Wikileaks - Schwarmintelligenz und Schwarmdemenz

Aufstieg und Fall des Julian Assange

Antiamerikanismus, Antisemitismus und russische Propaganda: Wie Wikileaks-Gründer Julian Assange rechte Verschwörungstheorien befeuerte.

Wie aus der Zeit gefallen wirkte Julian Assange bei seiner Verhaftung. Der bleiche, alt wirkende Mann mit dem weißen Haar, der heftig meckernd aus der ecuadorianischen Botschaft gezerrt wurde, hatte aber nicht bloß rein äußerlich nur noch wenig mit dem Mann zu tun, von dem manche noch heute glauben, er habe der Welt zu mehr Demokratie und Transparenz verholfen. Nicht viel mehr als zehn Jahre hatte Assange für Aufstieg und Fall gebraucht – während das Internet in dieser Zeit ähnlich dramatische Veränderungen durchlief.

Dass Assange es mit der Wahrheit nie so genau nahm, wurde nach seiner Flucht in die ecuadorianische Botschaft immer deutlicher.

Schon die Reaktionen auf die ersten Leaks der Whistleblower-Plattform hatten gezeigt, dass das Bedürfnis nach einer Lichtgestalt des Digitalen größer war als die Bereitschaft, sich auch nur ansatzweise ernsthaft mit dem zu beschäftigen, was auf Wikileaks veröffentlicht worden war. Denn sonst wäre aufgefallen, dass dort neben dem Spektakulären auch viel Kleinliches und Dubioses stand, etwa über eine angebliche Kinderpornoverschwörung. Zu diesem Zeitpunkt konnte allerdings auch noch niemand ahnen, dass solche Vorwürfe nur wenige Jahre später zum Standardrepertoire der Alt-Right gehören würden. Und dass aus einer der von Wikileaks veröffentlichten E-Mails des Democratic National Committee (DNC), in der es um einen die Demokraten unterstützenden Pizzeriabetreiber in Washington, D.C. ging, eine Verschwörungstheorie namens »Pizzagate« gestrickt werden sollte, die führenden US-Demokraten Pädokriminalität unterstellte.

Zunächst aber wurde Assange gefeiert. Ganz so, als hätten Journalisten noch niemals zuvor mit ihnen zugespielten Dokumenten Korruption und Machtmissbrauch aufgedeckt, gerierte sich der Australier als Vertreter einer ganz neuen Art von Journalismus. Seinen Ausführungen wurde weltweit ­begeistert gelauscht – nur wenige Jahre zuvor war mit Blogs schließlich eine Form der Nachrichtenverbreitung entstanden, die nicht mehr an Deadlines, Druckereien und Schreibfähigkeiten gebunden war, sondern allen, die dazu Lust hatten, die Möglichkeit eröffnete, Berichterstatter zu sein.

Das Internet werde die Demokratie fördern, behauptete mit großer Überzeugung die nicht immer intellektuell brillante Avantgarde eben dieses Internets. Sie entwarf eine Vision von lokalen Bloggern, die selbst in Kleinstädten mit ihrem neuen Bürgerjournalismus korrupte und selbstherrliche Verwaltungsbeamte entlarven und der schweigenden Bevölkerungsmehrheit Gehör verschaffen würden.

Es zeigte sich allerdings rasch, dass Journalismus für diejenigen, die von den traditionellen Zeitungen und Zeitschriften abfällig als »Totholzmedien« redeten, in aller Regel nicht aus langweiligem Kleinkram wie Recherche bestand, sondern eher daraus, so schnell wie möglich in plakativen Blogbeiträgen das aufzugreifen, was der verachtete herkömmliche Journalismus an Aufregerthemen vorgab.

