Abgehängte Regionen in Deutschland

Kommunal, regional, scheißegal

Mit einem »Plan für Deutschland« will die Bundesregierung für »gleichwertige Lebensverhältnisse überall« sorgen. Grundlegende Veränderungen sind nicht vorgesehen.

Das »Gute-Kita-Gesetz«, die »Wohnraum­offensive« – wenn es um öffentlichkeitswirksame Vorhaben geht, ist die Bundesregierung nicht um hoch­trabende Titel verlegen. Und so stellten die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner (CDU), die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Franziska Giffey (SPD), und der Bundesminister des Inneren, für Bau und Heimat, Horst Seehofer (CSU), in der vergangenen Woche in Berlin ein Vorhaben mit dem Titel »Unser Plan für Deutschland« vor. Wohin es mit diesem Plan gehen soll, sagt der Untertitel: »Gleichwertige ­Lebensverhältnisse überall«.

Der Begriff »gleichwertige Lebensverhältnisse« ist alles andere als neu. Er ist in Artikel 72 des Grundgesetzes zu finden, der die gesetzgeberischen ­Zuständigkeiten von Bund und Ländern festlegt. So hat der Bund das Gesetz­gebungsrecht unter anderem für das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht, die öffentliche Fürsorge, den Straßenverkehr und das Kraftfahrwesen, »wenn und soweit die Herstellung gleich­wertiger Lebensverhältnisse« im Gesamtgebiet der Bundesrepublik »eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht«.

Dass die Frage nach der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse hierzulande in den vergangenen Jahren zum Gegenstand einer politischen Debatte wurde und die Bundesregierung zu ihrem großen Plan veranlasst, ist vor ­allem drei Entwicklungen geschuldet. Zum einen ist mittlerweile abzusehen, dass die ostdeutschen Bundesländer den ökonomischen Abstand zu den westdeutschen in absehbarer Zeit nicht aufholen werden. So liegen das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt und die ostdeutsche Produktivität je Einwohner lediglich bei ungefähr 75 Prozent des Werts in den westlichen Bundesländern, das Einkommen pro Einwohner liegt bei knapp über 80 Prozent. Deshalb fordern die Regierungen ostdeutscher Bundesländer eine dauerhafte Unterstützung durch den Bund. Zugleich wächst in den ehemaligen Zentren des westdeutschen Bergbaus das Unverständnis dafür, dass die Regionen an Ruhr und Saar trotz einer vergleichbaren sozioökonomischen Lage nicht in ähnlicher Weise unterstützt werden.

Apologeten der Austeritätspolitik

Dazu kommt die von der AfD parlamentarisch repräsentierte rechte ­Massenbewegung, die bei den im Herbst anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen die bisherigen Machtverhältnisse grund­legend zu verändern droht. In Anlehnung an die Parole »Integriert doch erstmal uns« – so der Titel einer Streitschrift der sächsischen Ministerin für Gleichstellung und Integration, Petra Köpping (SPD) – wird das häufig als ­Sozialprotest der Bewohner abgehängter Landstriche interpretiert, auf den die Politik mit sozialen Maßnahmen reagieren müsse.

Und drittens eskaliert die Wohnungsnot in den Großstädten derart, dass das Reden über die Enteignung von Immobilienbesitz nicht mehr tabu ist. Starke Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse der großen Wohnungsunternehmen könnten das Problem zwar ­lösen, gehören aber keinesfalls zu den bevorzugten Mitteln der Regierenden. Deshalb kursieren andere Überlegungen: Ein attraktiverer ländlicher Raum könnte eventuell die städtischen Wohnungsmärkte entlasten.

Im Herbst hatte die Bundesregierung die Kommission »Gleichwertige ­Lebensverhältnisse« unter dem Vorsitz von Seehofer, Klöckner und Giffey eingesetzt. In sechs Fachgruppen sollte über kommunale Altschulden, Wirtschaft und Innovation, Raumordnung und Statistik, technische Infrastruktur, soziale Daseinsvorsorge, Arbeit und Teilhabe diskutiert werden, um Empfehlungen für die Bundesregierung zu entwickeln. Was Giffey, Seehofer und Klöckner jüngst präsentierten, ist jedoch keinesfalls ein großer Wurf. Der »Plan für Deutschland« besteht aus einer Reihe von Schlussfolgerungen, von denen wohl die banalste ist, dass es gleichwertige Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik nicht gebe. Unterschiede zwischen Stadt und Land werden angeführt, aber auch zwischen »prosperierenden Städten« und »schwierigen Vierteln«. Als Ursachen für diese Unterschiede werden der demographische Wandel, die Globalisierung, die Digitalisierung und die Nachwirkungen der deutschen Teilung benannt.

