Beim Filmfestival in Locarno wird eine Retrospektive Leo McCareys gezeigt

Die komischen Seiten der Scham

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Nachdem er sich als Jurist, Boxer, Kupferminenbetreiber und Songschreiber versucht hatte, begann McCarey seine Filmkarriere als Assistent von Regisseur Tod Browning. Für die Roach-Studios, wo er zunächst als Gagschreiber arbeitete, inszenierte er eine Reihe von Kurzfilmen – unter anderem mit Charley Chase – und schließlich auch Langfilme. Zu seinen bekanntesten Arbeiten aus den Anfangsjahren zählt der Stummfilm »Liberty« von 1929, in dem das auf Initiative von McCarey zusammengestellte Chaotenduo Stan und Ollie auf der Flucht vor der Polizei widerwillig – und mit vertauschten Hosen! – auf einem schwindelerregend hohen Baugerüst landet. Ein zuvor in Stans viel zu große Hose hineingerutschter Krebs sorgt dabei für eine hinreißende, sich über verschiedene Gefahrenlagen steigernde Körper­akrobatik.

Mit dem Aufkommen des Tonfilms avancierte McCarey zu einem der bekanntesten Screwball-Regisseure. In »Die schreckliche Wahrheit« von 1937, Inbegriff des vom amerikanischen Philosophen Stanley Cavell so klassifizierten Subgenres der »comedy of remarriage«, sabotieren Gary Grant und Irene Dunne als getrenntes Paar mit Sprachwitz und groteskem Rollenspiel gegenseitig ihre neuen Beziehungen, bis sie exakt fünf Minuten vor Inkrafttreten ihrer Scheidung wieder zusammenfinden. Der Film gilt auch als das eigentliche Debüt von Cary Grants Leinwandpersona, die von McCarey ganz entscheidend geformt wurde. Auch Irene Dunne brachte der Filmemacher zum Schillern. Zwei Jahre später spielte sie die Hauptrolle in »Ruhelose Liebe«, ein Melodram, das durch seinen fein dosierten Humor und sein erfrischend spontanes Spiel leicht bleibt. 1957 drehte McCarey unter dem Titel »Die große Liebe meines Lebens« ein etwas spießiges, wenngleich bekannteres Remake. Auch seine beiden Filme »Der Weg zum Glück« (1944) und »Die Glocken von St. Marien« (1945), beide mit Bing Crosby als singendem Pastor, waren Kassenerfolge. Dass der erste zum sentimentalen Rührstück abgleitet und der zweite durch die präzise Ausformulierung sozialer Interaktionen überzeugt – und das im Rahmen des »Nonnenfilms« –, deutet auf eine gewisse Qualitätsschwankung in McCareys Werk hin. Seine Position als Filmemacher der zweiten Reihe mag vielleicht damit zu tun haben – wie auch mit der Abwesenheit eines wieder­erkennbaren visuellen Stils.

McCareys beste Arbeiten haben dennoch einen gewissen »McCarey-Touch«. Musik spielt eine große Rolle, ebenso ein ungewöhnlich lebendiger, immer wieder auf Improvisation zurückgreifender Schauspielstil – in der gut geölten Hollywood-Maschinerie ein kleiner Systemausreißer. Als ein auteuristisches Element kann auch der Rückgriff auf autobiographische Erfahrungen gelten – etwa wenn Ingrid Bergman in »Die Glocken von St. Marien« als Schwester Mary Benedict einem Schüler das Boxen beibringt.

Von 1948 bis zu seinem Tod im Jahr 1969 drehte McCarey nur noch fünf Spielfilme. »My Son John« (1952) und »Satan Never Sleeps« (1962) ­haben einen schlechten Ruf. Als Hollywoods Beitrag zum McCarthyismus wird ihnen polternder Antikommunismus nachgesagt. Die Retrospektive wird zeigen, welche Widersprüche und Kontinuitäten sich im Gesamtwerk McCareys auftun, welche Lesarten sich bestätigen und welche sich revidieren lassen. Im Unterschied zur Berlinale, wo in den vergangenen Jahren die kanonisierte Filmgeschichte oftmals nur noch verwaltet wurde, stellt sich die Retrospektive in Locarno stärker als offenes Forschungsfeld dar, das man sich nicht zuletzt durch die kollektive Betrachtung gemeinsam erschließt. Es wäre schön, wenn dieser Ansatz zukünftig auch die Berlinale prägen würde.