Kulturzentrum »Gabriela Mistral« in Santiago de Chile

Kein schöner Bau

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Das Ziel war klar: Ein grauer Klotz sollte das 40 000 Quadratmeter große Gebäude nicht werden, sondern ein Bau in zentraler Lage, der später der Bevölkerung offenstehen würde. Dafür mussten Lawner und sein fünfköpfiges Architektenteam zunächst Wege finden, ihren ehr­geizigen Plan einer Konstruktion aus Beton und Cortenstahl zu realisieren, ohne die Prinzipien der neuen Gesellschaft einer allzu rationellen Bau- und Arbeitsweise zu opfern. Mahnend in Erinnerung geblieben war auch das prekäre Arbeiterheer, das Ende der fünfziger Jahre Lúcio Costas und Oskar Niemeyers Vision der neuen brasilianischen Hauptstadt Brasilia aus dem Boden gestampft hatte.

Statt auf stalinistische Strenge zielten die Architekten auf Erneuerung und Demokratie. Der britische Kybernetiker Stafford Beer entwarf eigens ein revolutionäres Modell für ein Baukomitee, bei dem alle Pläne und Aufgaben auf Versammlungen von Führungskräften und Arbeitern diskutiert wurden. Auch Steuerungssoftware kam zum Einsatz. Vor allem die Hilfe Tausender Freiwilliger ­ermöglichte die pünktliche Fertigstellung zehn Tage vor Beginn der Konferenz. Gemeinsam feierten alle ein üppiges Richtfest. Das Essen stellten die Bauunternehmen, die Regierung besorgte den Rotwein.

Von der Konferenz bekam die Bevölkerung nur einen flüchtigen ­Eindruck. Es kamen »Afrikaner und Asiaten, in ihrer spektakulären Kleidung«, erinnert sich Lawner. Der chilenische Schriftsteller Pedro Lemebel schwadronierte von »den Eben­holzarmen« afrikanischer Delegierter. Ebenso schwärmerisch, wenn auch aus anderen Gründen, würdigt Helmut Frenz, der spätere Generalsekretär von Amnesty International in der Bundesrepublik, die Konferenz in seinen Memoiren. »Rückblickend kann ich feststellen, dass es gut für Chile gewesen ist, die Weltöffentlichkeit in der Hauptstadt beherbergt zu haben. Die antikommunistische Propaganda war für eine Weile verstummt.«

Noch im September 1972 wurde das Gebäude als Metropolitanes Kulturzentrum Gabriela Mistral der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dort, wo vorher UN-Gesandte diskutiert hatten, fanden dann kulturelle Ver­anstalungen, Konzerte und Ausstellungen statt, die oft von den Künstlern und Künstlerinnen organisiert wurden. Auch die Kantine stand allen offen, und täglich wurden bis zu 5 000 Mahlzeiten zu günstigen Preisen angeboten. Im angeschlossenen Büroturm brachte die Regierung die Frauen- und Jugendsekretariate unter, aus denen in den kommenden Jahren eigenständige Ministerien werden sollten.

 

Doch diese Phase endete ein Jahr später. Am 11. September putschte das Militär. Noch am selben Tag besetzen Soldaten das Gam. Die von Kunstschaffenden aus aller Welt gestiftete Inneneinrichtung wurde ­geplündert oder zerstört. Die Junta von General Augusto Pinochet machte das Gebäude zu ihrem Hauptquartier und benannte es nach einem autoritären Präsidenten des 19. Jahrhunderts in »Edificio Diego Portales« um. Im November 1974 wurde der Pastor Helmut Frenz dort von Pinochet empfangen. Er wollte dem Diktator klarmachen, welches Ausmaß die Folter- und Mordmethoden der Geheim­polizei angenommen hatten. Doch Pinochet war nur zu gut informiert und zeigte sich wenig reuig: »Das Volk ist vom Bazillus des Kommunismus befallen. Deshalb muss ich den Kommunismus ausrotten.«

