Das Buch »Das Risiko und sein Preis – Skin in the Game« von Nassim Nicholas Taleb

Riskiere deine Haut

Ethische Entscheidungen kann nur treffen, wer dabei etwas zu verlieren hat. Der Essayist Nassim Nicholas Taleb ledert in seinem Buch »Das Risiko und sein Preis – Skin in the Game« gegen die Führungsschicht und argumentiert dabei so anregend wie archaisch.

Folgende Personengruppen haben keine Ahnung, wie das Leben funktioniert, und niemand sollte auf ihre Worte hören: Politiker, Spezialistinnen für spanische Grammatik, Banker, Unternehmensberaterinnen, EU-Bürokraten, die meisten Journalisten, Manager in Anzügen, Theore­tikerinnen, Schauspieler, Ökonominnen und Akademiker sowieso. In seinem neuen Buch »Das Risiko und sein Preis – Skin in the Game« beschreibt der Essayist und ehemalige Wall-Street-Trader Nassim Nicholas Taleb, warum das so ist. Außerdem gibt er seinen Lesern zu verstehen, dass es glücklicherweise einen gibt, der im Gegensatz zu allen anderen kapiert hat, wie die Dinge tatsächlich laufen. Nämlich Nassim Nicholas Taleb.

Die erfrischende Großkotzigkeit, mit der Taleb seine Weltformel darlegt, wird schon nach wenigen Seiten jene vergraulen, denen Harmonie besonders am Herzen liegt. Wem gutes Deutsch wichtig ist, dürfte an der lieblosen Übersetzung verzweifeln. Noch bevor die assoziativen und ungeordnet wirkenden Texte vom Verlag zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurden, stellte sie Taleb frei verfügbar auf sein Medium.com-Profil; von Lektoren hält er offenkundig nichts. Wer trotz all dem weiterblättert und sich auf die Gedankenwelt des Autors einlässt, stößt auf eine Fülle erhellender Ideen und ebenso viel archaische Kraftmeierei.
Aus Sicht von Taleb wird die moderne Welt von zu vielen Technokraten, Expertinnen und Dummschwätzern beherrscht. Sie riskierten nicht die eigene Haut, sie sind nicht skin in the game.  Da wären Banken, die mit hochspekulativen Geschäften Milliardenprofite einstreichen, sich in Krisenzeiten aber vom Staat retten lassen – und die Kosten der Allgemeinheit aufbürden, statt pleitezugehen. Journalisten wie der New York Times-Kolumnist Thomas Friedman und Politiker im US-Kongress hätten sich zwar für Militärinterventionen in Ländern wie Libyen stark gemacht. Von dem resultierenden Chaos, den Bürgerkriegen und Fluchtbewegungen werden sie aus sicherer Entfernung jedoch nicht tangiert. Das Gegenteil von gut ist ein guter Ratschlag.

Viel Zeit verbringt Taleb auf Twitter, wo er bevorzugt Leute wie den Evolutionspsychologen Steven Pinker und den Ökonomen Thomas Piketty anpöbelt und seine Fortschritte beim Gewichtheben dokumentiert.

Der Untertitel des Buches lautet im Original: »Hidden Asymmetries in Daily Life«. Gemeint ist, dass weitreichende Entscheidungen von jenen gefällt würden, die für die Folgen ihrer Taten immer seltener zur Verantwortung gezogen werden. Diese Asymmetrie führt Taleb zufolge zu desaströsen Konsequenzen. Um das ethische Gleichgewicht wiederherzustellen, sollten Schaumschläger seiner Meinung nach mehr leiden – zumindest auf die eine oder andere Weise: »Skin in the game hält die menschliche Hybris in Zaum.« Will heißen: Der Trader muss mit seinem Privatvermögen für finanzielle Verluste geradestehen. Über Kriegseinsätze darf entscheiden, wer – wie Alexander der Große oder Napoleon Bonaparte – selbst in die Schlacht zieht oder wenigstens ein Familienmitglied hat, das im Militär dient. Akademiker im Wissenschaftsbetrieb unterliegen Gruppenzwängen. So publizieren sie Aufsätze und Bücher, die vorrangig von anderen Akademikern gelesen und bewertet werden. Um diesen intellektuellen Parallelgesellschaften ohne Realitätsbezug entgegenzuwirken, empfiehlt Taleb: Forschen sollte nur, wer sein Einkommen hauptsächlich in anderen Berufen wie Feuerwehrmann, Milizionärin, Linsenmacher, Anwältin oder Chefkoch verdient. Bahnbrechende Entdeckungen entstünden nicht im Elfenbeinturm, sondern in der Praxis.

