Flüchtlingshelfer auf der griechischen Insel Chios werden bedroht

Autoritäre Formierung

Auf der griechischen Insel Chios werden die wenigen Unterstützer der Flüchtlinge gejagt und bedroht, die sogenannte bürgerliche Mitte schaut teilnahmslos zu.

Innerhalb nur weniger Tage gab es in Griechenland eine Art autoritäre Schocktherapie. An der Landgrenze zur Türkei patrouillieren, nicht nur mit Duldung, sondern sogar mit Förderung von Polizei und Politikern, unter den Augen internationaler Medien bewaffnete »Bürgerwehren«. Auf der Insel Lesbos geschieht Ähnliches. Dort wurden ankommende Flüchtlingsboote von Bürgern mit Schrotflinten empfangen, entsprechende Videos kursierten sofort in den sozialen Medien. Die großen Medien des Landes und die Regierung loben die Bürger für ihre patriotische Aufopferung, anstatt darin die Bankrotterklärung des bürgerlich-demokratischen Staatswesens zu erkennen. Das Asylrecht für neu ankommende Flüchtlinge hat der griechische Staat ausgesetzt, die EU äußert Verständnis. Die Gewaltenteilung ist aufgehoben, schließlich sprechen Regierungsmitglieder von einer »Kriegssituation«.

Flüchtlinge, Migranten und Bürger auf Chios nennen die Verantwortlichen beim Namen: Die Regierungen von Tsipras und Mitsotakis sowie die EU erzeugten und erzeugen mit ihrer Politik des Einsperrens auf den Inseln eine Konfliktsituation.

Führende Politiker der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) wie die Abgeordnete und frühere Außenministerin sowie Schwester des Ministerpräsidenten, Dora Bakogianni, fordern Griechen auf, über soziale Medien die Regierungspolitik in der Flüchtlingsfrage zu propagieren. Wer Kritik an der inhumanen Behandlung von Flüchtlingen und der Aussetzung des Rechts auf Asyl äußert, wird als »Volksverräter«, »Agent Erdoğans« oder »fünfte Kolonne der Türken« gebrandmarkt.

Unter einschlägigen Postings eines Abgeordneten der Regierungspartei, Constantinos Bogdanos, findet sich die Forderung eines Griechen, die Kritiker auszubürgern – und erhält von dem Parlamentarier ein zustimmendes »like«. Die letzten Ausbürgerungen mussten links, demokratisch oder liberal ein­gestellte Griechen während der Militärjunta von 1967 bis 1974 hinnehmen. Damals gab es für Kritiker auf Felseninseln Straflager. Nun wird geplant, die alten Lager zu reaktivieren und auf Felseninseln Flüchtlinge einzusperren.

Wie ein Treppenwitz der Geschichte erscheint, dass 1922 auf der späteren Folterinsel Makronissos Griechen aus Anatolien und dem Pontos, aus der Türkei vertrieben, in Quarantäne gesteckt wurden. Viele von ihnen starben dort. Nur wer diese Tortur gesund überstand, durfte aufs Festland. Es ist ein Kapitel der griechischen Geschichte, das nicht in der Schule gelehrt wird.
An der Grenze verzweifeln selbst konservative Bürger, die dem flüchtlingsfeindlichen Kurs von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis (ND) kritisch gegenüberstehen. Auf Lesbos haben sich zwei fast schon bürgerkriegsbereite Lager gebildet. Viele Unterstützer der einst linken Partei Syriza zeigen Verständnis für die Grenzschließung, bemängeln aber, wie der frühere Ministerpräsident Alexis Tsipras, »den Lärm, der darum gemacht wird«. Tsipras betonte, dass auch er die Grenzen geschlossen hätte und er dies 2015 zumindest an der Landgrenze getan habe. Damit habe er Flüchtlinge abschrecken wollen, so dass diese den »lebensgefährlichen Weg übers Meer nehmen mussten«.

Eine der Inseln, auf denen 2015 täglich Dutzende Boote mit Flüchtlingen und Migranten anlegten, ist Chios. Anders als auf Lesbos gibt es hier nur noch wenige aktive Unterstützer der Flüchtlinge. Sie werden von vielen ­anderen Insulanern gejagt und bedroht. Die sogenannte bürgerliche Mitte sieht dem Treiben teilnahmslos zu.

Auf Chios waren früher Dörfer wie das in seiner ursprünglichen Anlage erhaltene Pyrgi die Norm. In Pyrgi sind die außen gelegenen Häuser so eng aneinander gebaut, dass sie eine Stadtmauer bilden. Im Ort selbst schaffen die Häuser ein Labyrinth, in dem unerwünschte Eindringlinge einst ein leichtes Ziel abgaben. So verteidigten sich die Chioter auch gegen Piraten. Heutzutage bietet der Ort die Kulisse für Hochzeiten wohlhabender Türken. Auch am Wochen­ende fand sich in Pyrgi eine türkische Hochzeitsgesellschaft ein. Die Fähre zur türkischen Küste verkehrt während der »Kriegssituation« weiter. Gut zahlende Gäste sind willkommen.

