Rot-Rot-Grün will das Berliner Neutralitätsgesetz ändern und so Kopftücher bei Lehrerinnen zulassen

Klassenziel Kopftuch

Das Berliner Neutralitätsgesetz ist derzeit schwer umkämpft. Die Grünen wollen es ändern und Lehrerinnen an Berliner Schulen auch das Tragen des Kopftuchs gestatten. Eine Initiative wehrt sich gegen das Vorhaben, das auch der Kultursenator von der Linkspartei unterstützt.

Dass sich »nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein pauschales Verbot des Kopftuchs für Lehrerinnen nicht mehr halten lässt«, dieser Auffassung sind die Berliner Grünen. Auf ihrem Landesparteitag im ­Dezember beschlossen die Delegierten einstimmig einen Leitantrag zum Thema Integration, demzufolge das Berliner Neutralitätsgesetz im rot-rot-grün ­regierten Senat neu verhandelt werden soll.

Dem widerspricht die »Initiative Pro Berliner Neutralitätsgesetz«. Sie sammelt seit kurzem Unterschriften dafür, das Gesetz in seiner bisherigen Form beizubehalten. Neben prominenten Unterstützern aus Politik, Gewerkschaften und dem Bildungsbereich finden sich unter den Erstunterzeichnerinnen und –unterzeichnern zahlreiche Per­sonen aus muslimisch-reformorientierten, ex-muslimischen und islamismuskritischen Kreisen wie die Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, Susanne Schröter, der Psychologe Ahmad Mansour sowie die Frauenrechtlerinnen Seyran Ateş, ­Necla Kelek, Mina Ahadi und Güner Y. Balcı.

Zunehmend schrill nahmen sich zuletzt Verlautbarungen von Befürwortern einer Novellierung aus. Den expliziten Wunsch nach »Lehrerinnen mit Kopftuch an Berliner Schulen« verband die Sprecherin für Integration und ­Religionspolitik der Fraktion der Grünen im Abgeordnetenhaus, Bettina Jarasch, mit der Warnung vor einem »Kulturkampf um das Kopftuch«. Als »fundamentalistischen Laizismus« geißelte Volker Beck (Grüne), ehemaliger religionspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion, das Gesetz, dem er die »Verletzung der Religionsfreiheit« vorwirft. Während sich CDU und FDP eher zurückhaltend für den Status quo aussprechen, besteht in der Regierungskoalition aus SPD, Linkspartei und ­Grünen über den Sachverhalt ebenso Uneinigkeit wie in diesen Parteien selbst.

 

Im Februar 2017 sprach das Berliner Landesarbeitsgericht erstmals einer abgelehnten Grundschul­lehrerin in zweiter Instanz eine Entschädigungszahlung in Höhe zweier ­Monatsgehälter wegen Benachteiligung zu. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass wegen einer Lehrerin mit Kopftuch »keine konkrete ­Gefährdung des Schulfriedens« anzunehmen sei.

 

Das Berliner Neutralitätsgesetz verpflichtet Beamtinnen und Beamte in der Rechtspflege, im Justizvollzugs- und Polizeidienst sowie Lehrkräfte und ­Pädagogen an öffentlichen Schulen, während des Dienstes »keine sicht­baren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke« zu tragen. Damit soll die Neutralität des Staats sichtbar dort ­gewährleistet werden, wo dessen Bür­gerinnen und Bürger »in besonderer Weise dem staatlichen Einfluss unterworfen« sind, wie es in der Präambel heißt. Dies treffe gerade auf Kinder und Jugendliche und deren negative Religionsfreiheit in der Schule zu, also ihre Freiheit, keiner Religion anzuhängen, argumentieren Befürworter des ­Neutralitätsgesetzes, das seit 2005 in Kraft ist.

Verabschiedet hatte es der damals von SPD und PDS geführte Senat als Konsequenz aus dem ersten »Kopf­tuch­urteil« des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 2003. Der Klage der baden-württembergischen Lehramtsanwär­terin Fereshta Ludin auf Schuldienst mit Kopftuch hatte der Zweite Senat am BVerfG nicht entsprochen. Stattdessen hatte er in der Urteilsbegründung den Bundesländern die Aufgabe übertragen, den Umgang mit religiöser Kleidung und Symbolen im Schuldienst gesetzlich zu regeln. Ein präventiv ­wirkendes Verbot solcher Kleidung und Symbole war seither in Fällen einer »abstrakten Gefährdung« des Schulfriedens zulässig.

Im Februar 2017 sprach das Berliner Landesarbeitsgericht (LAG) jedoch erstmals einer abgelehnten Grundschul­lehrerin in zweiter Instanz eine Entschädigungszahlung in Höhe zweier ­Monatsgehälter wegen Benachteiligung zu. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass wegen einer Lehrerin mit Kopftuch »keine konkrete ­Gefährdung des Schulfriedens« anzunehmen sei.