Täglich konnte man auf Twitter beobachten, dass im neuen angesagten Online-Journalismus erstaunlich viele Leute tätig waren (und sind), die bei einem von ihnen mit viel Empörung in sozialen Medien verteilten Zeitungsartikel nicht auf das Datum achten. Regelmäßig gab es in dieser Zeit immensen Aufruhr über einen Missstand aus einem rund drei Jahre alten Text, der längst dazu geführt hatte, dass besagter Missstand am übernächsten Tag beendet worden war. Damals dürfte auch die bis heute verbreitete Auffassung entstanden sein, Kommentare zu schreiben, sei Journalismus und eine Meinung zu haben wichtiger als Ahnung.Dass Assange die Vision einer Welt verbreitete, in der es keine Geheimnisse mehr geben sollte, während das Recht des Individuums auf Privatsphäre derart wichtig genommen wurde, dass auf den deutschen, bei Google Maps zu sehenden Straßen bis heute eine größere Menge Häuser nur verpixelt zu sehen sind, begeisterte selbst die Journalisten der etablierten Presse. Der offenkundige Widerspruch – nur vom Wikileaks-Gründer selber ausgewählte Medien erhielten als Kooperationspartner das Recht, zunächst exklusiv über die Leaks zu berichten – störte sie zunächst nicht. Und auch nicht, dass Assange solche Printprodukte mied, die in seiner Wahrnehmung irgendwie ­jüdisch sind. Dazu gehörte unter anderem die schwedische Zeitung Expressen, die Anfang der 1800er Jahre von einem aus Dresden eingewanderten Juden namens Gutkind Hirschel gegründet worden war. Hirschel änderte seinen Namen später in Gerhard Bonnier. Ob die heutigen Inhaber des Medienkonzerns Bonnier AB Juden sind, ist allerdings höchst fraglich – ein Nachkomme ist beispielsweise als Stockholmer Domprobst tätig.

Das Internet werde die Demokratie fördern, behauptete die digitale Avantgarde. Doch Schneller als die Demokratie verbreiteten sich im Netz Verschwörungstheorien.

Assange dürfte aber nicht von selber darauf gekommen sein, Expressen für unter jüdischem Einfluss stehend zu halten. Vielmehr hatte die Zeitung in der Vergangenheit über die antisemitischen Machenschaften jener Männer kritisch berichtet, die seine engsten skandinavischen Vertrauten waren: Donald Boström und Johannes Wahlström, ein Sohn des russischstämmigen Antisemiten und Verschwörungstheoretikers Israel Shamir. Beide übernahmen es denn auch, Assange öffentlich zu vertei­digen, nachdem zwei Frauen ihn wegen sexueller Belästigung angezeigt hatten. Sie bedienten sich dabei mehrerer Rufmordkampagnen ­gegen die mutmaßlichen Opfer. Man kannte sich allerdings wohl auch recht gut, eine der Frauen, Anna A., war und ist vielleicht auch heute noch Mitglied der Broderskapsrörelsen, einer antisemitischen, evangelischen Plattform innerhalb der schwedischen Sozialdemokraten, in der die Bücher Shamirs als wichtige Lektüre gelten.

Allgemein interessierten sich die mit Assange zusammenarbeitenden Medien nicht sehr für dessen Verbindungen zur internationalen Antisemiteria. Auch dass er immer wieder Erklärungen abgab, die aus heutiger Sicht unweigerlich an Äußerungen Donald Trumps erinnern, wurde nur ­selten thematisiert. Dabei war alles öffentlich zugänglich, von Assanges Bemerkung über die Macher eines kritischen BBC-Berichts in einer französischen Fernsehsendung (»Wir haben herausgefunden, dass die Ehefrau des Produzenten zur zionistischen Bewegung in London gehörte«) über seine Aussage, die New York Times sei »von der jüdischen Lobby« gesteuert bis hin zur Einordnung der Empörung über seine Freundschaft mit Shamir als »jüdische Kampagne«.

Nun entscheiden antijüdische Ressentiments allerdings nicht darüber, ob jemand Journalist ist oder nicht, wie auch Beispiele aus Deutschland zeigen. Dass das Auslieferungsersuchen der USA eine Bedrohung des journa­listischen Berufsstands sei, wird derzeit gern gesagt – und dabei selten erwähnt, dass Assange beschuldigt wird, Chelsea Manning beim Knacken eines Passworts geholfen zu haben. Für die wenigsten Journalisten dürfte dies zum Berufsalltag gehören.

