Erst die Arbeit, dann der Sarg
Für einige Stunden ging nichts mehr. Am 15. März blockierte ein Streik der Bus- und U-Bahnfahrer den öffentlichen Nahverkehr der geschäftigen Metropole São Paulo. Hunderttausende Fahrgäste standen in den Morgenstunden vor vergitterten Stationen. Auf den Straßen der größten Stadt der Südhalbkugel bildeten sich Staus in Rekordlänge. Am selben Tag blockierten Wohnungslose zahlreiche Autobahnen, Aktivisten besetzen das Finanzministerium in der Hauptstadt Brasília und im ganzen Land gingen über eine Million Menschen auf die Straße. In São Paulo versammelten sich 200 000 Demonstranten auf der Avenida Paulista im Banken- und Finanzviertel. Bei der pathosgeladenen Abschlusskundgebung sprachen Vertreter von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und linken Parteien. Auch am 31. März gingen wieder hunderttausende Brasilianer und Brasilianerinnen in zahlreichen Städten auf die Straße. Die Proteste richteten sich gegen die wirtschaftsliberale Politik der Regierung Michel Temers. Bereits im vergangenen Jahr hatte das brasilianische Parlament beschlossen, die Staatsausgaben für die kommenden 20 Jahre nicht zu erhöhen (Jungle World 43/2016). Nun geht Temer mit zwei weiteren Projekten in die Offensive.
Vor allem die Reform des Rentensystems erhitzt die Gemüter. Nach den Plänen der Regierung soll das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre steigen. Derzeit gehen viele Brasilianer bereits mit 55 Jahren in Rente. Eine geplante Verfassungsreform sieht vor, die minimale Beitragszeit von 15 auf 25 Jahre zu erhöhen und die volle Rente erst nach 49 Beitragjahren auszuzahlen. Präsident Temer, der mit 55 Jahren pensioniert worden war, verteidigte die Verfassungsreform Mitte März vor Unternehmern in São Paulo. Sie werde das marode Rentensystem vor dem Kollaps bewahren und die Wirtschaft entlasten. »Wir können uns jetzt keinen bescheidenen Schritt erlauben, sonst müssen wir in vier oder fünf Jahren deutlich härtere Einschnitte vornehmen, wie in Portugal, Spanien oder Griechenland, die die Zukunft nicht vorausgesehen haben«, sagte der Politiker der Mitte-rechts-Partei PMDB.
Kritiker werfen der Regierung vor, die Rente faktisch abzuschaffen, und bezeichnen das Projekt als »Reform des Sarges«, weil viele Brasilianer durch die Anhebung gar nicht erst in das Rentenalter kommen würden. »Vor allem für die armen Brasilianer bedeutet diese Reform, dass sie bis zum Tod arbeiten«, sagt Thiago Wender Ferreira von der linken Jugendbewegung Levante Popular da Juventude der Jungle World. In vielen armen Stadtteilen liegt die Lebenserwartung unter 55 Jahren. Auf dem Land ist die Lebenserwartung sogar noch niedriger. Zudem soll gemäß der Verfassungsreform das Renteneintrittsalter für Männer und Frauen gleichermaßen auf 65 Jahre steigen. »Diese Gleichsetzung ignoriert komplett, dass wir Frauen noch zusätzlich Hausarbeit erledigen, die nicht entlohnt wird«, kritisiert die Feministin Maíra Mi im Gespräch mit der Jungle World. »Der heutige fünf Jahre frühere Renteneintritt für Frauen ist eine minimale Anerkennung unserer doppelten, oft dreifachen Arbeit.«
Neben der Rentenreform ist die geplante Flexibilisierung des Arbeitsrechts umstritten. Ende März unterzeichnete Temer ein Outsourcing-Gesetz. Unternehmen und Betriebe können zukünftig alle Dienstleistungen und Produktionsschritte an Leiharbeitsfirmen auslagern. Bisher durften nur Nebentätigkeiten wie Reinigung oder Wachdienste von Dritten übernommen werden. Das Gesetz gilt auch für den öffentlichen Dienst, etwa für Schulen oder Krankenhäuser. »Ich bin mir sicher, dass das Outsourcing die Beschäftigung fördern wird. Es wird keinen Schaden für die Arbeitnehmer mit sich bringen«, verteidigte Temer die Reform. Gewerkschaften befürchten hingegen eine weitere Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. »Die Reform gibt den Unternehmen die Freiheit, ohne einen einzigen festangestellten Arbeiter zu operieren«, kritisiert João Caires vom Dachverband der Metallarbeitergewerkschaften CNM. Auch Ivan Valente von der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) kritisiert die Politik Temers: »Das Ziel dieser Reformen ist es, den Arbeiter zu zerstören. Es ist eine Antwort an den Finanzmarkt, unter der das Volk leiden wird«, sagte der Abgeordnete der Jungle World.
