Die türkische Regierung sorgt sich mehr um unislamische Feste als islamistischen Terrorismus

Propaganda für den Terror

Was die türkische Regierung offiziell bei jeder Gelegenheit verbietet, hat sie im Fall des Massakers im Nachtclub Reina selbst betrieben.

Trotz höchster Sicherheitsvorkehrungen konnte erneut ein schwerbewaffneter Täter in einen Istanbuler Club eindringen, ein Massaker anrichten und danach spurlos verschwinden. Eine Debatte über die Sicherheitslage, politische Verantwortlichkeiten oder gar die Außenpolitik der türkischen Regierung ist als »Propaganda für den Terror« verboten, eine Nachrichtensperre wurde verhängt. Dennoch tobt ein Krieg um die öffentliche Meinung im Land. Rund um die Uhr bringen die regierungsnahen Medien Verschwörungstheorien in Umlauf. Eine Satirepostille warnt auf dem am 2. Januar erschienenen Titel vor den sozialen Medien. »Glaubt diesem Ungläubigen nicht«, sagt ein alter frommer Mann und zeigt auf das Symbol des Zwitschervogels. Im Kampfblatt Akit wird eine CIA-Verschwörung suggeriert. 
Die Tageszeitung Sabah machte die Neujahrsbotschaft eines türkischen Modemachers zum Aufmacher. Barbaros Şansal verbrachte den Jahreswechsel in Nordzypern und hatte in sozialen Medien ein Video geteilt. Darin mokiert er sich über die Korruption und Verlogenheit der türkischen Führung, kündigt an, bis zum neuen Jahr in Freiheit zu saufen, und wünscht, bereits sichtlich angetrunken, der Türkei, in der eigenen Scheiße zu ersticken. »Der nichtswürdige Provokateur« (Sabah) wurde auf Bestreben der Türkei umgehend dorthin ausgewiesen. Trotz Polizeieskorte wurde Şansal noch beim Aussteigen aus dem Flugzeug im Sicherheitsbereich von regierungsnahen Hooligans zusammengeschlagen. Während Şansal festgenommen wurde, konnten die Schläger unbehelligt abziehen. Angesichts des völligen Versagens der Sicherheitskräfte bei der Terrorprävention ist dies eine erbärmliche Billigung von Lynchjustiz.
Bei insgesamt sechs Anschlägen starben seit 2015 allein in Istanbul 157 Menschen, Hunderte wurden verletzt. Alle diese Attentate galten zentralen Orten des modernen Lebens, in denen sich Einheimische und internationale Besucher mischen. Im Istanbuler Club Reina fanden sich Gäste aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und Europa ein, um gemeinsam Silvester zu feiern. Der »Islamische Staat« (IS) übernahm die Verantwortung für den Anschlag. Die Behörden vermuten, dass der Täter aus der türkischen IS-Zelle stammt, die auch für das Attentat auf dem Atatürk-Flughafen im Juni verantwortlich war.
Die kemalistische Oppositionspartei CHP fordert eine parlamentarische Untersuchungskommission für alle Terroranschläge der vergangenen zwei Jahre. Der stellvertretende Vorsitzende Sezgin Tanrıkulu sagte der Jungle World, dass die Regierung offenkundig den IS unterstützt und die Ausbreitung seiner Anhänger in der Türkei geduldet habe. Die Entlassung Tausender erfahrener Mitarbeiter aus dem Polizeiapparat habe die Sicherheitslage zusätzlich verschlechtert.
In den sozialen Medien teilen Menschen im ganzen Land mittlerweile ihre Sorge über einen Bürgerkrieg. Die regierungsnahe Propagandamaschine hatte den ganzen Dezember hindurch eine Hetzkampagne gegen Weihnachten und die Gewohnheit vieler Türken betrieben, Neujahr mit Weihnachtsbaum, Geschenken und alkoholischen Getränken zu feiern. Selbst das staatliche Präsidium für religiöse Angelegenheiten hatte Neujahrsfeiern als unislamisch diffamiert. Eine Zeitung druckte am 31. Dezember »eine letzte Warnung« an alle Feierwilligen als Schlagzeile auf den Titel.
Dass angesichts des Anschlags ein Umdenken einsetzen könnte, ist nicht zu erwarten. Der Machterhalt soll durch Desinformation und die Schaffung von Sündenböcken garantiert werden. Die Regierung will den Ausnahmezustand weitere drei Monate verlängern. Nur Sicherheit hat dieser bislang nicht hergestellt.