05.10.2017
Was der Einzug der AfD in den Bundestag für das politische Koordinatensystem bedeutet

Offene Briefe und offene Flanken

Der Einfluss der AfD ist größer als ihr Stimmenanteil. Sie bestimmt die Themen der politischen Debatte, die CSU fordert einen Rechtsruck, auch viele CDU-Politiker befürworten das.

Bald sitzen Faschisten im Parlament. Da gibt es für anständige Deutsche zwei Dinge zu tun. Erstens: Die Ehre des Vaterlandes gegen die Nestbeschmutzer verteidigen. Zweitens: Protestieren. Das geht mittlerweile auch ganz bequem mit einem offenen Brief auf einer Petitionsplattform.

Mehr als eine halbe Million Menschen haben einen solchen seit der Bundestagswahl unterzeichnet und so fängt er an: »Sehr geehrte AfD«. Das gehört sich so. Ehre, wem Ehre gebührt; man schreibt immerhin einer demokratisch gewählten Partei, der drittstärksten Kraft im Deutschen Bundestag. »Wir sind die 87 Prozent, die euch nicht gewählt haben«, stellen sich die Unterzeichnenden vor und machen damit klar, dass Nichtwähler nichts zu melden haben. »Und wir stehen auf gegen euren Rassismus«, lautet der zentrale Satz, den Leute aus »jeder politischen Richtung«, auch solche »rechts der Mitte«, unterzeichnen sollen. Die Volksfront von Wählern der CSU bis hin zu Anhängern der Linkspartei steht ein für Deutschland, genauer: »für ein weltoffenes, soziales, liberales, vielfältiges Deutschland«. Damit kann die Bundesrepublik zwar eigentlich nicht gemeint sein, aber schön klingen die Adjektive allemal. »Das hier ist unser aller Land und ihr holt es euch nicht zurück.«

Die Regierungspolitik wird in Zukunft immer darauf bedacht sein, wie die AfD wohl reagieren wird. Der politische Einfluss der AfD ist mithin weit größer als ihr Stimmenanteil.

Die knapp 100 Abgeordneten der AfD dürften von derlei Ansagen nicht weiter beeindruckt sein. Zwar stimmt es, dass 87 Prozent derjenigen, die gewählt haben, ihre Zweitstimme nicht der AfD gaben. Stattdessen wählten sie mehrheitlich Parteien, die das Asylrecht immer weiter verschärfen, die für das Massensterben von Flüchtlingen im Mittelmeer verantwortlich sind und sich gegenseitig mit Vorschlägen für schnellere Abschiebungen überbieten. Aufstehen »gegen euren Rassismus« heißt: kein Aufstehen gegen den Rassismus der anderen. Vom Antisemitismus ganz zu schweigen.

Und es wird noch düsterer. Schon der Wahlkampf war durch die Themen der AfD geprägt. Am deutlichsten wurde das beim Fernsehduell zwischen den beiden Kanzlerkandidaten, bei dem etwa die Hälfte der Sendezeit über die Themen Flüchtlingspolitik und Islam diskutiert wurde. Durch die parlamentarischen Instrumente und die personellen wie finanziellen Ressourcen kann die AfD nun auf noch professionellerem Niveau weiterarbeiten.

So hat sie allerhand Möglichkeiten, den anderen Parteien Themen aufzudrücken. Die Regierungspolitik wird in Zukunft immer darauf bedacht sein, wie die AfD wohl reagieren wird. Der politische Einfluss der AfD ist mithin weit größer als ihr Stimmenanteil. Sie wird nicht nur für eine noch stärkere Verrohung des politischen Diskurses sorgen, sondern auch durch ihre bloße Anwesenheit die Politik der Bundesregierung beeinflussen. Viele einflussreiche Politiker der anderen Parteien werben bereits für Kurskorrekturen – nach rechts. Kommt es so, wird das der bislang größte Erfolg der AfD sein.

 

Deutschland rückt nach rechts

Am sichtbarsten ist das Gerangel um die zukünftige Politik in der Union. Bislang hat die Wahlsiegerin Angela Merkel nicht zu Sondierungsgesprächen eingeladen. Das liegt daran, dass in CDU und CSU heftig darum gerungen wird, wie weit nach rechts man rücken will. Vor den geplanten Gesprächen mit FDP und Grünen sondieren CDU und CSU erst einmal untereinander, obwohl die Schwesterparteien mit einem gemeinsamen Wahlprogramm angetreten waren. Die CSU hatte mit dem »Bayernplan« zusätzlich eine rechte Wunschliste formuliert. Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer sagte am Wahlabend, es habe eine »offene Flanke« auf der rechten Seite gegeben, die es zu schließen gelte. Gemeinsam mit anderen CSU-Spitzenfunktionären beharrte er auf der Verwirklichung des »Bayernplans«, dessen wichtigste Forderung die nach einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen ist. In einem Jahr findet in Bayern die Landtagswahl statt, die CSU-Führung muss aus den anstehenden Koalitionsverhandlungen Erfolge mit nach Hause bringen.

