Der Rechtsruck in Italien interessiert in Europa weniger als die Finanzlage des Landes

Der große Bluff

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Die Feindseligkeit gegen europäische Institutionen war und bleibt die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden Regierungsparteien, die den Euro im Wahlkampf erfolgreich als Projektionsfläche genutzt haben, um aus den Ängsten jenes Teils der Bevölkerung, der sich als Verlierer der Globalisierung wahrnimmt, Ressentiments gegen die europäischen »Eliten« zu schüren. Dass man damit Wahlen gewinnen kann, ist spätestens seit dem Votum für den britischen EU-Austritt klar. In dieser ­Hinsicht kann die Anti-Euro-Propaganda als großer Bluff bezeichnet werden – zu keinem Zeitpunkt wurde Austritt als realistische Option in Aussicht gestellt, vielmehr wurde damit agitiert, dass die Zeiten vorbei seien, in denen sich Italien dem Diktat aus den EU-Institutionen beugt. Die neuen starken Männer ­wollen »nach Europa gehen« und es dazu bringen, seine Politik zugunsten Italiens zu verändern.
Der sich immer aggressiver artikulierende Nationalismus der Lega wurde in der italienischen öffentlichen Debatte nach und nach normalisiert und gipfelte in die Parole, die Salvinis Wahlkampf viel mehr als das in diesen ­Tagen oft zitierte »Basta Euro« dominierte: »Prima gli italiani« (Italiener zuerst). Es war nie ein Geheimnis, dass Salvinis Priorität nicht der Austritt aus der Währungsgemeinschaft war, sondern hartes Durchgreifen gegen ­illegale Migranten.

Am Sonntag verkündete der neue Innenminister: »Migranten sage ich: Es ist vorbei mit dem Schlaraffenland. Bereitet euch vor, die Koffer zu packen.« Nur wenige Stunden zuvor war vor der türkischen Küste ein Schnellboot mit 15 Menschen an Bord gesunken, neun Menschen ertranken, darunter sechs Kinder. Am selben Tag waren bei einem weiteren Bootsunglück vor der tunesischen Küste mindestens 35 Menschen gestorben. Noch etwas war an diesem Tag passiert: Der 29jährige Sacko Soumayla aus Mali, der seit fünf Jahren in Italien lebte und sich gewerkschaftlich für bessere Arbeitsbedingungen für Migranten engagierte, war in Kalabrien von einem unbekannten Einheimischen mit einem Gewehr erschossen worden; angeblich sei er dabei gewesen, Metallplatten aus einer Werkstatt zu stehlen. Für keines dieser Ereignisse kann das Innenministerium direkt ­verantwortlich gemacht werden. Dass zunächst keiner der Regierungsver­treter dazu auch nur ein Wort verlor, ist bezeichnend dafür, welchen Stellenwert Menschenrechte, gerade für Migranten, haben.

Mit LGBT- und Frauenrechten sieht es kaum anders aus. Familienminister ­Lorenzo Fontana (Lega) stellte sich am Wochenende der breiten Öffentlichkeit mit gleich zwei Aussagen vor, die ­erahnen lassen, in welche Richtung der Wind künftig wehen wird. Über Regenbogenfamilien sagte er im Interview mit dem Corriere della Sera: »Sie existieren nicht.« Als Familienminister werde er sich dafür einsetzen, dass mehr Kinder geboren und weniger Abtreibungen vorgenommen werden.

Ministerpräsident Giuseppe Conte bekräftigte am Dienstagnachmittag in seiner Antrittsrede im Senat die Loyalität zu Europa, verkündete aber auch, seine Regierung werde sich für eine »Überprüfung« der Sanktionen gegen Russland einsetzen.
Der adrette und ständig lächelnde Di Maio bekommt in dieser Koalition zwar die Rolle des good cop, aber es ist zweifelhaft, ob er als Korrektiv für die Regression, die diese Regierung zum politischen Programm erhoben hat, fungieren wird (siehe Interview Seite 5).
Während Salvini »Italiener zuerst!« brüllt, spricht Di Maio in seinen Live-­Videos auf Facebook die cittadini, die Bürgerinnen und Bürger, an und beschwört unbestimmte Bilder von Erneuerung und Wandel. Wenn die Anhänger des M5S Plakate mit »Meine Stimme zählt« hochhalten, hetzt Salvini ­gegen Immigranten, Angela Merkel und Europa. Es zeigt sich bereits, welche Rhetorik die erfolgreichere ist. Die Umfragewerte der Lega stiegen in den ­vergangenen Woche um fast zehn Prozentpunkte.