Die Lehren aus dem NSU-Komplex gelten auch für die Bewertung des Anschlags von Halle

Überwachen und strafen

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Die »Generation NSU« rief sich mit dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke wieder in Erinnerung. Hier zeigte sich, dass die For­derungen von Gruppen wie NSU-Watch oder des Tribunals »NSU-Komplex auflösen« nach vollständiger Aufklärung und der Abschaffung des Verfassungsschutzes keineswegs übertrieben wa­ren. Dadurch wollte man Morde wie den an Lübcke verhindern. Neonazis wie Lübckes mutmaßlicher Mörder Stephan Ernst und dessen mutmaßlicher Komplize Marcus H. konnten sich seit den frühen neunziger Jahren organisieren. Während Ernst bereits damals Brand- und Bombenanschläge verübte, die sich gegen Migranten und Geflüchtete richteten, beteiligten sich andere, von der damaligen rassistischen Mobilisierung angestachelt, an Pogromen wie in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda. Später halfen einige Neonazis dieser Altersgruppe dem NSU bei seiner Mord- und Anschlagsserie. 2012 reorganisierte sich dieses terroraffine Neonazimilieu und verwendete dafür erneut unter anderem sein altes Label »Combat 18«. Ob diese Neonazis nun im direkten Kontakt mit dem NSU standen oder nur derselben Generation extremer Rechter angehören: Statt dieses von V-Leuten des Inlandsgeheimdiensts durchsetzte Netzwerk aufzudecken, halten die Behörden Akten weiter unter Verschluss oder schredderten sie. So bleibt das Netzwerk weiterhin gefährlich.

Die gegenwärtige rassistische Mobilisierung ermuntert wiederum jüngere Neonazis zu Terror. Sowohl durch Stimmungsmache in sozialen Medienwie Facebook und Twitter als auch durch die Pegida-Aufmärsche und die Wahlerfolge der AfD fühlt sich die »Generation 2015« ermutigt. Diese Neonazis verbreiten Straßenterror gegen Einzelpersonen und greifen Geflüchtetenunterkünfte mit Brand- oder Sprengsätzen und Waffen an. Sie gehen – wie Nino K., der sogenannte Moscheebomber von Dresden – einzeln terroristisch gegen Menschen vor, die nicht in ihr Weltbild passen, oder sie organisieren sich in Gruppen wie »Revolution Chemnitz« oder der »Gruppe Freital«. Der Wunsch der Mitglieder von »Revolution Chemnitz« war es, dass der NSU im Vergleich zu ihnen wie eine »Kindergartenvorschulgruppe« aussehen sollte. Einige Angehörige der »Generation 2015« haben eine längere neonazistische Vorgeschichte, andere kamen neu hinzu.

Bei der Betrachtung des Anschlags von Halle fallen als erstes die Parallelen zumAttentat des norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik sowie dem von Christchurch auf. Breivik ­tötete am 22. Juli 2011 77 Menschen in Norwegen. Rechter Terror zielt auch immer darauf ab, Nachahmer zu inspirieren, und Breivik setzte ohne Zweifel das von ihm gewünschte Fanal. Seinem Beispiel folgen weltweit Attentäter mit eigenen Manifesten und Videos. Ob beim OEZ-Attentat, das am Jahrestag des Breivik-Anschlags 2016 in München zehn Tote forderte, oder beim Christchurch-Attentäter, der am 15. März 2019 51 Menschen ermordete: Überall finden sich ähnliche ideologische Versatzstücke wie die rassistisch-antisemitische Erzählung vom »Großen Austausch«, auf deren Bedeutung ­Alexander Winkler und Judith Goetz hingewiesen haben (Jungle World 42/2019). Die Täter aus dieser Gruppe handeln häufig allein. Über das Internet stehen sie weltweit mit Gleichgesinnten in Kontakt, mit denen sie sich über Terrorkonzepte, Anleitungen zum Waffenbau oder zur Tatausführung austauschen. Wenn sie zur Tat schreiten, versorgen sie ihre Online-Community mit Video- und Textbotschaften in der Hoffnung auf eine weitere Eskalation.