Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan laviert sich durch die Krise

Erdoğans kleines Reich

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Der neue Sultan ist sogar dabei, einen wenn auch bescheidenen Teil des einstigen osmanischen Imperiums wieder unter türkische Kontrolle zu bringen. Erst eroberte die türkische Armee in Syrien Jarabulus und al-Bab, dann Afrin. Außerdem haben Russland und der Iran der Türkei die Aufgabe übertragen, die Einhaltung des Waffenstillstands in der sogenannten Deeskalationszone um Idlib zu kontrollieren. Der syrische Diktator Bashar al-Assad nutzte die Ruhe dort, um den Widerstand gegen sein Regime an anderen Orten zu brechen. Damit ist er nun fertig und möchte mit Idlib fortfahren, einer der letzten Regionen, die das syrische Regime noch nicht wieder kontrolliert und in die viele Menschen aus anderen umkämpften Gebieten Syriens geflohen sind. Am Wochenende starben bei Luftangriffen im Süden Idlibs bereits Dutzende Menschen.

Doch im weitgehend von islamistischen Rebellengruppen kontrollierten Idlib stehen nun türkische Vorposten. Erdoğan strebt die Errichtung eines Protektorats an, das politisch, ökonomisch und militärisch völlig von der Türkei abhängig wäre. Die jüngsten Bemühungen der Türkei um bessere Beziehungen zu Frankreich und Deutschland zielen vermutlich darauf, Unterstützung für diese Pläne zu bekommen. Idlib, Afrin und al-Bab könnten zur Flüchtlingsaufnahme angeboten werden, wofür Erdoğan auf politische wie finanzielle Hilfe rechnen könnte. Ein kleines neoosmanisches Reich entsteht und orientiert sich nach Russland und China.

Der Präsident sei umgeben von Menschen, die ihm nach dem Mund reden, meint sein ehemaliger Generalsekretär Mehmet Fırat. Wohl nur so ist zu verstehen, warum Erdoğan den Streit um Brunson eskalieren ließ. Es war der Punkt, an dem er Republikaner und Demokraten in den USA gegen sich vereinte. Dabei steht der eigentliche Konflikt mit der US-Regierung erst noch an. Es geht um die Weigerung der Türkei, die Iran-Sanktionen der USA mitzutragen (siehe der Artikel von Jörn Schulz). Dafür gibt es nicht nur ökonomische Gründe. Wenn sich die Türkei prominent gegen die Sanktionen ausspricht, würde das iranische Regime Assad höchstwahrscheinlich nicht bei militärischen Aktionen gegen Idlib unterstützen.

Erdoğan hat die Auswirkungen der Brunson-Affäre wohl unterschätzt, nun fallen ihm als Erklärung wieder einmal Verschwörungstheorien ein. Trump sei durch ein Komplott getäuscht worden. »Brunson wurde von Zionisten und Evangelisten als eine Waffe gegen Erdoğan gebraucht«, berichtete etwa die regierungsnahe Tageszeitung Akşam. Erdoğan selbst hatte im Streit um den inhaftierten Pastor den USA eine »evangelikale, zionistische Mentalität« vorgeworfen. Um ihr Gesicht zu wahren, wird die Türkei den Pastor nun kaum vor dessen nächstem Verhandlungstag am 14. Oktober freilassen. Die USA fordern mittlerweile die Freilassung 15 weiterer Personen.

Es werde keinen Bankrott geben, prophezeite Erdoğan. Er warnte türkische Firmen davor, jetzt Konkurs anzumelden, und rief seinen Anhängern zu: »Wenn sie Dollars haben, dann haben wir unseren Allah!« Falls weder Allah noch China der Türkei hilft, wird die Krise sehr hart.

Angesichts seiner früheren Erfolge hat Erdoğan den Blick für die Realität verloren, dazu gehören die Macht der USA, der Zustand der türkischen Wirtschaft und die Gefahr, noch weiter in den syrischen Bürgerkrieg verstrickt zu werden. Das muss nicht heißen, dass er daran scheitern wird. Abdüllatif Şener, Erdoğans einstiger Wegbegleiter und Stellvertreter im ersten Kabinett, der später zur Republikanischen Volkspartei (CHP) wechselte, hat dazu eine klare Meinung: Nur Demokraten müssen Krisen fürchten, Diktatoren freuen sich darüber. In der Krise könnte Erdoğan seine Anhänger noch besser um sich scharen. Nur wenn die Krise länger anhält, dürfte auch Erdo­ğans Ruf leiden.