30.01.2020
Die Vereinnahmung des Silone-Zitats zum Faschismus durch die Neue Rechte

Silones Warnung

Wie der linke Intellektuelle Ignazio Silone zum Kronzeugen der Anti-Antifa gemacht wurde.

Ignazio Silone, bürgerlich Secondino Tranquilli, wird häufig von Rechts­populisten zitiert, um den üblen Charakter des Antifaschismus zu entlarven. »Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ›Ich bin der Faschismus.‹ Nein, er wird sagen: ›Ich bin der Antifaschismus.‹« Der linke Intellektuelle Silone wird so zum Kronzeugen für die These, dass hinter dem Antifaschismus nichts anderes stecke als der Faschismus selbst und die Vorsilbe »Anti« nur der Verkleidung diene.

Nahtlos fügt sich das Zitat in eine politische Denkweise, die den Nati­onalsozialismus verharmlost und im Kampf gegen den Rechtsextremismus die größte Gefahr sieht. Aber ist das Zitat authentisch? Und wenn ja, welchen sich als Antifaschismus ausgebenden Faschismus könnte Silone gemeint haben? So ist zunächst einmal die Frage nach der Quelle des Zitats zu klären. Diese ist nicht Silone selbst, sondern der Schweizer Essayist, Literaturkritiker und Journalist François Bondy, mit dem Silone eine langjährige Freundschaft verband.

Der Kampf insbesondere gegen den italienischen Faschismus prägte Ignazio Silones Biographie.

In dem 1988 veröffentlichten Bändchen »Pfade der Neugier: Porträts« schreibt Bondy über eine Begegnung mit Silone: »Ich traf Silone in Genf am Tag, an dem er aus dem Exil nach Italien zurückkehrte, und plötzlich sagte er: ›Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Nein, er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus.‹ Viele Jahre später, als Antifaschismus in der Tat instrumentalisiert wurde und zu einem Slogan herunterkam, verstand ich, dass dieses kaustische Aperçu prophetisch war.«

Soweit bekannt, ist dies die einzige Quelle für den Silone zugeschriebenen Ausspruch; andere Belege sind nicht aufzufinden. Der zitierten Textstelle geht eine kursorische Schilderung wichtiger Stationen im Leben Silones voraus. Bondy charakterisiert seinen Freund als einen Menschen, der gerne und viel schwieg, um dann unerwartet profunde Einsichten kundzutun – wofür das Zitat als Beleg dienen soll. Damit endet das Kapitel über Silone.

Das ist quellenkritisch betrachtet nicht ideal, woraus bisweilen bereits der Schluss gezogen wurde, Silone habe die Aussage nie getätigt. Damit allerdings machte man es sich zu einfach, denn vieles spricht dafür, dass das Zitat authentisch ist. Bondy und Silone waren befreundet, beide brachen mit dem Stalinismus. Silone trat 1931 aus der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) aus, Bondy kehrte der Komintern anlässlich des Hitler-Stalin-Pakts den Rücken, beide blieben jedoch Sozialisten und arbeiteten aus dem Exil gegen den italienischen Faschismus und den Nationalsozialismus. Bondy schrieb über die deutschen Vernichtungslager in Polen, ­Silone über den Aufstieg Mussolinis.

Ein weiteres Indiz: Silone zitiert in seiner Geschichte des italienischen Faschismus den Schriftsteller, Philosophen und Parlamentsabgeordneten Francesco de Sanctis mit einer der ihm zugeschriebenen Sentenz sehr ähnlichen Aussage: »Die Reaktion zeigt nicht ihr wahres Gesicht, und wenn die Reaktion zum ersten Mal kommt und uns besucht, sagt sie nicht: Ich bin die Reaktion.« Mag sein, dass Bondy sich die beiden Sätze zum wiederkehrenden Faschismus aus­gedacht und seinem Freund posthum untergeschoben hat. Mag sein, dass Silone etwas anderes gesagt hat und Bondy sich daran 40 Jahre später (Silone kehrte 1944 aus dem Schweizer Exil nach Italien zurück) nur ­unzulänglich erinnern konnte. Das Zitat aber einfach als Fälschung zu verwerfen, ist nicht angebracht. Der Kontext, den Bondy liefert, ist zwar dünn, legt aber nahe, dass Silone und Bondy eine konkrete Gefahr vor ­Augen hatten. Immerhin war das Ende der faschistischen Regime in ­Europa zwar absehbar, als Silone nach Italien zurückkehrte, aber noch waren sie nicht geschlagen. Der Kampf insbesondere gegen den italienischen Faschismus prägte Silones Biographie.

