihn zumindest mitbekommen haben muss und sich anschließend nicht bei der Polizei als Zeuge meldete. Im Juni räumte Temme die Existenz eines »CDU-Arbeitskreises im Amt« ein, an dessen Grillfeier er und andere namhafte Vertreter des LfV teilgenommen hätten. Da auch der Leiter der Außenstelle Kassel sowie der damalige Leiter des hessischen Geheimdiensts, Lutz Irrgang, diese Treffen besucht hätten, stelle sich die Frage, ob die persönliche Nähe Einfluss auf das Ermittlungsverfahren gegen Andreas Temme gehabt habe, teilte Schaus in einer Presseerklärung mit.
Auch im Hauptprozess in München bleibt weiterhin vieles unklar, beispielsweise, ob es weitere Mordopfer des NSU gibt. Die Angeklagten Ralf Wohlleben und Carsten S. müssen sich wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen verantworten. Die beiden sollen eine Pistole mit Schalldämpfer für Böhnhardt und Mundlos beschafft haben. Dies soll im Frühjahr 2000 in Chemnitz geschehen sein. Im August desselben Jahres soll Wohlleben einer Aussage von Carsten S. aus dem Jahr 2013 zufolge diesem in einem Telefonat mitgeteilt haben: »Die Idioten haben jemanden angeschossen.« Mit »Idioten« waren die NSU-Mitglieder gemeint. Doch auf welche Tat sich diese Aussage bezog und wer angeschossen wurde, ist bislang unklar.
Das Bundeskriminalamt (BKA) überprüfte deshalb 78 ungeklärte Tötungsdelikte darauf, ob es sich um weitere Taten des NSU handeln könnte. Die Landeskriminalämter trafen die Vorauswahl der Fälle. Der BKA-Beamte Christoph S. sagte vor zwei Wochen vor dem Oberlandesgericht München als Zeuge aus und beschied nach Angaben von Spiegel Online, dass sämtliche Fälle »mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht dem von Carsten S. geschilderten Sachverhalt zuzuordnen sein dürften«. Einige Akten seien jedoch aus Gründen des Datenschutzes nicht mehr vorhanden. Nachfragen zu den Fällen habe er den Landeskriminalämtern nicht gestellt. Das BKA demonstrierte damit an diesem Verhandlungstag bestenfalls halbherziges Engagement. Neben den Verfassungsschutzämtern trägt damit eine weitere maßgebliche Behörde nicht viel zur Aufklärung des NSU-Terrors bei.