 

Widersprüchliches Neben- und Gegeneinander im Senat

 

Damit bezog sich das LAG auf ein Urteil des BVerfG von 2015. Dessen Erster Senat hatte die Entscheidung einer Klage zweier muslimischer Lehrerinnen gegen das Schulgesetz in Nordrhein-Westfalen damit begründet, dass ein generelles Verbot religiös konnotierter Bekleidung und Symbole sich diskriminierend auswirken könne und nur im konkreten Fall der Gefährdung des Schulfriedens zulässig sei.

Seither gibt es Streit um die Verfassungsmäßigkeit des Berliner Neutra­litätsgesetzes. Das Land Berlin legte gegen die Entscheidung des LAG keine Rechtsmittel ein, sondern zahlte die Entschädigung. Im Senat herrscht ein widersprüchliches Neben- und Gegeneinander. So beauftragte die von der SPD geführte Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie Mitte 2017 die Rechtsanwältin Seyran Ateş, das Land Berlin gegen drei weitere Entschädigungsklagen kopftuchtragender ­Lehrerinnen zu verteidigen. Ateş, die als muslimische Reformerin das Kopftuch an Schulen ablehnt, kündigte an, nötigenfalls bis vor das Bundes­verfassungsgericht zu ziehen.

 

Schon vor dem Beschluss der Grünen waren Unmutsäußerungen wegen der möglichen Abschaffung des Gesetzes zu vernehmen – gerade angesichts islamistischer Einflüsse im Schulalltag.

 

Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) hingegen begrüßte das Urteil des LAG »als Anfang vom Ende des Neutralitätsgesetzes«, Kultursenator Klaus Lederer (»Die Linke«) unterstützt seinen Kollegen. Seinen Aussagen zufolge ist dem Neutralitätsgesetz seit 2015 »die Basis entzogen«, es wirke gar »integrationshemmend«.

In der Mehrzahl haben bislang muslimische Lehrerinnen wegen des Neu­tralitätsgesetzes geklagt. Walter Otte, Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft »Säkulare Grüne« und Mitgründer der »Initiative Pro Berliner Neutralitätsgesetz« widerspricht jedoch dem Vorwurf, muslimische Lehrerinnen würden durch das Gesetz mit einem Berufsverbot belegt. »Wenn das Neutralitätsgesetz ­verfassungskonform ist, und davon gehen wir nach unserem Gutachten aus, gilt es weiterhin und stellt keine Diskriminierung und Ungleichbehandlung dar, weil es gerade keinerlei religiöse Gruppe, ­Symbolik und Kleidung ausnimmt, sondern alle gleich behandelt«, sagt der Rechtsanwalt im ­Gespräch mit der Jungle World. »Lediglich eine sehr kleine, spezielle Gruppe, die schließt, Frauen müssten Kopftuch tragen, zeigt sich betroffen und versucht ihre Deutung für den Schuldienst durchzusetzen«. Von einer ­Diskriminierung »der Musliminnen« zu sprechen, hält Otte für einen ­»Propagandatrick sehr konservativ-­orthodoxer Einflüsse« und weltweit ­tätiger Strömungen wie der Muslimbruderschaft.

Gerhard Czermak hat das Rechtsgutachten für die »Initiative Pro Berliner Neutralitätsgesetz« verfasst und behandelt darin die zentralen Urteile des BVerfG, insbesondere das von 2015, auf das sich der Leitantrag der Berliner Grünen bezieht. Der Jurist mit Schwerpunkt Staatskirchenrecht kommt zu dem Schluss, dass das Berliner Neutralitätsgesetz nicht verfassungswidrig sei, da eine – im Fall sich widersprechender Senatsurteile des BVerfG erforderliche – Plenarentscheidung bislang aussteht. Das Urteil von 2015 sei ­daher für die Berliner Senatsverwaltung nicht bindend, das Neutralitätsgesetz weiterhin geltendes Recht.

Schon vor dem Beschluss der Grünen waren Unmutsäußerungen wegen der möglichen Abschaffung des Gesetzes zu vernehmen – gerade angesichts islamistischer Einflüsse im Schulalltag. Im ­April hatte der Berliner Grundschulverband in einem Appell den Berliner Senat davor gewarnt, das Neutralitätsgesetz zu ändern oder abzuschaffen und so das Ziel einer »weltoffenen, weltanschaulich und religiös neutralen, integrativen Schule« zu gefährden. Der Verband zeigte sich alarmiert von Problemberichten über religiös motivierte Konflikte an Schulen und vom Druck konservativer Moscheegemeinden auf Eltern und Mädchen, das Kopftuch zu tragen, sowie auf Schüler, religiöse Gebote einzuhalten. Er forderte deshalb, insbesondere integrierte und emanzipierte Lehrerinnen mit Migrationshintergrund zu fördern, da sie in ihrer Vorbildfunktion vor allem Schülerinnen dabei helfen könnten, sich von der »reaktionären Einflussnahme« durch »fundamentalistische Kräfte« zu emanzipieren.

Der Kampf um das Neutralitätsgesetz beschäftigt nicht nur die Grundschulen. Mitte Januar forderte die Vereinigung der Leitungen berufsbildender Schulen mit Verweis auf die negative Religionsfreiheit und die jugendliche Beeinflussbarkeit, die Gültigkeit des Neutralitätsgesetzes auf die Berufsschulen auszuweiten. Diese sind bislang davon ausgenommen.