Religion, Finanzwesen, Politik, Arbeitswelt, Kunst: Das skin in the game-Prinzip sieht Taleb in allen sozialen Phänomen walten beziehungsweise eben nicht mehr walten. Den Erfolg des Schweizer Direktorial­systems erklärt er etwa mit dessen bottom-up-Verfahren, der gewählte Vertreter auf lokaler Ebene zur Rechenschaft zieht – ein Vorteil gegenüber Politikern in behäbigen Zentralstaaten. Das scheinbar undurchdringliche Mysterium der Dreifaltigkeit im Christentum interpretiert der Autor als einen genialen Einfall der Kirchenväter. Jesus von Nazareth hat skin in the game bewiesen, weil er sich für die restliche Menschheit opferte: »Ein Gott, der am Kreuz nicht wirklich litt, wäre wie ein Zauberer, der eine Illusion vorführt – nicht wie jemand, der wirklich blutet, nachdem er sich einen Eispickel zwischen seine Handwurzelknochen getrieben hat.«

Eines der faszinierendsten Kapitel des Buchs trägt den Titel »Der Intoleranteste gewinnt: Die Vorherrschaft der eigensinnigen Minderheit«. Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender von Axel Springer SE, zitierte daraus bei seiner Rede vor dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger. In dem Kapitel postuliert Taleb: Nicht der Konsens bestimmt die Geschicke der Menschheit, sondern hartnäckige Minoritäten. Nicht trotz, sondern wegen ihrer Intoleranz.

 

Ein Beispiel: Wenn in Deutschland bei Meetings in global agierenden Unternehmen eine Person im Raum ist, die kein Deutsch spricht, wird das gesamte Meeting auf Englisch abgehalten, »von jener Sorte ungehobeltem Englisch, das in Unternehmen weltweit im Gebrauch ist. Auf diese Art können sich die Veranstalter sowohl gegen ihre teutonischen Vorfahren als auch gegen die englische Sprache versündigen.« Auf diese Weise vermögen Minderheiten, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung nur wenige Prozent ausmachen, dem Rest ihre Ernährungsgewohnheiten aufdrängen. Tatsächlich haben sich viele Kantinen und Restaurants dazu verpflichtet, vegane oder glutenfreie Gerichte anzubieten – obwohl in den meisten Gegenden nur äußerst wenige Veganer und Glutenallergikerinnen leben. Auch in der graduellen Ausbreitung des Islam im Vorderen Orient zeige sich die Stärke einer Minderheit nach dem Prinzip des skin in the game. Nicht Zwangskonversion habe dazu geführt, dass Ägypten wenige Jahrhunderte nach den arabischen Eroberungen seine christliche Mehrheit verlor. Folgenschwer waren vielmehr zwei asymmetrische Regeln der Scharia: die Todesstrafe für den Abfall vom Glauben und das Verbot für muslimische Frauen, einen nichtmuslimischen Mann zu heiraten.

In der Rolle des antiintellektuellen Gelehrten fühlt sich Nassim Nicholas Taleb wohl. Er wurde 1960 im Libanon in eine griechisch-orthodoxe Familie hineingeboren und überlebte den Bürgerkrieg. Diese Erfahrung hat sein Denken nach eigener Aussage besonders geprägt. Als Araber möchte er nicht bezeichnet werden; Taleb legt Wert darauf, mit Armeniern, Griechen und Phöniziern verwandt zu sein. Nach seinem Wirtschaftsstudium in den USA verdiente er als Börsenhändler viel Geld – vor allem in der Finanzkrise 2007, die er vorausgesehen hatte. Seitdem widmet er sich hauptsächlich seiner schriftstellerischen Tätigkeit und flaniert zwischen antiker Philosophie, Wahrscheinlichkeitstheorie, Gesellschaftskommentar und Wirtschaftsanalyse.

