Der Kapitalismus stiehlt Frauen die Zeit

Zeit ist mehr wert

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Die Ungleichbehandlung hat andere Gründe. Wirkungsmächtig werden hier geschlechtliche Deutungen der wirtschaftlichen Strukturen. Gerade in biographischen Umbruchsphasen orientieren sich viele an bereits Erprobtem, weil sich Unsicherheit reduzieren lässt, wenn andere Menschen es zuvor schon genauso gemacht haben. So nimmt ein Vater keine zwölf, sondern nur zwei Monate Elternzeit, weil sein Kollege es genauso gemacht hat. Studien zur Elternzeitverteilung zeigen, dass Männer oft annehmen, zwei Monate Elternzeit seien bei ihnen sozial erwünscht. Der Arbeitgeber geht davon aus, dass der Vater nur zwei Monate in Elternzeit geht, und seine Vorurteile werden bestätigt. So wird der von der Rechtsordnung geschlechtsneutral formulierte Anspruch auf Elternzeit immer noch überwiegend von Müttern in Anspruch ­genommen, dadurch verbringen sie viel Zeit mit einem Säugling.

Zwischen dem Menschen und seiner Arbeit besteht ein wechselseitiges Wirkungsverhältnis. Der Mensch erlebt sich als wirkmächtig, weil sich infolge seines Zutuns an seinem Arbeitsmaterial etwas verändert. Und darüber hinaus verändern sich Menschen mit der Ausübung einer Tätigkeit, sie eignen sich diese an und gewinnen in ihr Routine, bis sie sprichwörtlich in Fleisch und Blut übergeht. Der Mensch wird, was er tut. Die Tätigkeiten wirken nicht zuletzt auf sein Geschlecht zurück. Verallgemeinert sich die geschlechtliche Zuschreibung einer Tätigkeit, da es mehrheitlich Frauen sind, die Versorgungstätigkeiten ausüben, wirkt sie nicht nur individuell auf die einzeln tätigen Subjekte zurück, sondern verselbständigt sich darüber hinaus als vermeintliche Wesenseigenschaft und wird damit zu einem strukturierenden Geschlechtsmerkmal. Fürsorge gilt dann nicht nur als weibliche Eigenschaft, Weiblichkeit konstituiert sich dann auch durch Fürsorge.
Soweit die Fürsorge nicht innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft erbracht wird, haben Frauen, die Fürsorge leisten, gegenüber Männern, die durch Frauen von ihrer Fürsorgeverpflichtung befreit werden, einen Konkurrenznachteil, der sich in der gender pay gap niederschlägt.

Darüber hinaus bewältigen Frauen aber auch den Koordinationsaufwand, der entsteht, weil in der kapitalistischen Wirtschaft Bereiche getrennt werden, die zur Bewältigung des Alltags aufeinander abgestimmt werden müssen. Die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um für eine andere Person sorgen zu können, stehen der Verwertungslogik entgegen. Deshalb sind die Bereiche zwar aufeinander angewiesen, aber nicht vereinbar. Weil die Wirtschaft von Arbeitskräften abhängig ist, ist sie auf die Versorgung abhängiger Personen angewiesen, die sie selbst nicht gewährleisten kann.

Was in der derzeitigen Diskussion als Vereinbarkeitsdilemma problematisiert wird, ist der Verwertungslogik struktureigen. Frauen wird im Kapitalismus die Zeit gestohlen; Zeit, sich ungestört um ihre Liebsten zu kümmern, zu sinnieren oder entspannt wie ein Mann auf dem Arbeitsmarkt abzuhängen. Die Sozialpsychologin Frigga Haug macht darauf aufmerksam, dass »das Kalkül der verausgabten Zeit den Wert auch zu einem Fluch« mache, »so dass gesellschaftlich sich schließlich nur bewähren kann, was möglichst wenig lebendige Zeit verschlingt – dies ist das Modell des Fortschritts und der Verarmung in einem«.