Das iranische Regime zeigt Verfallserscheinungen

Die Ayatollahs werden nervös

Der Umgang mit dem Abschuss eines ukrainischen Verkehrsflugzeugs offenbart Verfallserscheinungen im iranischen Regime. Das bietet der Opposition neue Chancen.

Die iranische Luftabwehr sei in höchste Alarmbereitschaft versetzt und informiert worden, dass US-amerikanische Cruise Missiles im Anflug seien. Als das verdächtige Objekt auftauchte, sei das Kommunikationssystem überlastet gewesen oder gestört worden, der für den Raketenabschuss Verantwortliche habe nur zehn Sekunden Zeit gehabt und eine »schlechte Entscheidung« getroffen. So stellte General Amir Ali Hajizadeh, der Kommandant der Luftwaffe der Revolutionswächter, nach drei ­Tagen des Leugnens den Abschuss eines ukrainischen Passagierflugzeugs am Mittwoch vergangener Woche dar, bei dem 176 Menschen starben. Hajizadeh übernahm die »volle Verantwortung«, behauptete aber auch, die Revolutionswächter hätten um eine Einstellung des zivilen Luftverkehrs ersucht, die jedoch abgelehnt worden sei – von wem, sagte er nicht.

Alles, was dem Ruf der Revolutionswächter als unschlag­barer Truppe schadet, ist
gefährlich für das Regime.

Mit Hajizadehs Bekenntnis wird eine dreiste Lüge durch eine Version ersetzt, die auf weniger auffällige Weise im Widerspruch zu den Fakten steht. Vollständige Aufklärung würde zu viel über die Funktionsweise und Machtstrukturen des Regimes offenlegen und dessen Schwäche zeigen. Man hofft offenbar, internationale Untersuchungen mit der Begründung unterbinden zu können, dass mit dem Eingeständnis, man habe das Flugzeug abgeschossen, doch alles geklärt sei. Offenbar soll ein Sondergericht eine für das Regime akzeptable Version festlegen, am Dienstag wurden erste Verhaftungen gemeldet.

Es überrascht nicht, dass Hajizadeh versucht, den USA die Schuld zuzuschieben. Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass das US-Militär iranische Kommunikationssysteme störte, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass die militärische Befehlskette im sensiblen Bereich mobiler und vernetzter Luft­abwehrsysteme wegen Überlastung nicht funktionierte. Sollte dies doch der Fall gewesen sein, wäre es sehr ungewöhnlich und unverantwortlich, wenn ein nicht informierter Soldat eine Rakete abfeuerte, ohne zu wissen, wo­rauf. Es waren keine Cruise Missiles im Anflug auf Teheran, zudem fliegen ­diese in der Nähe ihre Ziels sehr niedrig und gehen nicht in den Steigflug. Flugrichtung und -winkel der abgeschossenen Boeing deuteten nicht auf eine ­Bedrohung hin. Wenn die Revolutionswächter erfolglos darauf drängten, den zivilen Flugverkehr einzustellen, sollte man annehmen, dass die Luft­abwehr über Linienflüge in ihrem Feuer­bereich informiert wurde. Wie es zu dem irrtümlichen Abschuss kam, ist da­her weit schwerer zu erklären als etwa die Verwechslung des Passagierflugzeugs MH 117 mit einer ukrainischen Mi­litärtransportmaschine.

Es gibt einen guten Grund dafür, den Revolutionswächtern etwas abzusprechen, was ihnen auch deren Feinde bislang zuerkannten: Professionalität. ­Militärisch betrachtet waren die Leistungen beachtlich. Die Revolutionswächter haben es mit einem vergleichsweise geringen Budget geschafft, für das US-Militär eine ernstzunehmende Bedrohung zu werden, und ihre Interventionstruppen, die al-Quds-Einheiten, führen mit einigem Erfolg in drei Ländern Bürgerkrieg. Der Iran verfügt jedoch nur über ein Bruttoinlandsprodukt auf dem Niveau Österreichs, das Imperium der Ayatollahs ist überdehnt. Dies könnte dazu geführt haben, dass andere militärische Bereiche vernachlässigt werden, also etwa unqualifiziertes Personal in der Luftabwehr eingesetzt wird.

Das ist derzeit Spekulation. Sicher hingegen ist, dass alles, was dem Ruf der Revolutionswächter als unschlagbarer Truppe schadet, gefährlich für das Regime ist. Denn vor allem die Revolu­tionswächter verhindern, dass aus den Massenprotesten eine Revolution wird. Die Niederschlagung der Proteste gegen die Wahlmanipulation 2009 zeigte endgültig, dass das Regime nicht reformierbar ist. Ruhig war es danach nie, seit etwa zwei Jahren aber reißen die Proteste kaum noch ab. Bei der jüngsten Protestwelle wurden 1 500 Menschen erschossen und 7 000 inhaftiert. Aus Protest gegen den Abschuss des ukrai­nischen Verkehrsflugzeugs kam es am Wochenende erneut zu Demonstrationen. Parolen wie »Revolutionswächter, Schande über euch. Verlasst den Iran!« und »Tod dem Diktator!« lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Viele Demonstrierende forderten ein Referendum über die Staatsform; die Is­lamische Republik zur Abstimmung stellen zu wollen, ist aus der Sicht des Regimes Hochverrat. Auch »Soleimani ist ein Mörder« war zu ­hören. Mit der Tötung des Kommandanten der al-Quds-Einheiten ­haben die USA keineswegs einen ­»nationalen Schulterschluss« bewirkt; die ira­nische Opposition ist ratio­naler als westliche Journalisten, die dergleichen kolportierten. Seit Ende 2017 wurde die Forderung nach einer Beendigung der Auslandsinterventionen, die Qasem Soleimani leitete, immer wieder erhoben.