Die Unzufriedenheit mit Präsident Temer, der im vergangenen Jahr durch ein juristisch fragwürdiges Amtsenthebungsverfahren gegen seine Amtsvorgängerin Dilma Rousseff an die Macht gekommen ist, wird immer größer. Der 76jährige erzielte Ende März nur noch zehn Prozent Zustimmung, selbst Rousseff, unter der er Vizepräsident war, war kurz vor ihrer Amtsenthebung noch beliebter. Bei vielen Konzerten und anderen Kulturveranstaltungen sind die »Weg mit Temer«-Rufe mittlerweile fester Bestandteil des Programms.
Auch die Reihe der Skandale reißt nicht ab. Mehrere Minister mussten bereits wegen Korruption zurücktreten. Zahlreiche führende Politiker sitzen in Haft. Das Oberste Wahlgericht prüft derzeit, ob Temer und Rousseff, die 2014 noch gemeinsam angetreten waren, ihren Wahlkampf mit illegalen Spenden bestritten haben. Sollte dies bewiesen werden, könnte die Wahl für ungültig erklärt werden und Temer sein Amt verlieren. Zudem erschüttert ein Gammelfleischskandal das Land. Mitte März wurde bekannt, dass mehrere brasilianische Firmen verdorbenes Fleisch exportiert und Gesundheitsbeamte in großem Stil bestochen hatten. Mehrere Länder verhängten daraufhin einen Importstopp gegen den weltweit größten Exporteur von Agrarprodukten.
Die Krise macht sich auch im Alltag bemerkbar. In den großen Städten bevölkern immer mehr Obdachlose die Straßen. Die Zahl der Gewaltverbrechen ist in den vergangenen Monaten stark gestiegen. Die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie seit mehreren Jahren nicht mehr und trifft alle fast Teile der Gesellschaft. Die arbeitslose Kulturarbeiterin Mona Perlingeiro erzählte der Jungle World: »Obwohl ich einen Abschluss habe, befinde ich mich in diesem Moment der Krise in der gleichen Situation wie eine Person, die nicht studiert hat. Im Kulturbereich wird alles gekürzt und es gibt einfach keine Arbeitsplätze mehr. Das führt dazu, dass wir gezwungen sind, jede Art von Arbeit anzunehmen.«
Für viele Linke scheint es nur einen Ausweg zu geben: eine erneute Kandidatur von Luiz Inácio »Lula« da Silva. Der ehemalige Präsident und Politiker der Arbeiterpartei PT wird als Kandidat für die Wahlen im Jahr 2018 gehandelt. Sollte der Oberste Gerichtshof dem PT nicht mit einer Verurteilung Lulas einen Strich durch die Rechnung machen, wird der 71jährige voraussichtlich im Mai auf dem Bundesparteitag offiziell als Kandidat vorgestellt. Trotz regelrechter Verleumdungskampagnen der großen Medien führt der ehemalige Gewerkschaftsführer in allen Umfragen. João Paulo Rodrigues von der Bundeskoordination der Landlosenbewegung MST sagte der Jungle World: »Lula gelingt eine Sache, die kein anderer schafft: Er spricht mit den Armen, die nicht links sind, die keine Aktivisten sind und die keine Ideologie haben.« Allerdings sind Lula und sein PT bei Linken nicht unumstritten. So sagt der Politikprofessor Pablo Ortellado, der PT habe es versäumt, die eigenen Fehler zu reflektieren, und sehe eine »große Verschwörung gegen die nationale Industrie« als zentralen Grund für die Krise. Zudem gerät durch den aus der Not geborenen Zusammenschluss der Linken die Kritik an der umstrittenen Entwicklungspolitik des PT in den Hintergrund.
In den kommenden Wochen werden die Proteste weitergehen. Gewerkschaften und soziale Bewegungen rufen für den 28. April zu einem Generalstreik auf. Ob es der linken Opposition gelingen wird, Temer aufzuhalten, bleibt allerdings fraglich.