Zwar ist Merkel gegen eine Obergrenze, doch auch in der CDU werden Stimmen laut, die einen Rechtsruck der Partei fordern. Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich sagte: »Wir müssen umschalten, da hat Seehofer recht.« Er gab Merkels Flüchtlingspolitik die Schuld am Erfolg der AfD, die in Sachsen sogar vor der CDU stärkste Partei wurde. »Die Leute wollen, dass Deutschland Deutschland bleibt«, umriss er die Haltung der ehemaligen CDU-Stammwähler, die er zurückgewinnen will. Auch sein Amtskollege aus Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, sprang Seehofer zur Seite. Künftige Koalitionspartner müssten akzeptieren, dass es »Integrationsgrenzen« gebe. Auch eine Reihe von Abgeordneten, die in den rechtskonservativen Vereinigungen »Berliner Kreis« und »Werte-Union« organisiert sind, wirbt für eine »nachhaltige Kurskorrektur in der Asyl- und Migrantenpolitik« wegen des Erfolgs der AfD.

Die SPD, mit 20,5 Prozent der Stimmen nicht einmal doppelt so stark wie die AfD, hat angekündigt, in die Opposition zu gehen. Daher ist eine Koalition aus CDU, CSU, FDP und Grünen das derzeit einzige mögliche Regierungsbündnis. Je weiter die Union nach rechts rückt, desto schwieriger wird die Bildung einer solchen Koalition. Die FDP debattiert zwar schon öffentlich darüber, wie man sich bezüglich einer Obergrenze mit der CSU einigen könnte, doch bei den Grünen gilt diese Forderung als »absolutes No-Go«. Der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach, der dem Bundestag nicht mehr angehören wird, hält es angesichts dieser Gemengelage für ein »intellektuell anspruchsvolles Projekt«, gleichzeitig die rechte Flanke zu schließen und mit den Grünen zu koalieren. Was für die CSU die Obergrenze sei, das sei für die Grünen bestenfalls die Untergrenze, polemisierte der Konservative.

Allerdings gelten Neuwahlen als worst case-Szenario, da befürchtet wird, die AfD könnte gestärkt aus ihnen hervorgehen. Daher haben Union, FDP und Grüne Interesse an einem Verhandlungserfolg. Für die Grünen gilt das umso mehr, da sie bei Neuwahlen sogar an der Fünfprozenthürde scheitern könnten. Merkel, irgendwo zwischen Grünen und CSU, wird die Anforderung wohl meistern, sowohl die Rechten in den eigenen Reihen als auch die Grünen und die FDP zufriedenzustellen. Ohne den Erfolg der AfD wäre das unvorstellbar.

Die AfD auf der Oppositionsbank wird Merkels rechten Parteifreunden als Argument dienen. Auch Frauke Petry, die als Bundesvorsitzende der AfD in den Bundestag einzog und unmittelbar danach ihren Parteiaustritt erklärte, versucht, den Druck auf die CDU erhöhen. Sie will eine neue Partei rechts der CDU gründen, die das AfD-Programm vertritt und strategisch auf eine Koalition mit der Union hinarbeitet. Von einer Art »bundesweiter CSU« ist die Rede. Gelingt es Petry, 35 Abgeordnete von AfD, CSU oder CDU für sich zu gewinnen, kann sie eine neue Fraktion gründen. Dann gäbe es gleich zwei Fraktionen rechts der Union.

Doch auch wenn keine Abgeordneten die Unionsfraktion verlassen – die Modernisierung des Konservatismus ist bereits aufgehalten. Spätestens wenn die Ära Merkel dem Ende zugeht, wird es ernsthafte Debatten über eine rechte Koalition geben – ob mit der AfD oder einer Petry-Partei. Vereinzelt kooperieren CDU und AfD bereits in Landtagen, in denen beide der Opposition angehören. Da können anständige Deutsche so viele offene Briefe schreiben, wie sie wollen: Deutschland rückt nach rechts.