Viel Zeit verbringt er auf Twitter, wo er bevorzugt Leute wie den Evo­lutionspsychologen Steven Pinker und den Ökonomen Thomas Piketty anpöbelt, seine Fortschritte beim Gewichtheben dokumentiert und den Lobbyismus des mittlerweile von Bayer aufgekauften Agrarriesen Monsanto anprangert. Ein Bonmot, das er auf Twitter immer wieder zitiert, um seine politische Orientierung zu skizzieren, lautet: »Auf Bundesebene bin ich Libertärer; auf Staatsebene Republikaner; auf Kommunalebene Demokrat; und auf der Verwandten- und Bekanntenebene Sozialist.«

Der Kreis derer, die ihm wohlgesinnt sind, scheint bunt zusammengewürfelt. So widmet er »Das Risiko und sein Preis – Skin in the Game« zwei Politikern, die in den USA in der Vergangenheit als chancenlose Prä­sidentschaftskandidaten angetreten sind: dem Libertären Ron Paul sowie Ralph Nader, der für die Grüne Partei aktiv ist. Taleb bewundert an Nader dessen bescheidenen Lebensstil, der im Einklang mit den sozialistischen Zielen der US-Grünen stehe.

Talebs einflussreichster Fan heißt Stephen Bannon. Der frühere Berater von US-Präsident Donald Trump empfahl dem Magazin Politico zufolge den Mitarbeitern der »Make America Great Again«-Wahlkampagne mehrere Bücher zur Lektüre. »Die Kunst des Krieges« des chinesischen Generals Sunzi gehörte ebenso dazu wie Nassim Nicholas Talebs 2012 veröffentlichtes »Antifragilität – Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen«. Darin feiert Taleb all jene Lebenssysteme, die nicht an der Wucht der Realität zerschellen, sondern aus ihr lernen und stärker werden. So wie das Immunsystem des Körpers an seinen Herausforderungen wächst, sollte nach Bannons Vorstellung auch Trumps Kampagne laufen.

Vermutlich wäre jeder andere Politiker mit ähnlich grotesken Äußerungen an der Fragilität seiner Reputation gescheitert. Doch keine Geschmacklosigkeit über behinderte Veteranen, Frauen und Mexikaner konnten Trump etwas anhaben. Im Gegenteil machten sie ihn stärker. Sein Wahlkampf war antifragil.

Mit Stephen Bannons apokalyptischer Ideologie hat »Das Risiko und sein Preis – Skin in the Game« wenig gemein. Der plauderhafte Tonfall erinnert eher, wie der Economist treffend schreibt, an einen Taxifahrer, der zu allem seine Meinung äußert. Nassim Nicholas Talebs Vorliebe für lokale Gemeinschaften und seine Ressentiments gegen eine moderne Bürokratie, die den sozialen Druck auf das Individuum abfedern kann, hinterlassen wenig Anknüpfungspunkte für einen universellen Freiheitsbegriff. Er verdammt Militär­interventionen prinzipiell, lässt aber die Frage offen, ob die Untätigkeit beim Genozid an den Tutsi in Ruanda und den Yeziden im Irak nicht gleichfalls katastrophale Konsequenzen zeitigte, für die kein politischer Entscheider jemals geradestehen musste, während die massakrierten Opfer mehr als alle anderen ihre Haut aufs Spiel gesetzt haben.

Talebs Argumentation bleibt zu lückenhaft, um auf solche Dilemmata eine Antwort zu finden, ist aber zu originell, um seine Ideen gänzlich zu ignorieren.

 

Nassim Nicholas Taleb: Das Risiko und sein Preis – Skin in the Game. Aus dem Amerikanischen von Susanne Held. Penguin, München 2018, 386 Seiten, 26 Euro