Dass Silone das Aufkeimen eines neuen Faschismus fürchtete, noch bevor der Krieg gegen den herrschenden Faschismus gewonnen war, beruhte nicht auf einem vagen Gefühl, sondern war die Konsequenz des fundamentalen Bruchs, die der Ausschluss aus der Kommunistischen Internationale darstellte.

1900 als Sohn armer Bauern in den Abruzzen geboren, wird Silone mit 18 Jahren Mitglied der Sozia­listischen Jugend, 1921 spielt er eine Rolle bei der Spaltung der Sozialisten und der anschließenden Gründung der Kommunistischen Partei. 1922 wird er in Trient von einem Faschisten mit einem Messer verletzt. Nach dem Marsch auf Rom und der Machtübernahme Mussolinis wird Silone festgenommen, kommt wieder frei und arbeitet weiter im Untergrund, reist mit falschen Papieren zunächst nach Berlin, dann nach Katalonien. Dort wird er erneut verhaftet, entgeht durch Flucht der Auslieferung an ­Italien und landet in Paris, wo er 1925 erneut festgenommen und schließlich doch nach Italien abgeschoben wird. Zurück im Untergrund betätigt er sich in der Presse- und Propa­gandaarbeit, wird Mitglied des Politbüros und ist schließlich 1927 gezwungen, sich in die Schweiz abzusetzen. Ein Jahr später wird sein Bruder Romolo Tranquilli verhaftet, ihm wird die Beteiligung an einem Attentat vorgeworfen. Der Vorwurf ist konstruiert, Romolo unschuldig, doch das verhindert nicht, dass er wegen regierungsfeindlicher Aktivitäten und des Versuchs, illegal das Land zu verlassen, zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt wird. Dort stirbt er vier Jahre später an den Folgen von Misshandlung und Krankheit.

In Silones literarischen Werken ist der Faschismus stets präsent, sei es explizit als Gegenstand der Analyse in »Der Fascismus: Seine Entstehung und seine Entwicklung« oder als Bedrohung seiner Romanfigur Pietro Spina, die Ähnlichkeiten mit dem Autor hat. Der öffentliche, politische Silone bleibt sich genauso wie der literarische in einem Punkt stets treu: seinem entschiedenen Antifaschismus. Gegen Ende seines Lebens  beschrieb er sich als als »Christ ohne Kirche und Sozialist ohne Partei«.

Ein dunkles Moment in Silones Biographie darf jedoch nicht verschwiegen werden: seine Beziehung zum Polizeiinspektor Guido Bellone, dem Silone immer wieder Informationen über Interna der Kommunistischen Partei zuspielte und das auch noch nach der Machtergreifung der ­Faschisten. Erst 1930 gelang es ihm nach mehreren Versuchen, die Spitzeltätigkeit zu beenden und die Verbindung zu Bellone dauerhaft zu ­lösen. Wie viel Schaden er seinen Genossen in Italien zugefügt hat, ist eine offene Frage, ebenso die nach den Motiven Silones. Wollte er sich damit vor Verfolgung und Verhaftung schützen? War Bellone für ihn ein Vaterersatz oder pflegten beide gar ein erotisches Verhältnis? Wurde er erpresst oder hatte Silone schon früh Zweifel an der KPI und hielt sich eine Hintertür in die Legalität offen? Diese Fragen haben unter italienischen Historikern heftige Auseinandersetzungen ausgelöst. Unwahrscheinlich indes erscheint der Vorwurf, Silone sei von Anfang an ein faschistischer Spion gewesen: »Die politisch-intellektuelle Entwicklung und der Lebensweg des Schriftstellers zeigen doch«, schreibt seine Biographin Dagmar Ploetz, »eine solche Konsequenz, dass die Annahme, er sei von früh an nur ein Agent gewesen, keinen Sinn ergibt.«