Der Wikileaks-Gründer bezeichnete sich immer wieder selbst als Journalist, obwohl er nichts weiter tat, als Dokumente und Texte anderer zu veröffentlichen. Unredigiert und ohne Rücksicht auf journalistsiches Ethos, ohne Einordnung der Quellen und ohne Unbeteiligte zu schützen. Das Recht auf Privatsphäre hat nach Ansicht Assanges und seinen damals noch in größerer Zahl vorhandenen Wikileaks-Mitstreitern verwirkt, wer für eine US-amerikanische Firma arbeitet. Mehr als 170 000 ungeschwärzte E-Mails und 30 000 weitere Dokumente der Firma Sony Pictures Entertainment veröffentlichte Wikileaks im April 2015. Die Öffentlichkeit konnte darin auch nachlesen, wessen Vater schwer erkrankt und wer vor einem Date aufgeregt war. Nicht nur das: Auch die E-Mails von Freunden, Bekannten und Verwandten der Mitarbeiter wurden publiziert.

Wer in dieser Zeit auf Twitter darauf aufmerksam machte, dass einseitig zu Lasten der USA und ihrer Verbündeten gehende Leaks vielleicht nicht unbedingt zu einer besseren Welt führen würden, wenn nicht auch die Geheimnisse anderer Großmächte enthüllt würden, musste mit einem veritablen Shitstorm rechnen. Oft angeführt von Assange persönlich, dem es nicht zu blöd war, selbst Journalistinnen von, sagen wir: international wenig bekannten linken Wochenzeitungen aus Deutschland in einem Tweet wie Feinde zu behandeln, stürzten sich die Wi­kileaks-Fanboys täglich auf alles und jeden, der es wagte, die Lichtgestalt ­Assange zu kritisieren.

In diesem Aspekt der Piratenpartei nicht unähnlich, verdarb es sich Wikileaks dadurch langfristig mit einem großen Teil der politisch interessierten Öffentlichkeit. Dazu kamen immer ­offensichtlichere Lügen. Schon kurz nachdem Wikileaks im Jahr 2010 international bekannt geworden war, betonten die damals noch anonym agierenden Macher – also im Großen und Ganzen Assange –, dass Informanten sich bei ihnen vollkommen sicher fühlen könnten. Die Server der Plattform stünden nämlich in Schweden, und das aus gutem Grund: Der Quellenschutz für Journalisten gehöre dort zu den Grundrechten, entsprechend genieße jeder, der ihnen vertrauliche Informa­tionen übergebe, besonderen Schutz. Das war allerdings nur die halbe Wahrheit, denn die damals von Wikileaks noch so vielgerühmte schwedische Freiheit galt zwar seit 2003 auch für Online-Medien, allerdings zu keinem Zeitpunkt auch für die Whistleblower-Plattform. Weder hatte Assange das ­erforderliche Veröffentlichungszertifikat bei der schwedischen Medienanstalt beantragt, noch verfügte das Projekt über ein eigenes Büro, Redakteure und einen juristisch Verantwortlichen, was die Voraussetzung für ein solches Zertifikat gewesen wäre – abgesehen davon, dass sich das Angebot nicht explizit an schwedische User richtete.

Damit verhielt sich Assange interessanterweise ähnlich unbekümmert wie das Hackerkollektiv Anonymous, das im Herbst 2010 aus Solidarität mit Wikileaks die Websites von Visa und Mastercard angriff, nachdem die Unternehmen aufgehört hatten, Zahlungen für die Enthüllungsplattform anzunehmen. Mit Hilfe des Softwareprogramms Low Orbit Ion Cannon (LOIC) konnte sich jeder, der wollte, an den als Massenevents abgehaltenen sogenannten DdOS-Cyberangriffen beteiligen. So anonym und damit sicher, wie Anonymous und seine ab 2011 aktive Abspaltung Lulzsec es ihren Fans vorgaukelten, war die Software jedoch nicht, wie die Journalistin Parmy Olson in ihrem Buch »We Are Anonymous: Inside the Hacker World of Lulzsec, Anonymous, and the Global Cyber Insurgency« schildert. Wer nicht zusätzlich einen sogenannten Anonymizer benutzte, war anhand der IP-Adresse einfach zu identifizieren – darauf hingewiesen wurden die Nutzer allerdings nicht. Überdies waren die konzertierten DdOS-Attacken in Wirklichkeit nicht so erfolgreich, wie die Anonymous-Anhänger behaupteten: Olsen beschreibt, dass angegriffene Websites erst lahmgelegt werden konnten, als die Jungs mit den Botnetzen um Hilfe gebeten wurden – Tausende Leute hatten demnach völlig vergebens Strafverfolgung riskiert und in manchen Fällen sogar erfahren.