Den Eindruck, unwillkommene Fremde zu sein, bekommen heute nicht nur die Flüchtlinge und Immigranten, sondern auch die Journalisten und die wenigen aktiven Linken und Autonomen. Anders als im übrigen Griechenland sind einzelne linke und autonome Gruppen sich hier nicht spinnefeind. In der Not halten sie zusammen.

Journalistische Recherchen auf der Insel gestalten sich schnell zu konspi­rativen Unternehmungen. Ist das Hotel, in dem man wohnt, sicher? »Ich habe Angst, wo das noch hinführt« – der Kommentar des Hoteliers beruhigt trotz des dramatischen Untertons. Immerhin droht hier keine direkte Gefahr.

Mitten in einem Wohnviertel mit Häusern früherer Flüchtlingsfamilien, Griechen aus Kleinasien, ist die Gefahr plötzlich greifbar. Auf einem Motorrad ohne Kennzeichen fährt ein muskulöser, vermummter Fahrer vor und brüllt: »Haut ab oder wir fackeln alles ab. Letzte Warnung!« Das gilt einem Lager mit Spendengütern für Flüchtlinge und arme Insulaner. Zwei Tage zuvor war ein Bekleidungslager von Auto­nomen Opfer der Flammen geworden. Wohnungen und Fahrzeuge von Nachbarn wurden ebenfalls vom Feuer beschädigt.

Ein anderes Lager: Die Polizei hatte gesagt, sie könne es nicht schützen. Schließlich räumen die Mitglieder des Feox-Bergrettungsteams, das 2015 und 2016 maßgeblich an der Rettung von Flüchtlingen beteiligt war, das Lager. Der Kern des Feox-Teams sind Einheimische, deren Familien einst selbst aus Kleinasien geflohen sind. Initiatoren des Teams sind zwei Brüder, Antonis und Michalis Vorrias, zwei joviale, langhaarige, graubärtige Männer. Wegen ihres Erscheinungsbilds werden sie »die Piraten« genannt. Michalis’ Motorrad wurde bereits von Unbekannten demoliert. »Wenn ich mal Zeit habe, baue ich das wieder zusammen«, sagt Michalis lächelnd. Auch in der angespannten Atmosphäre lachen sie noch.

Eine Nachbarin kommt vorbei, eine alte, gebeugte Frau: »Kinder, es ist schade, dass ihr weggeht!« Die Brüder Vorrias wissen, wo auf der Insel die Güter des Lagers noch sicher sind. Sie möchten abwarten, bis die Lage ruhiger wird, und dann wieder Menschen helfen. Trotz der Bedrohungen fahren sie aber weiterhin regelmäßig zum berüchtigten Flüchtlingslager Vial, um Kindern dort Spielsachen zu bringen.

Es sind Aktivisten wie die Brüder Vorrias, die Hoffnung auf bessere Zeiten geben. Und es sind Menschen wie die alte Frau, die zeigen, dass nicht alle auf der Insel plötzlich Faschisten geworden sind. Dazu kommen Bürger der Mitte, die sich im Kaffeehaus des Dorfes Chalkio neben dem Lager Vial nicht trauen, ihre wirkliche Meinung zu sagen. Sie verfallen bei den Interviews immer wieder in die Sprache der Hetzer, die von »jungen hormongestauten Männern«, »der islamischen Gefahr« und der Angst vor einer »Überfremdung« reden. Vorher hatten sie mit Rührung von den Aktionen zur Rettung von Flüchtlingen erzählt, an denen auch sie 2015 und 2016 beteiligt waren. Vor ­Namensnennungen in der Presse haben sie Angst wegen sich dem Rechtsextremismus zuwendender Nachbarn. »Ich will doch nur, dass es uns und denen (den Flüchtlingen, Anm. d. Red.) gut geht«, ist ein oft geäußerter Satz in dieser stillen Gruppe der Insulaner. Ei­nige von ihnen rufen später an und versuchen, ihre flüchtlingsfeindlichen Aussagen zu relativieren.

»Ich will niemanden schädigen, die Menschen haben mir nichts getan«, meint ein Somalier im Lager. »Wenn wir mal was von Feldern klauen, dann nur, weil wir kaum Essen und keine Heizung haben.« Die Felder rund um das Lager wurden sukzessive vom Staat requiriert. Versprochene Entschädigungen wurden nicht gezahlt. Das fördert den Hass. Flüchtlinge, Migranten und Bürger auf Chios – viele nennen die Verantwortlichen beim Namen: Die Regierungen von Tsipras und Mitsotakis sowie die EU erzeugten und erzeugen auf den Inseln eine Konfliktsituation, weil sie die Flüchtlinge einsperren.

Wie irrsinnig das alles ist, zeigt sich beispielhaft außerhalb der Baracken des Lagers. Neben einem notdürftig mit Plastikplanen geflickten Zelt hissen zwei Palästinenser eine griechische Flagge. »Wieso?« – »Weil Griechenland das Land ist, in dem wir Schutz vor den Kämpfen in unserer Heimat gefunden haben.«