Für die Frage nach der Bedeutung des Zitats spielt dieser Aspekt seiner Biographie ohnehin nur eine untergeordnete Rolle. Als Bondy den Freund in Genf traf, war dieser kein Polizeispitzel mehr, nahm aber ­immer noch am Kampf gegen den Faschismus teil und spielte dabei eine durchaus wichtige Rolle. In den Jahren vor seiner Rückkehr nach Italien organisierte er als Leiter des Auslandsbüros der italienischen ­Sozialisten die Untergrundarbeit des antifaschistischen Widerstands und entwickelte das Konzept der terzo fronte, einer dritten, unabhängig von den Kriegsparteien operierenden ­antifaschistischen Front, die durch individuelle Akte des Widerstands wie Boykott und Sabotage eine größere Bewegung in Gang setzen sollte. Obwohl er in engem Kontakt zum US-amerikanischen Geheimdienst stand, wurde er in der Schweiz ­wegen »kommunistischer und anarchistischer Aktivitäten« verhaftet, entging jedoch wegen seines schlechten Gesundheitszustands ­einem Gefängnisaufenthalt.

In Silones Selbstzeugnissen finden sich zahlreiche Beispiele für die Parallelen, die er zwischen dem italienischen Faschismus und dem Stalinismus zog; seine Anekdoten aus Russland zeichneten das Bild machtgieriger und zynischer Funktionäre.

Als Silone schließlich nach Italien zurückkehrte, war Paris befreit, die Rote Armee bis zur Ostsee vorgedrungen und Mussolini »beherrschte« vom Gardasee aus einen norditalienischen Marionettenstaat. Der Sieg über den Nazismus war abzusehen, der Krieg sollte jedoch noch mehr als ein halbes Jahr dauern. Dass Silone das Aufkeimen eines neuen Faschismus fürchtete, noch bevor der Krieg gegen den herrschenden Faschismus gewonnen war, beruhte nicht auf ­einem vagen Gefühl der Furcht, sondern war die Konsequenz der Erfahrung eines fundamentalen Bruchs in seiner Lebensgeschichte, die der Ausschluss aus der Kommunistische Internationalen darstellte.

In Biographien und Selbstzeugnissen Silones wird vor allem ein Schlüsselerlebnis geschildert, aus dem sich der Bruch entwickelt: die Reise nach Moskau, die er als Vertreter der kommunistischen Inlandsfront 1927 zusammen mit dem Vorsitzenden der KPI, Palmiro Togliatti, unternahm. Er selbst schildert die Szene in Moskau ausführlich in seinem 1967 ­erschienenen Sammelband »Notausgang«: In einer Sitzung des Seniorenkonvents wurden die versammelten Delegierten aufgefordert, einer Resolution gegen Trotzki zuzustimmen, in der dieser für ein Schreiben verurteilt werden sollte, das er an das Politbüro der KPdSU gerichtet hatte. Silone, dem dieses Schreiben gänzlich unbekannt war, bat um eine Erklärung. Ernst Thälmann, der die deutsche Delegation leitete und den Vorsitz innehatte, gab zu, das Dokument auch nicht zu kennen – ebenso die anderen Delegationen mit Ausnahme der russischen –, sah darin aber keinen Grund, der Resolution nicht zuzustimmen. Als sich Togliatti und Silone weigerten, ihre Zustimmung zu geben, kam es zum Eklat. Noch am selben Abend erhielten sie in ihrem Hotel Besuch von Wassil Kolarow von der bulgarischen Delegation, der ihnen im Auftrag Stalins erläuterte, warum ihre Zustimmung notwendig sei. Kolarow redete nicht lange herum: Was in dem Dokument stehe, für das Trotzki verurteilt werden sollte, sei völlig unerheblich. Es tobe ein Machtkampf zwischen unversöhnlichen Parteien in der russischen Führung und es gehe nur darum, sich auf die Seite der Sieger zu stellen – Stalins Seite.