Bei der Beerdigung Soleimanis hat das Regime noch einmal seine Stärke gezeigt. Nicht alle Teilnehmer dieses Massenaufmarschs kamen freiwillig, doch das Regime hat eine Basis ideologisch überzeugter Anhänger und Pro­fiteure. Die Revolutionswächter, die einen erheblichen Teil der iranischen Wirtschaft kontrollieren, sind beides. Die überwiegend aus Wehrpflichtigen bestehende Armee könnte sich gegen das Regime wenden, wenn es zur Revolution käme, eben deshalb hat Ayatol­lah Khomeini bald nach der Machtübernahme die Revolutionswächter gegründet.

Dass bei Soleimanis Beerdigung über 50 Menschen starben – weitaus mehr als beim US-Raketenangriff auf dessen Konvoi –, weil wegen übereifriger Mobi­lisierung und unzureichender Sicherheitsvorkehrungen eine Massenpanik ausbrach, konnte das Regime noch als tragischen Unglücksfall abtun. Der Umgang mit dem Abschuss des ukrai­nischen Verkehrsflugzeugs aber war höchst unprofessionell. Ausländische Experten lassen sich nicht lange an der Nase herumführen, wenn sie durchlöcherte Wrackteile sehen. Man hätte mit Verweis auf die Spannungen mit den USA jede ausländische Beteiligung an der Untersuchung ablehnen können, dann aber hätten fast alle Fluggesellschaften ihre Flüge in den Iran eingestellt. Oder man hätte den irrtümlichen Abschuss sofort eingestehen und den politischen Schaden so minimieren können. Stattdessen zeigten die Ayatollahs Unentschlossenheit, und das ist für eine Diktatur immer gefährlich.

In beiden Machtzentren des Iran, der Militärbourgeoisie der Revolutionswächter und der Klerikalbourgeoisie der Ayatollahs, herrscht offenbar so große Nervosität, dass kaum nachvollziehbare Fehler gemacht werden, die schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Die Tötung Soleimanis hat das Regime überrascht und verunsichert. Mit dem Angriff auf die wichtigste saudische Öl­anlage war es im vergangenen Jahr schon so weit gegangen, dass eine Steigerung einen Krieg unvermeidlich gemacht hätte. So blieb als Antwort nur der weitgehend folgenlose Beschuss von zwei US-Basen im Irak, eine eher symbolische Reaktion.

US-Präsident Donald Trump ist nicht bereit, in größerem Maßstab militärisch zu intervenieren, um den iranischen Einfluss in Syrien und im Irak zurückzudrängen. Die harten US-Sank­tionen tragen aber dazu bei, dass dem iranischen Regime die Mittel ausgehen. Das Imperium der Ayatollahs ist deshalb umso mehr darauf angewiesen, für seine Expansionspolitik auf die Ressourcen der neuen Einflussgebiete zurückzugreifen. Mit dem syrischen Regime Bashar al-Assads schloss der Iran im vergangenen Jahr Verträge unter anderem über Joint Ventures im Bausektor und den Ausbau der Infrastruktur. Man darf annehmen, dass auf iranischer Seite vor allem Unternehmen der Revolutionswächter profitieren, die mit der ökonomischen Erschließung der Einflussgebiete auch die ­Klientelbildung vorantreiben wollen. Beliebter werden die Iraner dadurch gewiss nicht.

Im Bürgerkriegsland Syrien kann Widerstand gegen die iranische Präsenz nicht offen zum Ausdruck kommen. Die Proteste im Libanon aber richten sich auch gegen die Hizbollah und damit deren iranische Herren. Ideologisch brisanter noch sind die Proteste gegen den iranischen Einfluss im Irak, überwiegend getragen von Schiitinnen und Schiiten, die zu repräsentieren das islamistische Regime beansprucht. Im »schiitischen Korridor«, den der Iran unter Kontrolle bringen möchte, und im eigenen Land wächst der demokratisch-säkulare Widerstand.

In dieser Situation ist die Blamage der Revolutionswächter und Ayatollahs im Umgang mit dem Abschuss der ukrainischen Boeing nicht nur ein PR-De­saster. Das Regime hat Unentschlossenheit und damit Schwäche, Inkompetenz und damit Verwundbarkeit in bislang nicht gekanntem Ausmaß gezeigt. Der für jede Diktatur unentbehrliche Nimbus der Unbesiegbarkeit schwindet. Es ist gewiss noch zu früh, die Islamische Republik abzuschreiben, doch angesichts der immer schlechter werdenden wirtschaftlichen Lage, der Verfallserscheinungen des Regimes und der Massenproteste von Beirut bis Teheran wird der Sturz des Regimes eine realistische Option.