Während auch kulturelle Faktoren wie die »stärkere Individualisierung« ­sowie eine »zunehmende Vielfalt an Lebensstilen und Formen des Zusammenlebens« als Ursachen erwähnt werden, kommen die Folgen der Spar- und Privatisierungspolitik der vergangenen 25 Jahre nicht zur Sprache, die unter anderem die Kommunen ­getroffen haben. Mit der Privatisierung von Post und Bahn, Kürzungen im Bildungs- und ­Gesundheitswesen und dem Zusammenlegen von Verwaltungseinheiten wurde in etlichen ländlichen Regionen nicht nur an der technischen und administrativen Infrastruktur gespart, es werden Grundlagen der gesellschaftlichen Versorgung nahezu abgeschafft. Anders als es die Propaganda der AfD und anderer Rechtspopulisten darstellt, tragen dafür nicht »linke Gutmenschen« und zwischen internationalen Metro­polen umherfliegende »urbane Eliten« die Verantwortung, sondern maßgeblich die Apologeten der Austeritätspolitik und des freien Marktes aus Union, SPD und FDP.

Raus aus dem Land

Als Mittel gegen die so verursachte Misere empfehlen die Kommissionsvorsitzenden, der Bund solle künftig ­verarmte Regionen in Ost- wie Westdeutschland fördern. Dies dürfte die wichtigste politische Empfehlung des Papiers sein: die Verstetigung und Verallgemeinerung der Bundesförderung für deindustrialisierte Gegenden, deren Industrien geschlossen werden.

Wo kein Zug mehr hält, das Freibad schließt und der Arzt 30 Kilometer entfernt ist, sollen künftig Ehrenamtliche die Lage retten.

Darüber hinaus enthält das Papier viele unverbindliche und zumeist vage Anregungen und Absichtserklärungen – etwa zur Entwicklung ländlicher Räume und regionaler Arbeitsmärkte, zur besseren regionalen Verteilung von Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen, zur Verbesserung der Telekommunikations- und Verkehrsnetze sowie zu Investitionen, um Ortskerne aufzuhübschen. Entsprechende Maßnahmen dürften allerdings zu regionalen Verteilungskonflikten führten – womit sich auch erklären ließe, weshalb die Vorschläge so wenig konkret ­werden.

Grundlegende Änderungen in sozialer Hinsicht sind nicht zu erwarten. ­Soziale Transferleistungen wie das Wohngeld und ALG II bleiben zum großen Teil kommunale Aufgaben. Kommunen, in denen viele arme Menschen leben, werden so weiterhin finanziell deutlich stärker belastet als andere. Zum Problem überschuldeter Kommunen hält das Papier fest: »Der Bund kann einen Beitrag leisten, wenn es einen nationalen politischen Konsens gibt, den betroffenen Kommunen einmalig gezielt zu helfen. Ein solcher Konsens setzte voraus, dass sichergestellt wird, dass eine neue Verschuldung über ­Kassenkredite nicht mehr stattfindet.« Sollte also unter Umständen eine einmalige Schuldenhilfe geleistet werden, müssten sich die Kommunen danach erst recht dem Spar­zwang beugen – nach besseren Zeiten klingt das nicht.

Angesichts einer derartigen Absage, die Lage verschuldeter Kommunen strukturell zu verbessern, verwundert es nicht, dass auch in dem Papier ein Wundermittel empfohlen wird, das sich seit einigen Jahren großer Beliebtheit erfreut: die ehrenamtliche Tätigkeit. Wo kein Zug mehr hält, das Freibad schließt und der Arzt 30 Kilometer entfernt ist, sollen künftig Ehrenamtliche die Lage retten. Deshalb hat die Bundesregierung jüngst sogar die »Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt« gegründet. Allerdings hat die Sache einen Haken: Das Milieu, aus dem sich eine derart aktivierte »Zivilgesellschaft« vorwiegend rekrutiert, verlässt derzeit eher den ländlichen Raum, als dort zu bleiben, um Ehrenämter anzunehmen.