22.11.2018
Ein Plädoyer für radikale ­Religionskritik

Gender Trouble der Islamkritik

Feminismus kann zur Befreiung aller Menschen nur beitragen, wenn er mit den Werkzeugen der materialistischen Gesellschaftstheorie arbeitet und radikale Religionskritik betreibt. Diese darf nicht gegen einen reaktionären Kulturalismus eingetauscht werden.

Wenn »Islamkritik«, wie sie in bürgerlichen und linken Kreisen geübt wird, sich mit der Geschlechterfrage im Islam befasst, geschieht das mal mehr, mal weniger kritisch. Auf der einen Seite leistet etwa die Ex-Muslimin Mina Ahadi unermüdlich Aufklärungsarbeit über und gegen das muslimische Patriarchat und steht deshalb unter Polizeischutz. Auf der anderen Seite gibt es unter den Queerfeministinnen Islamverteidigerinnen wie die Gender-Forscherin Lana Sirri, Autorin des Buches »Einführung in islamische Feminismen« oder Linda Sarsour, Mitinitiatorin der »Women’s March on Washington«, die sich unter anderem als »sehr überzeugte Anhängerin« der antiisraelischen Boykottkampagne BDS bezeichnet. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung, die den »Women’s March« für ihren Menschenrechtspreis auserkoren hatte, sah sich Anfang November aufgrund vehementer Kritik an Sarsours Antisemitismus gezwungen, die Vergabe des Preises abzu­sagen.

Sirri verteidigt den Islam als eigentlich grundfeministisch, es gebe doch starke Frauenfiguren im Koran, so ihr Argument. Der Koran bietet jedoch genau jenes Rüstzeug, mit dem unter anderem der »Islamische Staat« Sexsklaverei und Vergewaltigungen ebenso legitimiert wie die Bedeckung des weiblichen Körpers schon von klein auf, da er erregend wirken könnte. Nicht nur findet so eine Sexualisierung von Minderjährigen statt, gleichzeitig erfahren Mädchen, dass ihr Körper ­verhüllt werden muss, um ihn vor männlicher Gewalt zu schützen. Dies impliziert auch ein ausgesprochen reaktionäres Männerbild, denn unterstellt wird, ein Mann könne sich nicht zurückhalten, wenn er einen Hals sieht.

All jene, die versuchen, einen widerspruchsfreien, pseudo­feministischen »Wohlfühl­islam« zu entwickeln, agieren als Doppelagentinnen des Patriarchats.

In den meisten anderen Religionen wird die männliche Vorherrschaft vorgeschrieben oder als selbstverständlich vorausgesetzt, doch ist der Islam die einzige, bei der diese Vorherrschaft durch den politischen Islam auch öffentlich durchgesetzt wird – mittels Fatwas, der Sharia und des Zwangskollektivs der Umma. Dies liegt Ahadi zufolge daran, dass im Islam bisher noch kein Reformprozess stattgefunden hat und eine Säkularisierung muslimischer Gesellschaften auch durch den »arabischen Frühling« nicht durch­gesetzt werden konnte. Auch liberale Muslime wie etwa der aus Algerien stammende schwule Imam Ludovic-Mohamed Zahed sehen sich Attacken ihrer reaktionären Glaubensgeschwister ausgesetzt.

Zwar lässt der Koran auch Interpretationsspielraum zu, den Zahed oder die Imamin Seyran Ateş für sich ausnutzen, um unter Bezugnahme auf ihre Religion Freiheiten und Rechte zu reklamieren, aber in der realpolitischen Auslegung, die für den Großteil der Muslime weltweit bestimmend ist, zählt weniger das geschriebene Wort als das der Imame und Mullahs. Auch obliegt die Rechtssprechung ausschließlich Männern.

Die Kritik an der Frauenfeindlichkeit im Islam ist für erstaunlich viele Männer eines der Hauptargumente gegen diese Religion. Diese Kritik erhält jedoch einen faden Beigeschmack, wenn man sich anschaut, wie viele männliche Kritiker des muslimischen Frauenbilds die Emanzipation im Westen betrachten. Die »Me Too«-Kampagne wurde in diesem Zusammenhang von manchen »Islamkritikern« als Geplärre aufmerksamkeitsheischender Hysterikerinnen abgetan. Als westliche Frau solle man sich bitte doch nicht so anstellen sollen, denn Frauen in Saudi-Arabien hätten es doch um einiges schlechter. Man könnte fast meinen, dass es diesen Antifeministen weniger um die Befreiung der Frau geht und sie die religiöse Unterdrückung für ihre Konstruktion des Muslims als »Anderen« instrumentalisieren, jedoch nicht wirklich problematisch finden.

So dienen etwa die Frauen, die im Iran gegen den Kopftuchzwang protestiert, als adäquate Projektionsfläche. Sie sind weit weg, sie kann man zu Vorkämpferinnen für Frauenrechte stilisieren, um sich nicht mit der eigenen Misogynie befassen zu müssen. Es sind häufig Männer, die die iranische Aktivistin Vida Movahed als Facebook-Profilbild verwenden, die Feministinnen erklären, in Deutschland gehe es Frauen objektiv um einiges besser als im Iran – also wozu das ganze Theater?

Selbst einige Anhänger der Kritischen Theorie schaffen es, gleichzeitig die Frauenbefreiung im Islam hoch­zuhalten, während sie sich in frauenfeindliche Hasstiraden über Feministinnen aus den eigenen Reihen ergehen. Das mag daran liegen, dass eine iranische Feministin sie nicht permanent an die eigenen Unzulänglichkeiten erinnert, wenn es um die Geschlechterfrage geht.

