Beim Filmfestival in Locarno wird eine Retrospektive Leo McCareys gezeigt

Die komischen Seiten der Scham

Auf dem noch bis zum 11. August stattfindenden Filmfestival in Locarno wird eine Retrospektive des Regisseurs Leo McCarey gezeigt. Der zu Unrecht vergessene Filmemacher brachte einige der schönsten und traurigsten Werke des klassischen Hollywoodkinos hervor.

Im Jahr 1937 verband Leo McCarey auf eigenwillige Weise das Genre des Sozial- und Generationsdramas mit einer Liebesgeschichte um ein altes Ehepaar – Jahrzehnte bevor der trutschige »Seniorenfilm« ein Marktsegment wurde. Die Rede ist von »Kein Platz für Eltern«. Er handelt von den Eheleuten Barkley (Victor Moore) und Lucy Cooper (Beulah Bondi), die während der Großen Depression zuerst ihre Arbeit und dann ihr Haus verlieren. Keines ihrer fünf Kinder hat Platz oder ist tolerant genug, um beide Elternteile aufzunehmen. So kommt es, dass Lucy und Barkley an verschiedenen, weit auseinander liegenden Orten wohnen: sie bei ihrem Sohn George, er bei Tochter Cora. Bevor die Mutter am Ende ins Altersheim abgeschoben und der Vater zur Tausende Kilometer entfernt lebenden Tochter nach Kalifornien verfrachtet wird, verbringen Lucy und Barkley noch ein letztes Mal ein paar gemeinsame Stunden, bevor sie sich für immer trennen. Beim Spaziergang durch New York kommen sie zufällig an dem Hotel vorbei, in dem sie 50 Jahre zuvor ihre Flitterwochen verbracht hatten. Dort empfängt man sie mit einer Großzügigkeit und Rücksichtnahme, die ihre eigenen Kinder missen lassen.

McCarey gelingt das Kunststück, diese so anrührende wie erschütternde Geschichte ganz ohne Sentimentalität zu erzählen. Zudem kommt sein komödiantisches Feingefühl, das er sich durch seine Lehrjahre in den Hal-Roach-Studios angeeignet hatte – der Produktionsstätte für Laurel and Hardy, Harold Lloyd und Charley Chase –, immer wieder durch, etwa wenn er dem Gefühl der Scham komische Seiten abzugewinnen vermag. In einer der unvergesslichen Szenen des Films – und einem Beispiel für McCareys außergewöhnliches Gespür für die Modulation von Stimmungen – versucht Georges Ehefrau, die in ihrer Wohnung für ein wenig Extrageld einen Bridge-Kurs veranstaltet, ihre Schwiegermutter diplomatisch aus dem Weg zu schaffen. Nachdem Lucy von ihrem unter falschem Vorwand eingefädelten Kinobesuch zurückgekehrt ist, setzt sie sich zu den Gästen ins Wohnzimmer, wo ihre Anwesenheit höflich erduldet wird, aber fühlbar unerwünscht ist. Lucy spürt das Unbehagen, was sie aber nicht davon abhält, die Gesellschaft mit ihren Anekdoten und dem ständigen Wippen ihres quietschenden Schaukelstuhls zu nerven. Schließlich wird die Gesellschaft auch noch beschämte Zeugin eines tieftraurigen Telefonats, das Lucy mit ihrem Mann führt. Die Situationskomik weicht und schafft Platz für das Drama.

Das Locarno-Festival widmet sich mit McCarey erneut einem Protagonisten des US-amerikanischen Kinos, der im Studiosystem Hollywoods gleichsam Handwerker sowie Autor war.

Filme wie »Kein Platz für Eltern« lassen sich nun im Rahmen der von Roberto Turigliatto kuratierten Retrospektive auf dem 71. Locarno-Festival wieder entdecken. Nach der letztjährigen Reihe über Jacques Tourneur widmet sich das Festival unter der Leitung des designierten Berlinale-Leiters Carlo Chatrian erneut einem Protagonisten des US-amerikanischen Kinos, der im Studiosystem Hollywoods gleichermaßen filmischer Handwerker und Autor war. McCareys Filmographie verzeichnet über 100 Regie- und Autorencredits, drei Oscars und 36 Nominierungen. Doch obwohl er seinerzeit zu den wichtigsten Regisseuren Hollywoods gehörte und viele seiner Werke kommerzielle Erfolge waren, ist sein Name heute nahezu unbekannt, während Filmemacher wie Howard Hawks und Frank Capra schon in den fünfziger Jahren durch die von der Zeitschrift Cahiers du cinéma propagierte politique des auteurs aufgewertet wurden. Tatsächlich wurde McCareys Werk nur unzureichend bearbeitet – viele seiner Filme sind bis heute nicht einmal auf DVD veröffentlicht worden, Monographien gibt es nur wenige.