Silone erinnert sich:  »Er goss Tee ein und sah uns an, wie etwa ein Lehrer zwei unartige Schüler ansehen könnte. ›Habe ich mich klar ausgedrückt?‹ fragte er, zu mir gewandt. ›Gewiß‹, antwortete ich, ›sehr klar‹. ›Habe ich dich überzeugt?‹ fragte er. ›Nein‹, antwortete ich. ›Warum denn nicht?‹ wollte er wissen. ›Ich müsse dir erklären‹, sagte ich, ›warum ich gegen den Faschismus bin‹.«

Es kam zu keiner Entscheidung über die Resolution; erst nach seiner Abreise erfuhr Silone, dass die Resolution als einstimmig angenommen galt. Von diesem Ereignis bis zum endgültigen Bruch mit der Komintern sollten noch vier Jahre vergehen, in denen sich Silone noch tiefer in die Machtkämpfe zwischen Stalin und Trotzki verstrickte, ohne je für eine Seite Partei zu ergreifen. Die Veröffentlichung von Auszügen persönlicher Briefe an einen aus der Partei ausgeschlossenen Freund, die dieser an das trotzkistische Lager weitergeleitet hatte, brachten Silone schließlich endgültig in Verruf. An Tuberkulose erkrankt, von allen politischen Ämtern freigestellt und von ehemaligen Freunden und Genossen verleumdet, entschied sich Silone schließlich, das Lavieren, Taktieren und wiederholte Einlenken aufzugeben. Für ihn war es einer der schmerzlichsten Momente seines Lebens. In einer Rede, die Silone 1942 in Zürich vor anderen »Ehemaligen« hielt, gab er zu, »den Akt der Befreiung, auf den wir heute stolz sind, mehr oder weniger widerwillig in einem Zustand der Verwirrung vollzogen« zu haben. Der ehemalige Kommunist, heißt es dort, »befindet sich in einem traumatischen Zustand, der an den eines ehemaligen Mönchs erinnert«.

In »Die Kunst der Diktatur« (1938) charakterisiert Silone den faschistischen Führer als einen, der die Macht um ihrer selbst willen anstrebt, nicht für Ideen, Prinzipien oder Programme, und der sich darum wenig um die Wahrheit, um Aufrichtigkeit oder Redlichkeit schert. Der faschistische Führer ist ein Zyniker und ein Opportunist, er fühlt sich nicht gebunden durch die eigenen Programme, gegebene Versprechen und geschlossene Verträge. Mussolini, so schreibt Silone 1934 in »Der Fascismus«, sei einer »der emporstieg, indem er seine Freunde verriet«: 1914 die sozialistische Partei, 1919 die Interventionisten, 1920 die Expansionisten, 1921 die Agrarier und so weiter. Der Faschismus selbst wiederum sei, so Silone, ideologisch amorph: »Das Studium der fascistischen Ideologie vermag das Wesen des Fascismus nicht zu offenbaren. Die fascistische Ideologie erklärt nichts, sie selbst bedarf einer Erklärung.« Der Faschismus verfüge, wie Umberto Eco es später ausdrücken sollte, »über keinerlei Quintessenz«. »In Wirklichkeit«, lässt Silone sein alter ego Tommaso den Zyniker in »Die Kunst der Diktatur« sagen, »bedeutet der Faschismus den Versuch, eine indiskutable soziale Ordnung zu schaffen.«

Wenn Silones Warnung vor der Wiederkehr des Faschismus aus ihrem historischen Kontext gelöst und für die Gegenwart dienstbar gemacht werden kann, dann gerade als Hinweis auf diese vorgeblich antifaschistische Kostümierung eines erstarkenden Neofaschismus.