So wurde das Gam für eine ganze Generation zu einem furchteinflößenden Gebäude, das man besser mit gesenktem Kopf passierte. Nach dem »No«, jenem Plebiszit, mit dem die Bevölkerung Ende der achtziger Jahre die Rückkehr zu einer zivilen Regierung ermöglichte, wurde das Gebäude nur spärlich genutzt. Zudem weigerte sich das Verteidigungs­ministerium, die Büroräume des Turms freizugeben. Ein Großbrand schien im März 2006 das Schicksal des Baus zu besiegeln: Die rechte Opposition und Immobilienspekulanten forderten den Abriss. In letzter ­Sekunde intervenierte die damalige sozialdemokratische Präsidentin ­Michelle Bachelet und beauftragt ein Ministerialkomitee mit dem Umbau.

Die Wiedereröffnung des Baus als Centro Cultural Gabriela Mistral ­oblag 2010 der nach der Wahlniederlage des sozialdemokratischen Wahlbündnisses CPD installierten rechten Regierung. Statt einer Kantine entstanden im Gam ein schickes Kulturcafé, eine teure Weinhandlung und ein »Designlabor« für Turnschuhe. Die Preise vieler Veranstaltungen sind wenig kompatibel mit dem chilenischen Mindestlohn und der Vision Allendes, »dass die Bevölkerung hier ins Herz Santiagos kommt, um Theater, Kino oder Tanz zu sehen«.

Die jüngere Generation eignete sich das Gam derweil auf ihre Weise an. Unter den überdachten Plätzen des Gebäudes treffen sich regelmäßig Gruppen, die zum Klang von Musik aus mitgebrachten Aktivboxen eigene Choreographien einstudieren. Lawner sieht ihnen gern zu, wenn er in der Gegend ist. Manche erkennen den 81jährigen sogar. In diesem Jahr hat er den nationalen Architekturpreis für sein Lebenswerk erhalten, das neben dem Gam auch städte­planerische Entwürfe für ärmere Viertel und Siedlungen von Landbesetzern umfasst. Die Popularität nutzt er vor allem dazu, »das Erbe der Unidad Popular« zu verteidigen – so auch während der exklusiven »Volksküche« vor einigen Wochen. Ja, es sei toll, dass die Leitung des Gam bis 2022 ein digitales Archiv zur eigenen Geschichte anlegen wolle. »Aber genau so wichtig ist es, das Ver­sprechen zu halten, die Büroräume im Turm des Gam der Gemeinde Santiagos und sozialen Initiativen zu übergeben, wie es die Vorgänger­regierung versprochen hat.«

Der derzeitige Präsident des Verwaltungsrats des Kulturzentrums, Andrés Rodriguez, hat diese Forderungen bisher ignoriert. Er ist vor allem dafür bekannt, im Stadttheater Santiagos jahrelang für die chilenische Militärjunta pompöse Galas organisiert zu haben. Seine Ernennung vor einem Jahr war eigentlich ein Skandal und dennoch schwiegen viele chilenische Kulturschaffende und überließen die Kritik an der Personalie Rodriguez den Gewerkschaftern, die im Gam arbeiten. Diese sind in diesen Tagen vor allem auf der Straße zu finden. Hier auf der Alameda, wo einst an endlosen Tischreihen das Richtfest ihrer Arbeitsstätte gefeiert wurde, stehen Barrikaden, Flugblätter gegen das repressive Vorgehen der Regierung werden verteilt. »Wir rufen dazu auf, dem Potential und der Wut dieser Menschen hier zu vertrauen«, schwor ein Sprecher der Bühnen­arbeiter in der vergangenen Woche auf den nächsten Streik ein. »An ­allen Arbeitsplätzen müssen die Menschen sich organisieren und öffentliche Versammlungen abhalten.« Das Gam ist dafür ein geeig­neter Ort. Seit Tagen finden dort Nachbarschaftsversammlungen statt, auf denen die nächsten Schritte diskutiert werden.