Klaus Gietinger, Filmemacher und Soziologe, im Gespräch über die Novemberrevolution und sein Buch »November 1918 – Der verpasste Frühling Europas«

»Sie wollten mehr«

Seite 2
Interview Von

Heißt das, dass die Revolutionäre in den entscheidenden Momenten zu puristisch, zu wenig realpolitisch waren?
Es wäre vor allem auf die Arbeiter- und Soldatenräte angekommen. Die bestanden übrigens zumeist aus Mitgliedern der SPD. Die haben zwar die ­Nationalversammlung abgesegnet und damit letztlich zugestimmt, die Macht wieder an eine repräsentative Demokratie abzugeben. Wenn aber alle ­Beschlüsse des Reichsrätekongresses befolgt worden wären, ­wären zwei Gruppen entmachtet worden, die entscheidend waren für den Weg in den ­Faschismus: das Militär und die Großindustrie. Das wäre damals noch möglich gewesen. Das Militär hatte sich noch nicht reorganisiert, die Macht lag auf der Straße. Die Entstehung der Freikorps hätte verhindert werden können. Und die Sozialisierung hätte durchgesetzt werden können, also eine echte Demokratie in der Produktion durch Betriebsräte mit echter Macht, nicht so, wie sie dann letztlich in der Weimarer Reichsverfassung ­zugelassen wurden, als vergleichsweise zahnlose Institutionen.

War diese Verfassung nicht doch recht fortschrittlich?
Ich finde, sie wird völlig überschätzt. Der Weimarer Reichsverfassung merkt man an, dass ihre Verfasser der Volkssouveränität misstrauten – auch in ihrer beschränkten Form als parlamentarische Demokratie. Die Verfassung war letztlich autoritär. Sie konnte durch einfache Gesetze geändert werden. Das Parlament bekam keine dauernde ­politische Macht und die Räte bekamen keinen wirtschaftlichen Einfluss. Max Webers Einfluss ist es zu verdanken, dass der Reichspräsident eine Machtfülle erhielt, die nicht einmal der ­Kaiser gehabt hatte. Wann immer der Reichspräsident die öffentliche Ordnung »erheblich gestört« sah, konnte er mit dem Notstandsrecht des Artikels 48 Grundrechte einschränken und das Militär im Inneren einsetzen. ­Gegen diesen entscheidenden Konstruktionsfehler gab es auch bei der SPD keinen Widerstand. Oskar Cohn von der USPD warnte schon 1919 davor, dass ein Herr »von den Deutschnationalen« oder »ein Trabant der Hohenzollern, vielleicht ein General« als Reichspräsident die ihm gegebene Macht missbrauchen könne. Er sollte recht behalten. Ab 1925 regierte Hindenburg, der 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannte.

Schon 1919 war die Rache des Militärs fürchterlich. Hunderte wurden ermordet, und zwar nicht, wie oft fälschlich behauptet, standrechtlich, sondern völlig außerrechtlich. Was hatte das für einen Effekt?
Die entscheidenden Anführer der Linken wurden ausgeschaltet, das muss man ganz klar sagen. Viele wichtige Leute wurden umgebracht, nicht nur ­Luxemburg und Liebknecht. Leo Jogiches und der Kommandeur der Volksmarinedivision, Heinrich Dorrenbach, wurden ermordet. Aber auch insgesamt waren dieses Januar- und März-Kämpfe traumatisch. Der Hass auf Ebert und Noske war dadurch groß und die Spaltung der Arbeiterparteien wurde zementiert. Das spiegelt sich auch in den Wahlergebnissen. Im Januar 1919 bei der Wahl zur Nationalversammlung vertraute die Arbeiterschaft noch weitgehend der SPD, sie bekam knapp 38 Prozent der Stimmen, die USPD 7,6 Prozent. Zusammen fast 46 Prozent. Bei der Reichstagswahl im Folgejahr bekommt die SPD die Quittung: nur noch knapp 22 Prozent, während die USPD 17,6 und die KPD etwas mehr als zwei Prozent der Stimmen erhielten. In den kommenden Jahren löste sich die USPD praktisch auf, ein Großteil der Mitglieder ging zur KPD, die sich stetig autoritärer ausrichtete und bei den folgenden Reichstagswahlen nie auch nur das Wahlergebnis der USPD von 1920 erreichte. Die SPD wiederum hat nie wieder ein Wahlergebnis wie 1919 eingefahren, sie schwankte zwischen knapp 30 Prozent in den stabileren Jahren der Republik und gerade einmal 20 Prozent im Jahr 1932.