Die Widersprüche und Konflikte moderner Industriegesellschaften löst der Faschismus nicht, er überdeckt sie durch Mystifizierung, durch die Behauptung einer vorzeitigen, überlieferten, natürlichen Ordnung, die einst intakt gewesen sei, nun aber durch das Treiben innerer und äußerer Feinde gestört werde. Es ist die historische Mission des Faschismus, diese vermeintliche verlorene Ordnung mit der modernen Industriegesellschaft zu versöhnen. »Der ­Faschismus«, schreibt Silone alias Tommaso, »trat nicht mit einem neuen Programm gegen die bereits bestehenden Programme auf – er hat die Programme der Gegner nicht einmal kritisiert; er entstand unabhängig von jeder Diskussion, indem er einfach leugnete, daß die Gesellschaft ein Problem ist, über das man diskutieren darf.«

Die Nation, das Volk, seine Beziehung zum Führer, die Hierarchie und innere Ordnung des Staats – sie alle bedürfen nicht länger der Er­klärung und Rechtfertigung, denn sie wurzeln alle im selben mythischen Urgrund, in dem das Soziale vollständig naturalisiert, schicksalhaft, gottgegeben ist, in dem der Einzelne sich der Gesellschaft bruchlos einfügt und jeder an seinem Platz steht. Diese Ordnung in Frage zu stellen, bedeutet bereits, sie zu zerstören. Die Intellektfeindlichkeit und der Antipluralismus der faschistischen Bewegungen legen davon beredtes Zeugnis ab. Sie kennen keine Kritiker, nur Feinde; wer kritisiert gibt sich mit seiner »«zersetzenden« Vernunft« selbst als Feind der mythischen Einheit von Nation, Staat und Führer zu erkennen und muss ausgemerzt werden, um die Krise, deren Ursache und Symptom er ist, zu überwinden.

Es sind gerade diese Züge, die Silone im, wie er es nannte, »stalinschen Absurdismus« wiedererkannte: den Opportunismus und Zynismus der Führer, die Verschleierung der Widersprüche im Mythos der neuen Ordnung, die Verunmöglichung der Kritik durch die Ausmerzung der Kritiker. In Silones Selbstzeugnissen finden sich zahlreiche Beispiele für die Parallelen, die er zwischen dem italienischen Faschismus und dem Stalinismus zieht; seine Anekdoten aus Russland zeichnen das Bild macht­gieriger und zynischer Funktionäre, von Intrigen, Verleumdungen, offensichtlichen Lügen und Diffamierungen. Durch die stark zentralisierte Struktur der Internationale strahlten die internen Machtkämpfe der russischen Führung auf die kommunistischen Parteien Europas aus, die ­unter ihrem Einfluss standen. Angesichts dessen erschien Silone Marx’ Diktum vom allmählichen Absterben des Staats in der sozialistischen ­Gesellschaft als »eine fromme Illusion«. Stattdessen sah er eine zunehmende Zentralisierung und Potenzierung von Macht, die die Gewaltmittel des sowjetischen Staats und die Hierarchie der Internationale zur ­Beförderung der (Privat-)Interessen und zum Machterhalt des inneren Parteiapparats der KPdSU verfügbar machte.

Die Schauprozesse und Morde an politischen Gegnern dienten aber nicht nur dem Kampf um die Führung des Parteiapparats, sondern, wie ­Silone sich ausdrückt, sollten auch die »Verschärfung der inneren ­Gegensätze in der Sowjetunion« verschleiern, ein Prozess, in dem der Marxismus zur »Ideologie des ­Proletariats« erhoben und jegliche Kritik als Versuch faschistischer ­Infiltration gedeutet wurde. »Marx selber«, sagte Silone in einem Interview, das Bondy 1966 mit ihm führte, »hat den Ausdruck Ideologie stets als eine pejorative Bezeichnung verwendet, als Inbegriff eines abstrakten und leeren Denkens. Wenn daher die Marxisten diesen Terminus ­adoptiert haben, um zusammenfassend ihre Vorstellung von Geschichte, Soziologie und Politik zu umreißen, machen sie davon unwillentlich den rechten Gebrauch. Ich habe kommunistische Führer von hoher Bildung gekannt, die solchen Einwänden niemals irgendwelche Beachtung schenken wollten, weil sie davon ausgingen, daß die von der Partei hochgehaltenen ›Wahrheiten‹ nur Werkzeuge seien, bei denen es allein auf die Wirksamkeit unter den ­Massen ankomme. Ich sehe keinen wesensmäßigen Unterschied zwischen diesem Gesichtspunkt und dem der faschistischen Führer. Auch er lässt keine Kritik durch den Gegner zu, erlaubt keinerlei Überprüfung dogmatischer Behauptungen und setzt folglich die Diktatur voraus.«

