Wohnungsnot im Kapitalismus

Das Kapital wohnt nicht

Mietwahnsinn, Verdrängung, Obdachlosigkeit: Nicht nur gierige Immobilienunternehmer sind an der Wohnungsnot schuld, sondern auch die Politik.

In Großstädten des europäischen Auslands sind schier unbezahlbare Mieten nichts Neues. In London, Paris, Barcelona und vielen anderen Metropolen ist Wohnraum für Normalverdiener schon seit langem äußerst knapp. Insofern ließe sich von den Mietsteigerungen in deutschen Städten auch zynisch als von einer Aufholjagd sprechen.

Begünstigt wird die derzeitige Entwicklung der Wohnkosten in deutschen Städten durch Fehler der Vergangenheit. Um die Jahrtausendwende gab es eine Privatisierungswelle, in deren Verlauf viele Gemeinden ihre Finanzen durch den Verkauf des kommunalen Wohnungsbestands an Privatunternehmen sanierten. Anders als kommunale oder genossenschaftliche Vermieter haben private Unternehmen die Mieten in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. Dazu nutzen sie vor allem Modernisierungen, deren Kosten im ­Gegensatz zu gewöhnlichen Instandhaltungen auf die Mieten umgelegt werden können. Neu zu bauen steht für diese Immobilienunternehmen erst an zweiter Stelle und beschränkt sich überwiegend auf das teure Segment, während günstiger Wohnraum immer knapper wird.

Es ist eine unvermeidliche Tendenz des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, Immobilien unbezahlbar zu machen.

Der ausschlaggebende Grund für diese Entwicklung ist aber nicht die vermeintliche Gier der Unternehmensstrategen. Diese reagieren auf die Lage an den Finanzmärkten, die wiederum eine Spätfolge der Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008 ist. Genau genommen handelt es sich bei der Preissteigerung für Immobilien und damit auch der Mieten um eine Nebenwirkung jener wirtschaftspolitischen Maßnahmen, mit denen die Krise bisher unter Kontrolle gehalten wurde. Die Zentralbanken auf der ganzen Welt senkten seinerzeit die Leitzinsen in erheblichem Ausmaß und kauften für viele Milliarden Euro Anleihen. Auf diese Weise ­kamen enorme Geldmengen in Umlauf, mit denen unter anderem die Staaten Privatbanken retten konnten, die ansonsten reihenweise in Konkurs gegangen wären. Eine Folge davon ist, dass fast alle Staaten hoch verschuldet sind. Eine weitere Folge ist, dass enorme Geldmengen aufgelaufen sind, für die weiterhin verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten gesucht wird.

Während der Finanzkrise protestierten die Vertreter der in Deutschland dominierenden neoklassischen Wirtschaftslehre vehement gegen die Maßnahmen der Zentralbanken. Sie befürchteten, dass es wegen der rasch wachsenden Geldmenge zu einer galoppierenden Inflation kommen würde. Das geschah aber nicht, und die Inflationsrate blieb niedrig. Das lag daran, dass das neu in Umlauf gebrachte Geld zum allergrößten Teil in die Finanzsphäre floss und die Preise für alltägliche Gebrauchsgüter unberührt blieben. In der Sphäre der Anlagewerte stiegen die Preise hingegen in erheblichem Maß – was dort aber hochwillkommen ist: Kauft man eine Aktie für 50 Euro, ist es erfreulich, wenn sie nach einem Jahr 100 Euro wert ist. Steigende Preise von Vermögenswerten bedeuten eine Vermehrung kapitalistischen Reichtums.

Ganz anders verhält es sich bei Gebrauchsgütern. Wenn der Brötchenpreis binnen Jahresfrist von 50 Cent auf einen Euro steigt, dann wurde Geld entwertet. Auf Dauer macht eine solche Entwicklung arm, nicht reich. In Deutschland bleiben die Brötchen aber billig, das in Umlauf gebrachte Geld fließt vielmehr bei den Geschäften mit Aktien, Fondsanteilen, Zertifikaten und anderen Anlageformen. Nur ein Teil der Gewinne, die dort erzielt werden, wird anschließend für Gebrauchsgüter ausgegeben. Ohne diesen Mechanismus stünde das herrschende Wirtschaftssystem vor dem gravierenden Problem, seinen enormen Warenüberschuss nicht ausreichend in Geld verwandeln zu können. Dieses Problem wird mit Hilfe der Finanzmärkte bis auf weiteres gelöst. So lange keine allzu zu großen Geldmengen aus deren Sphäre in den Markt der Gebrauchsgüter fließt, bleibt die Inflation aus. In diesem Sinne kann man von einem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus sprechen.

Allerdings herrscht weiterhin ein Überangebot an Geldmitteln, für das verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten gesucht wird. Daher wird in großem Stil auf das sogenannte Betongold zugegriffen – also auf Immobilien. Diese eignen sich eben so gut wie Finanztitel als Geldanlage. 2018 flossen allein in Deutschland Investitionen von fast 270 Milliarden Euro in Immobilien, zehn Milliarden mehr als im Vorjahr. Dadurch steigen die Preise rasant. Immobilien haben jedoch eine ­Eigenschaft, die sie grundlegend von anderen Anlageformen unterscheidet: Sie sind zugleich auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Damit sind sie gewissermaßen ein Zwittergut, für das die Regeln beider Sphären gelten. Neben dem Markt für Edelmetalle ist der für Immobilien der einzige, auf den das zutrifft. Immobilien sind daher die einzigen lebenswichtigen Gebrauchsgüter, bei denen sich die riesige Menge an Zentralbankgeld in Form merklich steigender Preise, also Mieten, bemerkbar macht.

Es ist eine unvermeidliche Tendenz des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, Immobilien unbezahlbar zu machen. Enteignungen, wie sie etwa die Berliner Initiative »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« fordert, könnten die Entwicklung bremsen – allerdings müsste dazu auch der Staat eingreifen, etwa um die Entschädigungshöhe ­gesetzlich zu deckeln, damit Enteignungen für die Kommunen überhaupt ­bezahlbar wären. Auch der Missbrauch von Modernisierungen zum Zweck der Mieterhöhung ließe sich per Gesetzgebung erschweren.

Allerdings gewährleistet der Staat des Kapitals in erster Linie die Bedingungen, die der Mehrung des kapitalistischen Reichtums dienen – was derzeit mit der Erfüllung des elementaren Grundbedürfnisses Wohnen in Widerspruch gerät. Stünden Immobilien nicht mehr als hochprofitable Vermögensanlage zur Verfügung, wäre der Staat als Garant der allgemeinen Geschäftsbedingungen mit dem nächsten absehbaren Problem konfrontiert: Da es nicht mehr allzu viele Anlagemöglichkeiten gibt, wäre wohl eine forcierte Überbewertung von Aktien, anderen Wertpapieren und Edelmetallen die Folge. Dann würden die Blasen, die es in diesen Bereichen bereits gibt, weiter aufgebläht und früher oder später platzen. Da die nächste Krise aber ohnehin kommt, wäre das für die Einwohner großer Städte weniger schlimm als die drohende Obdachlosigkeit.