Essay - Isaac le Maire war der Erfinder der ungedeckten Leerverkäufe

Glanz und Elend des ersten Aktionärs

Seite 4

Aber zunächst wurden Pläne gemacht. Le Maire traf sich im März 1608 mehrmals unter konspirativen Umständen mit Pierre Jeannin. Im Sommer 1609 versprach der Kaufmann dem damals in Holland weilenden Jeannin, im Dezember nach Paris zu kommen, um die Gründung der Gesellschaft eingehend zu besprechen.

Am 16. Dezember desselben Jahres war er tatsächlich in der französischen Hauptstadt, wie ein Brief von François van Aerssen an den Ams­terdamer Oldenbarnevelt zeigt. Der Diplomat van Aerssen war als Ver­treter des Amsterdamer Politikers Johan van Oldenbarnevelt nach Paris beordert worden, für den er als Spion arbeitete. Er versuchte, dem König einzureden, dass die Gründung eines französischen Handelsunternehmens für das Land desaströs verlaufen werde – die Gewürzpreise in ­Ostindien seien nämlich stark angestiegen in Europa dagegen gesunken. »Wir haben schon mehr Gewürze, als Europa konsumieren kann.« Grundsätzlich lag Aerssen mit dieser Analyse nicht falsch, allerdings war ja der Zweck der Oostindische eben nicht nur der Handel, sondern auch das Kriegführen.

Auf die eigentlich naheliegende Idee, eine Handelsgesellschaft unter Beteiligung von England, Frankreich und den Niederlanden zu gründen, kam niemand, statt dessen setzte man weitere Spitzel auf le Maire an – der allerdings Verdacht schöpfte und noch vorsichtiger wurde.

Ende des Jahres 1608 traf der englische Entdecker Henry Hudson in Amsterdam ein, den le Maire umgehend davon zu überzeugen versuchte, eine Expedition für die französische Krone zu unternehmen. Die VOC erfuhr aber davon und warb Hudson ab, im April 1609 machte der Entdecker sich mit dem Schiff »Halve Maen« für die Kompanie auf die Suche nach einem nördlichen Seeweg vom Atlantik zum Pazifik. Dabei entdeckte er zwar den Hudson River, aber nicht die Nordwestpassage, nach der er ein Jahr später bei einer weiteren Expedition weitersuchte – diese Entdeckungsfahrt endete allerdings damit, dass die Besatzung meuterte und Hudson sowie acht weitere Männer in einem kleinen Boot ausgesetzt wurden und seither als verschollen gelten.
Ganz beiläufig war Isaac le Maire in dieser Zeit zum ersten Shareholder-Vertreter der Welt geworden.

Im Januar 1609 hatte er ein Memorandum über die Zustände in der VOC sowie über den Aktienhandel angefertigt und schickte es an Johan van Oldenbarnevelt. Dieser war erster Staatssekretär der Staaten von Holland und einer der einflussreichsten Politiker jener Zeit.

Kurz danach erfand le Maire die ungedeckten Leerverkäufe. Gemeinsam mit zehn anderen Kaufleuten gründete er ein geheimes Konsortium, die »Groote Compagnie«, deren Ziel der Handel mit VOC-Aktien war. Zusätzlich zu den auf den Markt gelangten Anteilen versuchte man sich an ungedeckten Leerverkäufen.

An sich waren Leerverkäufe, also der Handel mit etwas, das der Verkäufer zum Zeitpunkt des Verkaufs nicht besitzt, nichts Neues. Sowohl in Antwerpen als auch in Amsterdam waren solche Geschäfte seit der Mitte des 16. Jahrhunderts üblich, um den Preis für Getreide für die folgende Erntesaison festzulegen, weswegen auch le Maire das Prinzip seit Jugendzeiten bekannt gewesen sein dürfte.

Le Maires Kalkül war simpel: Sowie die französische Ostindien-Handelsgesellschaft endlich gegründet werden würde, würden die Warenpreise sinken und in Panik geratende VOC-Aktionäre ihre Anteile auf den Markt werfen. Die Groote würde sie dann aufkaufen, zum vor der Krise vereinbarten weit höheren Preis verkaufen und riesige Gewinne einstreichen. Sicherheitshalber, so ist jedenfalls den Anschuldigungen der VOC gegen die Kaufleute zu entnehmen, hatten diese wohl auch ­gezielt Gerüchte gestreut, um die Anteilseigner zu verunsichern.

Dass es anders kam, konnten die ersten Shortseller nicht ahnen. Die VOC sorgte beim Ersten Staatssekretär für ein Verbot des Handels mit Aktien, die nicht im Besitz des Verkäufers waren. Diesem ersten staatlichen Eingriff in den Aktienhandel folgte eine ausgedehnte Diskussion. Die Direktoren der VOC schrieben ­allerdings eine äußerst geschickte Verteidigung des Verbots von Leerverkäufen: Im Prinzip seien unschuldige Investoren Opfer ruchloser Händler geworden. Opfer seien die Witwen und Waisen, die es sich nicht erlauben können würden, zu warten, bis sich die Preise wieder ­erholen, sondern im Fall plötzlicher Liquiditätsprobleme gezwungen ­seien, ihre Anteile zu niedrigsten Preisen zu verkaufen. Mit dieser Argumentation appellierte die VOC an die christliche Moral der Stadtregierung und gewann.

Le Maires Geheimgesellschaft wurde zum ersten Leerverkäufer, der Verlust machte: Der Aktienpreis stieg, die Groote verlor insgesamt 45 000 Gulden, mehrere ihrer Aktionäre machten Konkurs. Und le Maire musste erneut vor Gericht erscheinen.

Zuvor hatte er bei einem Treffen mit Aerssen schon zugeben müssen, wider das Verbot Frankreich in Sachen Ostindien beraten zu haben. Le Maire tat zunächst so, als wisse er nicht, worum es gehe, bis der Diplomat ihm klarmachte, dass er über den Plan bis in alle Einzelheiten informiert sei.