1936 regte die deutschsprachige Moskauer Exilzeitschrift Das Wort ­einen Briefwechsel zwischen Silone und dem Schriftsteller Ernst Ottwalt über Silones gerade erschienenen Roman »Brot und Wein« an. Silone ging zunächst darauf ein, ließ die ganze Sache dann jedoch platzen und schrieb stattdessen einen offenen Brief nach Moskau, der in der Baseler Arbeiter-Zeitung abgedruckt wurde.

Aus »aktuellem Anlass« – gemeint waren die Anfänge der »Großen Säuberung«, der in den Folgejahren Millionen zum Opfer fallen sollten, darunter zahlreiche prominente Bolschewisten und noch im selben Jahr Ernst Ottwalt selbst – könne er nicht mehr erlauben, schrieb er, dass sein Name in Das Wort erscheine. Dieser für einen Schriftsteller recht knappe Brief stellt in gedrängter Form die vielleicht schärfste Verurteilung der sowjetischen Verbrechen dar, die von Silone überliefert ist. Die Prozesse gegen Sinowjew, Kamenew, Bucharin, Radek und andere alte Bolschewistenkämpfer, für die Silone nach eigener Aussage keinerlei Sympathien hegte, bezeichnete er als »Kollektivmord, der an allen jenen verübt wird, die mit der herrschenden politischen Linie nicht einig gehen«, und vergleicht sie direkt mit den faschis­tischen Gerichten, »Vernichtungs­maschinen, mit denen man die politischen Gegner ausrottet«. Hier wie dort sei die Regierung »zu schwach und zu feige, um mit ihnen eine ehrliche Aussprache und einen ehrlichen Kampf über die grundlegenden Fragen des Landes aufzunehmen«, und versuche stattdessen, ihre Kritiker nicht nur physisch auszu­löschen, sondern sie durch falsche Anschuldigungen, gefälschte Beweise und ­erpresste Geständnisse auch über den Tod hinaus zu dis­kreditieren. Silone geißelte die Instrumentalisierung des Antifaschismus in diesen Prozessen, in denen die Angeklagten und jene, die für sie das Wort ergriffen, verdächtigt wurden, Agenten der Gestapo und heimliche Faschisten zu sein.