Gab es nicht noch einen weiteren Moment, in dem die Arbeiterschaft entscheidend war, nämlich beim Kapp-Putsch im März 1920?
Die Situation ist eigentlich noch ungeheuerlicher. Es kam zu einem rechten Militärputsch gegen die Regierung Ebert. Die nicht am Putsch beteiligten Militärs ließen die Regierung im Stich. Nur ein Generalstreik rettete noch einmal die Republik – und dann ließen die eben noch durch den Streik geretteten Ebert und Noske zu, dass das Militär blutige Rache an den Arbeitern nahm. Wieder fielen mehr als Tausend Menschen dem Terror zum Opfer.

»Viele wichtige Leute wurden umgebracht, nicht nur Luxemburg und Liebknecht. Leo Jogiches und der Kommandeur der Volksmarine­division, Heinrich Dorrenbach, wurden ermordet.«

Wurde hier die Arbeiterschaft politisch gebrochen?
Ja, auf jeden Fall. Das Verrückte ist ja, durch den Generalstreik, den Noske und Ebert noch im letzten Moment ausriefen, bevor sie Hals über Kopf aus Berlin flüchteten, wurde ihre Regierung gerettet. Sie flüchteten nach Dresden, wo General Ludwig Maercker saß. Er sagte ihnen, also der gewählten, vor putschenden Militärs flüchtenden Regierung, er müsse sie eigentlich festnehmen, ließ sie aber laufen. Die Regierung flüchtete nach Stuttgart, wo aber auch schon die Offiziere sich abgesprochen hatten – die Mehrheit war für Kapp. Nur weil Ebert und Noske den Offizieren weismachten, sie hätten den Generalstreik gar nicht ausgerufen, stellten sich wieder Teile des Militärs auf ihre Seite. Am Ende hat die Regierung sogar die Truppen, die gegen sie geputscht hatten, gegen die Arbeiter eingesetzt, die sich im Ruhrgebiet erhoben hatten, also gegen die sogenannte Rote Ruhrarmee. Auch die Gewerkschaftsführung hat in diesem ­Zusammenhang total versagt. Der Gewerkschaftsfunktionär Carl Legien war zwar auch ein Rechter, aber zumindest hat er eine Weile lang gesagt, ­diejenigen, die in der SPD für diese Verbrechen verantwortlich waren, müssten zurücktreten. Die USPD hat auch wieder nicht mitgemacht, auch die wäre eigentlich in dem Moment ­gefragt gewesen. Auch da gab es noch die Chance, eine Arbeiterregierung zu bilden, nur zu diesem Zeitpunkt hätte nicht nur Noske, sondern auch Ebert den Hut nehmen müssen.

War Ebert eine der historisch folgenreichsten Fehlbesetzungen für den weiteren Verlauf der Geschichte?
Auf jeden Fall war seine Rolle entscheidend. Sie erwähnten bereits Sebastian Haffner. In einem seiner letzten Interviews hat er gesagt, er bereue es zutiefst, dass er in jenem Fragebogen, den er auch einmal ausfüllen musste, auf die Frage, wer sind die verachtenswertesten Gestalten der Geschichte, nicht gesagt habe, »Noske und Ebert«. Und Haffner war ja nun eigentlich eher ein liberaler Konservativer.

100 Jahre ist die Revolution nun her. Was bedeutet dieser »verpasste Frühling« für die Gegenwart?
Wir haben gegenwärtig eine neue Massenbewegung, aber nach rechts. Es droht eine Art Faschismus. Die SPD ist am Verschwinden und bei aller Kritik sage ich das mit großem Bedauern. Denn ohne sie wird es schwer sein, zu verhindern, dass diese Kräfte auf parlamentarischem Weg an die Macht kommen. Ich kann mir aber kaum vor­stellen, dass es die SPD in zehn Jahren noch gibt. Diese Partei hat sich eigentlich immer selbst kaputt geschossen. Von Eigentoren zu sprechen, ist noch recht freundlich ausgedrückt. Das ist die Parallele: 1918 hat sie, als sie alle ihre alten Ziele hätte erreichen können, durch die Komplizenschaft mit dem Militär der eigenen Legitimität schweren Schaden zugefügt. Nun hat die ­Partei sich durch die »Agenda 2010« und die sogenannten Hartz-Reformen ins Abseits geschossen. Sie hat nichts aus ihrer Geschichte gelernt. Das ist tragisch.

 

 

Am Freitag, 9. November, wird Klaus Gietinger in der Berliner »Galeria Olga Benario«, Richardstraße 104, sein Buch vorstellen. Beginn: 19 Uhr