 

Nachdem er sich als Jurist, Boxer, Kupferminenbetreiber und Songschreiber versucht hatte, begann McCarey seine Filmkarriere als Assistent von Regisseur Tod Browning. Für die Roach-Studios, wo er zunächst als Gagschreiber arbeitete, inszenierte er eine Reihe von Kurzfilmen – unter anderem mit Charley Chase – und schließlich auch Langfilme. Zu seinen bekanntesten Arbeiten aus den Anfangsjahren zählt der Stummfilm »Liberty« von 1929, in dem das auf Initiative von McCarey zusammengestellte Chaotenduo Stan und Ollie auf der Flucht vor der Polizei widerwillig – und mit vertauschten Hosen! – auf einem schwindelerregend hohen Baugerüst landet. Ein zuvor in Stans viel zu große Hose hineingerutschter Krebs sorgt dabei für eine hinreißende, sich über verschiedene Gefahrenlagen steigernde Körper­akrobatik.

Mit dem Aufkommen des Tonfilms avancierte McCarey zu einem der bekanntesten Screwball-Regisseure. In »Die schreckliche Wahrheit« von 1937, Inbegriff des vom amerikanischen Philosophen Stanley Cavell so klassifizierten Subgenres der »comedy of remarriage«, sabotieren Gary Grant und Irene Dunne als getrenntes Paar mit Sprachwitz und groteskem Rollenspiel gegenseitig ihre neuen Beziehungen, bis sie exakt fünf Minuten vor Inkrafttreten ihrer Scheidung wieder zusammenfinden. Der Film gilt auch als das eigentliche Debüt von Cary Grants Leinwandpersona, die von McCarey ganz entscheidend geformt wurde. Auch Irene Dunne brachte der Filmemacher zum Schillern. Zwei Jahre später spielte sie die Hauptrolle in »Ruhelose Liebe«, ein Melodram, das durch seinen fein dosierten Humor und sein erfrischend spontanes Spiel leicht bleibt. 1957 drehte McCarey unter dem Titel »Die große Liebe meines Lebens« ein etwas spießiges, wenngleich bekannteres Remake. Auch seine beiden Filme »Der Weg zum Glück« (1944) und »Die Glocken von St. Marien« (1945), beide mit Bing Crosby als singendem Pastor, waren Kassenerfolge. Dass der erste zum sentimentalen Rührstück abgleitet und der zweite durch die präzise Ausformulierung sozialer Interaktionen überzeugt – und das im Rahmen des »Nonnenfilms« –, deutet auf eine gewisse Qualitätsschwankung in McCareys Werk hin. Seine Position als Filmemacher der zweiten Reihe mag vielleicht damit zu tun haben – wie auch mit der Abwesenheit eines wieder­erkennbaren visuellen Stils.

McCareys beste Arbeiten haben dennoch einen gewissen »McCarey-Touch«. Musik spielt eine große Rolle, ebenso ein ungewöhnlich lebendiger, immer wieder auf Improvisation zurückgreifender Schauspielstil – in der gut geölten Hollywood-Maschinerie ein kleiner Systemausreißer. Als ein auteuristisches Element kann auch der Rückgriff auf autobiographische Erfahrungen gelten – etwa wenn Ingrid Bergman in »Die Glocken von St. Marien« als Schwester Mary Benedict einem Schüler das Boxen beibringt.

Von 1948 bis zu seinem Tod im Jahr 1969 drehte McCarey nur noch fünf Spielfilme. »My Son John« (1952) und »Satan Never Sleeps« (1962) ­haben einen schlechten Ruf. Als Hollywoods Beitrag zum McCarthyismus wird ihnen polternder Antikommunismus nachgesagt. Die Retrospektive wird zeigen, welche Widersprüche und Kontinuitäten sich im Gesamtwerk McCareys auftun, welche Lesarten sich bestätigen und welche sich revidieren lassen. Im Unterschied zur Berlinale, wo in den vergangenen Jahren die kanonisierte Filmgeschichte oftmals nur noch verwaltet wurde, stellt sich die Retrospektive in Locarno stärker als offenes Forschungsfeld dar, das man sich nicht zuletzt durch die kollektive Betrachtung gemeinsam erschließt. Es wäre schön, wenn dieser Ansatz zukünftig auch die Berlinale prägen würde.