»Ich bin in der Tat überzeugt«, schloss er, »dass wir nicht so sehr und jedenfalls nicht in der Hauptsache materieller Mittel bedürfen, um gegen den Fascismus gewappnet zu sein. Was wir vor allem brauchen, ist eine andere Art, das Leben und die Menschen zu betrachten. Ohne diese ›andere Art, das Leben und die Menschen zu betrachten‹, würden wir selber Fascisten werden, meine ­lieben Freunde, nämlich: rote Fascisten! Nun, was ich Ihnen ausdrücklich erklären musste, ist, dass ich mich weigere, ein Fascist zu werden, und wenn es auch ein roter Fascist wäre.«
Es ist dieser »rote Faschismus«, von dem Silone 1944 in Genf sprach; eine Warnung, die Bondy im Nach­hinein geradezu prophetisch erscheint angesichts des Ungarischen Volksaufstands, des Prager Frühlings und des 17. Juni 1953, der Mauertoten am »Antifaschistischen Schutzwall« und der vielen Millionen, die in den Gulags, bei Aufständen, »Säuberungen« und Protesten ermordet und oft ­genug als Agenten der »imperialistischen« und »faschistischen Westmächte« diffamiert wurden. Die Parallele, die Silone zog, ist, beschränkt man sich auf die genannten Aspekte, sicher nicht völlig substanzlos. Sie widerspricht aber dem Silone, der in »Der Fascismus« dazu aufruft, den Faschismus mit den Mitteln des dialektischen Materialismus zu bekämpfen und ihn aus seiner Genese heraus zu verstehen. Für den Verfasser von »Der Fascismus« ist der Faschismus eine Form reaktionärer Politik, die einen spezifischen historischen Ort hat. Er tritt auf als Reaktion auf eine tiefe soziale, ökonomische und kulturelle Krise in modernen kapitalistischen Industriegesellschaften mit bestimmten Klassenkonstellationen, einer politisch ­unreifen oder geschwächten Arbeiterbewegung und einem zur Lösung der Krise unfähigen politischen Establishment. Er hat spezifische Eigenschaften, ist aber doch so amorph, oder vielleicht besser polymorph, dass er sich je nach Perspektive und Zeitpunkt der Betrachtung anders darstellen muss, ja sogar zu sich selbst im Widerspruch zu stehen vermag, ohne dass diese Widersprüchlichkeit dem Erfolg des Faschismus abträglich wäre. Tatsächlich kommt Silones Beschreibung des italienischen Faschismus in dieser Hinsicht dem Problem sehr nahe, das Umberto Eco in seiner Vorlesung zum »Urfaschismus« aufwirft.

Wenn schon der italienische Faschismus nur schwer an der Wurzel zu fassen ist, wie groß wird das ­Problem dann erst, wenn der Blick über Italien, ja Europa hinaus aus­gedehnt wird? Wie kann man dann noch zu einer klaren Bestimmung dessen kommen, was Faschismus ausmacht? Sollte man nicht besser von »Faschismen« in der Mehrzahl sprechen? Und was ist diesen verschiedenen Faschismen gemeinsam, das einen gemeinsamen Oberbegriff ­gestattet? Eco greift dabei auf Wittgensteins sprachphilosophisches Konzept der »Familienähnlichkeit« zurück und schlägt eine Liste typischer Merkmale eines, wie er es nennt, »Urfaschismus« vor, die als Kristallisationspunkt realer, historischer wie zeitgenössischer, Faschismen dienten. So entsteht eine Familie von Phänomenen, die zusammen den Namen »Faschismus« tragen, die aber nicht alle die gleichen Eigenschaften aufweisen müssen, ja deren Eigenschaften sich sogar widersprechen können. Selbst wenn zwei Phänomene keinerlei gemeinsame Merkmale hätten, so bliebe doch »aufgrund der kontinuierlichen ­Reihung abnehmender Ähnlichkeiten durch eine Art illusorischer Tran­sitivität eine Familienähnlichkeit erhalten«, so Eco. »Der Faschismus lässt sich als Bezeichnung für die unterschiedlichsten Zwecke verwenden, weil ein faschistisches Regime auch dann noch als faschistisch kenntlich bleibt, wenn man ihm ein oder mehrere Merkmale nimmt.«

Der Faschismusbegriff, der sich hieraus entwickelt, ist an seinen Rändern notgedrungen verschwommen, und viel hängt dann davon ab, ob ein Phänomen noch genug Gemeinsamkeiten mit zumindest ­einem Teil der historischen Faschismen aufweist, um es mit dem Begriff »Faschismus« bezeichnen zu können. Die Abgrenzung des Begriffs stützt sich dann nicht mehr auf eine starre Definition, sondern wird problematisch und bedarf der Begründung. Eine Frage, die dann vielleicht helfen kann, ist die folgende: Was trägt die Bezeichnung »Faschismus« zum Verständnis eines Phänomens bei? Oder ausführlicher: Erlaubt der Blickwinkel, der eingenommen wird, wenn ein Phänomen als »Faschismus« bezeichnet wird, einen besseren Zugang zu diesem Phänomen, oder verstellt er den Blick auf seine Eigentümlichkeiten? Was den Stalinismus betrifft, kann der Faschismusbegriff wenig Substantielles zu seinem Verständnis bei­tragen, selbst unter Anerkennung der Ähnlichkeiten, die Silone zwischen den beiden Regimen aufzeigt. Und auch zum Verständnis des ­Faschismus scheint eine Ausdehnung des Begriffs auf den Stalinismus ­wenig hilfreich zu sein, zu groß sind die Unterschiede in Ideologie und Veridiktion, Trägerschicht und Funktionseliten, Massenbasis und Morphogenese, Aufbau und Funktionsweise des Partei- und Staatsapparats und so weiter.