Jemand, der im Privatleben und öffentlich den Feminismus, die Befreiung von Frauen auch von den patriarchalen Strukturen im Westen ablehnt, kann es mit der radikalen ­Befreiung der Frau auch im Islam nicht ernst meinen und verkennt, dass Reli­gionskritik im Allgemeinen und Islamkritik im Besonderen immer feministisch sein muss. Der Kampf um die Befreiung hört nicht mit dem Ablegen des Kopftuches auf, sondern beginnt erst.

Feminismus kann als Mittel zur allumfassenden Befreiung jedoch nur funktionieren, wenn er mit den Werkzeugen der materialistischen Gesellschaftstheorie arbeitet und radikale Religionskritik betreibt. Religion ist ein im politischen Islam gewalttätig forcierter Verblendungszusammenhang, der als solcher erkannt und kritisiert werden muss. Marx sprach der Religion ein dialektisches Potential zu. Einerseits ist sie Ideologie und Verblendung; die Gläubigen trösten sich über ihr Elend im Diesseits hinweg, indem sie auf das Glück im Jenseits hoffen. Andererseits impliziert dies, dass die herrschenden Verhältnisse keineswegs die bestmöglichen sind – eine Erkenntnis, die im besten Fall einen Willen zum Umsturz gebiert. Während Christentum und Judentum ihre Jenseitsvorstellungen eher vage gestalten, ist das Jenseits im Islam eine Männerphantasie mit Jungfrauen, denen nach dem Sex immer wieder das Hymen zuwächst. Das Schicksal von Frauen im Paradies wird nicht geschildert. Nicht einmal im Jenseits wird Frauen eine Erlösung vom Patriarchat angeboten, das sie auch im Diesseits von klein auf unterdrückt.

Wenn es um Religionskritik geht, stehen viele Feministinnen, vor allem wenn sie aus dem queeren und »Critical Whiteness«-Umfeld kommen, oft erstaunlich sprachlos da. In der Islamkritik tun sie sich aufgrund eines falsch verstandenen Antirassismus sowie einer oft voreiligen Solidarität mit Mar­ginalisierten oft schwer. Aus dieser übertriebenen Besorgnis heraus kritisierte beispielsweise die Bildungsstätte Anne Frank das Kopftuchverbot an einer hessischen Grundschule. Diese Kritik ignoriert, dass das Kopftuch ein ­religiöses Zwangsinstrument ist und sich Minderjährige dem ihnen so okt­royierten, im Stoff versinnbildlichten Verblendungszusammenhang nicht verweigern können, da das Kopftuch als eine gottgegebene Notwendigkeit dargestellt wird.

Man sollte sich nicht von der Dummheit derjenigen, die Frauen wegen des Tragens eines Kopftuches antimuslimisch beleidigen, selbst dumm machen lassen. Stattdessen gilt es, Aufklärungsarbeit zu leisten  – eine Aufgabe, der die Bildungsstätte ansonsten souverän nachgeht – sowohl über und ­gegen die muslimischen, als auch die westlichen Herrschaftsvorstellungen.

Religion ist nun einmal in all ihren hegemonialen Ausrichtungen von Grund auf patriarchal. Gerade das Tragen eines Kopftuchs zum »Empowerment« zu verklären, während so viele Musliminnen darunter leiden und ­gegen diesen Zwang auf die Straße gehen, ist nichts anderes als ein Appeasement mit religiös begründeter männlicher Gewalt.

Während auf dem Herrensofa der Islamkritik die Unterdrückung der Frau im Westen eine eher marginale Rolle spielt, bemühen sich Vertreterinnen des Queerfeminismus fleißig, die Unterdrückung der Frau im Islam herunterzuspielen. So sucht die Berliner Wissenschaftlerin Daniela Hrzán nach »anderen Erzählungen« und einer »kritischen Weißen feministischen Perspektive« auf die weibliche Genitalverstümmelung, die sie »Female Genital Cutting« (FGC) nennt. »Verstümmelung« würde suggerieren, dass es sich um einen patriarchalen Gewaltakt am weiblichen Leib handele, dabei sei alles doch schützenswerte Kultur. Sarsour, die seit ihrem 17. Lebensjahr in einer arrangierten Ehe lebt, findet die Zwangsheirat gar nicht so schlimm. Aus ihr, erzählt sie freimütig, hätte es schließlich eine stärkere Kämpferin gemacht.

Dies wird weltweit von jungen Frauen rezipiert. Und das Kopftuch wird etwa im Missy Magazine oder auf Bento zum rebellischen Akt selbstbewusster junger Frauen verklärt.

Dies liegt daran, dass sie den marxistischen Anspruch an objektive, uni­versale Freiheit – die eben nicht die universale Freiheit des Mannes, sondern die aller Menschen ist – gegen einen reaktionären Kulturalismus eintauschen. Sarsour, Sirri und all jene, die im Rahmen der herrschenden Lesarten versuchen, einen widerspruchsfreien, pseudofeministischen »Wohlfühlislam« zu entwickeln, agieren als Doppelagentinnen des Patriarchats.

Ein Islam, der nicht mehr als politische Ideologie funktioniert, sondern als Religion, die Widersprüche zulässt, anstatt sie zu bestrafen, wäre jedoch nur der Anfang. Pragmatisch ist eine liberale Koranauslegung natürlich zu unterstützen, jedoch sollte man es nicht dabei belassen. Eine Reform und Säkularisierung, falls diese überhaupt möglich ist, wäre nur ein Schritt auf dem Weg, die Religion zu überwinden. Und Freiheit von der Religion ist für die Freiheit aller Menschen unerlässlich.