Am 17. Dezember 2010 begann mit den Protesten gegen die tunesische Regierung der sogenannte arabische Frühling. Kurze Zeit sah es tatsächlich so aus, als könnten internationale ­Hacker und ganz normale Social-Media-User in Zusammenarbeit mit Op­positionellen auf den Straßen und öffentlichen Plätzen der jeweiligen Ländern Despoten stürzen, um Demokratie und Menschenrechte durchzusetzen. Hackerangriffe, solidarische Tweets und massenhaft online verbreitete Protestratgeberliteratur konnten gegen reale Gewalt allerdings kaum etwas ausrichten. Als ähnlich überbewertet erwies sich die sogenannte Schwarmintelligenz, ein vielbeschworenes Schlagwort jener Zeit. Durch Zusammenarbeit, so die Theorie, können Gruppen intelligente Entscheidung treffen, unabhängig davon, wie intelligent ihre einzelnen Mitglieder sind. Damals ahnte noch niemand, wie sich diese Methode weiterentwickeln würde: Nämlich dahingehend, ausgewählte Nutzerkreise durch psychologisch geschickt ausgearbeitete Memes und Falschmeldungen gezielt zu indoktrinieren. Auf diese Weise wurden sowohl die Wahl Donald Trumps als auch das »Brexit«-Referendum beeinflusst, möglicherweise entscheidend. Das Ergebnis war Schwarmdemenz statt Schwarmintelligenz. Schneller als die Demokratie verbreiteten sich Verschwörungstheorien.

Dass Assange es mit der Wahrheit nie so genau nahm, wurde nach seiner Flucht in die ecuadorianische Botschaft im Juni 2012 immer deutlicher. Auch wirkte er als Verbreiter von fake news nicht mehr nur in ­eigener Sache: Am 10. Juli 2016 war der DNC-Mitarbeiter Seth Rich nachts auf dem Heimweg von einer Bar bei einem Raubüberfall erschossen worden. Kurz vor seiner Beerdigung wurden auf Reddit und Twitter Verschwörungstheorien in Umlauf gebracht, wonach es sich in Wirklichkeit um einen politischen Mord im Auftrag Hillary Clintons gehandelt habe. Urheber dieser Geschichte war der russische Geheimdienst GRU, dessen Hackergruppe Guccifer 2.0 mit Mitarbeitern Donald Trumps ­Kontakt hatte. Um die Verschwörungstheorie zu untermauern, hatten die Geheimdienstler die DNC-Dokumente mit auf fünf Tage vor Richs Tötung ­datierten Zeitstempeln und einer gefälschten Zeitzonenangabe versehen.

Im August 2016 behauptete auf ­einmal auch Assange, Rich sei die Quelle gewesen, die Wikileaks die E-Mails des DNC zugespielt habe – ohne seine Behauptung zu verifizieren. Im Juli 2018 wurden im Rahmen der Ermittlungen Robert Muellers schließlich zwölf russische Geheimdienstmitarbeiter wegen des Hacks angeklagt. In den bei Gericht eingereichten Dokumenten wird deren Vorgehen akribisch beschrieben. Dass Clinton Rich ermorden ließ, glauben Verschwörungstheoretiker noch heute.

Es überrascht nicht, dass auch der Kampf um die öffentliche Meinung bezüglich einer Auslieferung Assanges an die US-Behörden mit den üblichen Halbwahrheiten und fake news geführt wird. Am Sonntag nach Assanges Verhaftung warb der russische Sender Sputnik für ein von ihm ausgestrahltes Interview. Die griffige Schlagzeile dazu lautete: »Ein Analyst über die Verhaftung von Assange: Es ist offiziell, wir leben in einer Tyrannei!«

Was der Sender dabei verschwieg: Bei dem »Analysten« handelte es sich um den britischen Rechtsesoteriker David Icke. Er vertritt unter anderem die Verschwörungstheorie von einer die menschliche Zivilisation kontrollierenden Geheimorganisation von Re­ptiloiden, die sich The Brotherhood nennt.