Man sollte beachten, dass Silone von der tatsächlichen Gleichsetzung von Faschismus und Stalinismus meist noch einen Konjunktiv entfernt bleibt. Es heißt bei ihm: »Wenn der Faschismus wiederkehrt« und »Wir wären rote Faschisten«. Dennoch wäre es aus analytischer wie politischer Sicht besser gewesen, hätte ­Silone seine eigene Kritik am unbedarften Umgang mit Begriffen ­beherzigt. »Die Agitation«, schreibt er, »braucht, ihrem Wesen nach, ­vereinfachende Begriffe. Aber solche Begriffe verfallen jeweilen sehr bald der Abstumpfung.«

Die unglaublichen Gräuel, die mit dem Faschismus verbunden sind, sorgen dafür, dass sich seit seiner Niederschlagung niemand mehr in einem öffentlichen Diskurs affirmativ auf diesen beziehen kann. Das hat freilich nicht dazu geführt, dass das Phänomen verschwunden wäre. Die wiedererstarkenden Neofaschisten haben daher Strategien entwickelt, die es ihnen erlauben, sich in der Öffentlichkeit zu positionieren, ohne sogleich als das entdeckt zu werden, was sie in der Tat sind. Durch Umdeutungen von Begriffen, Verschleierungen und Provokationen ­gelingt es ihnen, bisher Unsagbares zu normalisieren. Diese Umdeutungen und Begriffsverschiebungen betreffen gerade auch den Faschismusbegriff selbst, der vor allem dann Anwendung findet, wenn Neo­faschisten die gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Diskurs verweigert wird. Dieser, mit welchen Mitteln auch immer, vorgenommene Ausschluss offenbart die Schwachstelle einer sich als »offen« verstehenden Gesellschaft, die bei dem Versuch, ihre Offenheit zu verteidigen, von Neofaschisten zur vermeintlich »faschistischen Meinungsdiktatur« umgedeutet werden kann. Unter AfD-Anhängern ist es daher üblich, sich als widerständig gegen eine vermeintlich »linke« Diktatur zu verstehen, deren wenige tatsächliche Konsensmomente bei konsequenter Abstraktion aller Differenzen als eine »Gleichschaltung« der gesamten politischen Landschaft links der AfD – von der CSU bis zur antideutschen Linken – erscheint. Es ist daher nur auf den ersten Blick grotesk, wenn sich AfD-Personal positiv auf die Geschwister Scholl bezieht; auf den zweiten ist auch dies Teil einer mal bewusst, mal unbewusst, mal subtil und mal unbeholfen angewandten diskursiven Strategie, mit der neofaschistische Positionen ­akzeptabel gemacht werden sollen.

Wenn Silones Warnung vor der Wiederkehr des Faschismus aus ihrem historischen Kontext gelöst und für die Gegenwart dienstbar gemacht werden kann, dann gerade als Hinweis auf diese vorgeblich antifaschistische Kostümierung eines erstarkenden Neofaschismus. Dafür aber ist es notwendig, auf einem Faschismusbegriff zu beharren, der sich solcher Umdeutungen und Vereinnahmungen verweigert, und auf solcher Basis Faschisten als Faschisten zu benennen, wohl wissend, dass der Begriff in der Anwendung stets ­umstritten bleibt und daher begründbar sein muss.