Das Buch »Das Risiko und sein Preis – Skin in the Game« von Nassim Nicholas Taleb

Riskiere deine Haut

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Ein Beispiel: Wenn in Deutschland bei Meetings in global agierenden Unternehmen eine Person im Raum ist, die kein Deutsch spricht, wird das gesamte Meeting auf Englisch abgehalten, »von jener Sorte ungehobeltem Englisch, das in Unternehmen weltweit im Gebrauch ist. Auf diese Art können sich die Veranstalter sowohl gegen ihre teutonischen Vorfahren als auch gegen die englische Sprache versündigen.« Auf diese Weise vermögen Minderheiten, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung nur wenige Prozent ausmachen, dem Rest ihre Ernährungsgewohnheiten aufdrängen. Tatsächlich haben sich viele Kantinen und Restaurants dazu verpflichtet, vegane oder glutenfreie Gerichte anzubieten – obwohl in den meisten Gegenden nur äußerst wenige Veganer und Glutenallergikerinnen leben. Auch in der graduellen Ausbreitung des Islam im Vorderen Orient zeige sich die Stärke einer Minderheit nach dem Prinzip des skin in the game. Nicht Zwangskonversion habe dazu geführt, dass Ägypten wenige Jahrhunderte nach den arabischen Eroberungen seine christliche Mehrheit verlor. Folgenschwer waren vielmehr zwei asymmetrische Regeln der Scharia: die Todesstrafe für den Abfall vom Glauben und das Verbot für muslimische Frauen, einen nichtmuslimischen Mann zu heiraten.

In der Rolle des antiintellektuellen Gelehrten fühlt sich Nassim Nicholas Taleb wohl. Er wurde 1960 im Libanon in eine griechisch-orthodoxe Familie hineingeboren und überlebte den Bürgerkrieg. Diese Erfahrung hat sein Denken nach eigener Aussage besonders geprägt. Als Araber möchte er nicht bezeichnet werden; Taleb legt Wert darauf, mit Armeniern, Griechen und Phöniziern verwandt zu sein. Nach seinem Wirtschaftsstudium in den USA verdiente er als Börsenhändler viel Geld – vor allem in der Finanzkrise 2007, die er vorausgesehen hatte. Seitdem widmet er sich hauptsächlich seiner schriftstellerischen Tätigkeit und flaniert zwischen antiker Philosophie, Wahrscheinlichkeitstheorie, Gesellschaftskommentar und Wirtschaftsanalyse.

Viel Zeit verbringt er auf Twitter, wo er bevorzugt Leute wie den Evo­lutionspsychologen Steven Pinker und den Ökonomen Thomas Piketty anpöbelt, seine Fortschritte beim Gewichtheben dokumentiert und den Lobbyismus des mittlerweile von Bayer aufgekauften Agrarriesen Monsanto anprangert. Ein Bonmot, das er auf Twitter immer wieder zitiert, um seine politische Orientierung zu skizzieren, lautet: »Auf Bundesebene bin ich Libertärer; auf Staatsebene Republikaner; auf Kommunalebene Demokrat; und auf der Verwandten- und Bekanntenebene Sozialist.«

Der Kreis derer, die ihm wohlgesinnt sind, scheint bunt zusammengewürfelt. So widmet er »Das Risiko und sein Preis – Skin in the Game« zwei Politikern, die in den USA in der Vergangenheit als chancenlose Prä­sidentschaftskandidaten angetreten sind: dem Libertären Ron Paul sowie Ralph Nader, der für die Grüne Partei aktiv ist. Taleb bewundert an Nader dessen bescheidenen Lebensstil, der im Einklang mit den sozialistischen Zielen der US-Grünen stehe.

Talebs einflussreichster Fan heißt Stephen Bannon. Der frühere Berater von US-Präsident Donald Trump empfahl dem Magazin Politico zufolge den Mitarbeitern der »Make America Great Again«-Wahlkampagne mehrere Bücher zur Lektüre. »Die Kunst des Krieges« des chinesischen Generals Sunzi gehörte ebenso dazu wie Nassim Nicholas Talebs 2012 veröffentlichtes »Antifragilität – Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen«. Darin feiert Taleb all jene Lebenssysteme, die nicht an der Wucht der Realität zerschellen, sondern aus ihr lernen und stärker werden. So wie das Immunsystem des Körpers an seinen Herausforderungen wächst, sollte nach Bannons Vorstellung auch Trumps Kampagne laufen.

Vermutlich wäre jeder andere Politiker mit ähnlich grotesken Äußerungen an der Fragilität seiner Reputation gescheitert. Doch keine Geschmacklosigkeit über behinderte Veteranen, Frauen und Mexikaner konnten Trump etwas anhaben. Im Gegenteil machten sie ihn stärker. Sein Wahlkampf war antifragil.

Mit Stephen Bannons apokalyptischer Ideologie hat »Das Risiko und sein Preis – Skin in the Game« wenig gemein. Der plauderhafte Tonfall erinnert eher, wie der Economist treffend schreibt, an einen Taxifahrer, der zu allem seine Meinung äußert. Nassim Nicholas Talebs Vorliebe für lokale Gemeinschaften und seine Ressentiments gegen eine moderne Bürokratie, die den sozialen Druck auf das Individuum abfedern kann, hinterlassen wenig Anknüpfungspunkte für einen universellen Freiheitsbegriff. Er verdammt Militär­interventionen prinzipiell, lässt aber die Frage offen, ob die Untätigkeit beim Genozid an den Tutsi in Ruanda und den Yeziden im Irak nicht gleichfalls katastrophale Konsequenzen zeitigte, für die kein politischer Entscheider jemals geradestehen musste, während die massakrierten Opfer mehr als alle anderen ihre Haut aufs Spiel gesetzt haben.

Talebs Argumentation bleibt zu lückenhaft, um auf solche Dilemmata eine Antwort zu finden, ist aber zu originell, um seine Ideen gänzlich zu ignorieren.

 

Nassim Nicholas Taleb: Das Risiko und sein Preis – Skin in the Game. Aus dem Amerikanischen von Susanne Held. Penguin, München 2018, 386 Seiten, 26 Euro