Wie das Studium während der Pandemie aussehen soll, ist weitgehend unklar

Nichtsemester oder doch Semester

An den meisten Hochschulen in Deutschland hat mit dem April das Sommersemester begonnen, doch es ist noch immer unklar, wie während der Pandemie überhaupt studiert werden kann. Millionen Studierende stehen zudem vor existentiellen Geldnöten.

Die Pandemie macht auch vor den Hochschulen nicht Halt. Wo sich Studierende in vollen Hörsälen und Bibliotheken sowie in langen Schlangen in der Mensa drängeln, wäre die Ansteckungsgefahr hoch. Deshalb sei absehbar, dass es im Sommersemester 2020 angesichts der Coronakrise erhebliche Behinderungen von Forschung, Lehre und Studium geben werde, sagte kürzlich der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Andreas Keller. »Lehrveranstaltungen, Forschungsreisen und Fachtagungen fallen aus, Bibliotheken, Archive und Labore schließen, Praktika, Jobs und Kinderbetreuungsangebote fallen weg.« An den meisten deutschen Universitäten hat das Sommersemester am 1. April begonnen, die Vorlesungszeiten beginnen normalerweise etwa Mitte dieses Monats.

Mehr als 54 000 Menschen haben eine Petition mit dem Titel »Soforthilfe für Studierende jetzt!« unterschrieben.

Worauf sich die Studierenden und Angestellten in diesem Semester einstellen müssen, ist an vielen Hochschulen noch unklar – und vor allem an fast jeder anders. Ein sogenanntes Digitalsemester sollte es eigentlich werden. Doch Hochschulen seien nicht auf eine flächendeckende Umstellung ihrer Lehre auf ein Fernstudium eingestellt, sagte Keller. Dafür gebe es weder eine geeignete digitale Infrastruktur noch ausreichend qualifizierte Lehrende.

Die Bundesländer geben bislang nur Vorschläge, an die die Hochschulen sich halten können oder nicht. Die Kultusministerkonferenz einigte sich auf vier Eckpunkte. So soll das Semester nicht verschoben werden, die Vorlesungszeiten sollen aber flexibel gestaltet werden können. Ob Präsenzprüfungen stattfinden, Abgabefristen unverändert bleiben, Bibliotheken geschlossen bleiben, Lehrveranstaltungen regulär stattfinden oder durch digitale ersetzt werden, ob die Mensa öffnet – jede Hochschule sucht eigene Lösungen. Trotz gegenteiliger Beteuerungen bringen diese oft Nachteile für die Studierenden mit sich. Die Hochschule für angewandte Wissenschaften München etwa kündigte an, die Vorlesungszeiten bis 22 Uhr und auf sechs Tage die Woche auszuweiten. Daraufhin initiierten Studierende eine Petition gegen die Regelung. Auch anstehende Prüfungen bei geschlossenen Bibliotheken können die Studierenden vor große Probleme stellen.

Die Professorin Paula-Irene Villa Braslavsky von der Ludwig-Maximilians-Universität München forderte deshalb zusammen mit zwei Kolleginnen in einem offenen Brief ein sogenanntes Nichtsemester. Der Begriff stammt vom Vizepräsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, Ulrich Radtke. Anfang dieser Woche unterstützten bereits mehr als 15 400 Lehrende diese Forderung. Ihr Anliegen sei es, die Hochschulen in der gegenwärtigen Situation von »den schwächsten Positionen aus zu denken«, so Villa Braslavsky. Man dürfe nicht davon ausgehen, dass Hochschulen nur aus bezahlten, verbeamteten Menschen bestehen. Denn, so heißt es zu Beginn des Briefs, »mindestens 85 Prozent der Lehrenden und Forschenden sind (sehr) prekär beschäftigt. Studierende, die erwerbstätig sind, Care-Verpflichtungen haben, über wackelige technische Infrastruktur und wenig Ressourcen verfügen, sind die Mehrheit, nicht die Ausnahme.« Viele Studierende hätten zudem Aufenthalts- und Visaprobleme.

Unter der Bezeichnung Nichtsemester soll das Sommersemester im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten zwar stattfinden, formal aber nicht als Semester gezählt werden. Gefordert wird, Verträge befristet beschäftigter Mitarbeiter zu verlängern, Bafög-Regelungen anzupassen und Fristen auszusetzen. Weiter soll Rücksicht genommen werden auf Deputatslehrende und kein Nachteil entstehen für Studierende, die wegen der Krise an dem Semester nicht voll teilnehmen können.

»Es darf niemand dafür bestraft werden, dass sie oder er infolge der Coronakrise die erwarteten Leistungen nicht erbringen kann«, sagte auch der GEW-Vizevorsitzende Keller. Seine Gewerkschaft unterstützt die Forderungen. »Wir begrüßen ein freiwilliges Lehr- und Prüfungsangebot, im Rahmen dessen im Sommersemester auch ECTS-Punkte (Leistungsnachweise im europäischen Hochschulsystem, Anm. d. Red.) erworben werden können. Dennoch schließen wir uns der Forderung nach einem Nichtsemester an, das nicht auf die Regel- und Höchststudienzeit angerechnet wird«, so Patrick Weißler, Sprecher der Studierenden in der GEW Bayern. Mehrere studentische Organisationen haben sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen, das Ähnliches fordert. Unter der Bezeichnung »Solidarsemester« fordern sie Bund und Länder dazu auf, Studierende auf allen Ebenen finanziell zu entlasten. Außerdem verlangen sie von den Hochschulen, das Semester durch solidarische Zusammenarbeit von Studierenden und allen Gruppen der Beschäftigten zu gestalten.

Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) reagierte vor zwei Wochen mit einem Gesetzentwurf. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz soll demnach um eine Übergangsregelung ergänzt, die Höchstbefristungsdauer für Qualifizierungen pandemiebedingt um sechs Monate verlängert werden. Ob Verträge im Einzelfall tatsächlich verlängert werden, bliebe jedoch eine Entscheidung der jeweiligen Hochschule. Außerdem soll der Hinzuverdienst aus allen sogenannten systemrelevanten Branchen und Berufen komplett von der Anrechnung auf das Bafög ausgenommen werden. »Wer in der aktuellen Krise in systemrelevanten Branchen unsere Gesellschaft unterstützt, behält damit seine volle Bafög-Förderung«, so Karliczek. Sie kündigte zudem an, dass Bafög-Berechtigte ihr Geld bis auf weiteres auch erhielten, wenn der Lehrbetrieb an Schulen und Hochschulen zeitweilig ausgesetzt werden sollte.

Dem Bündnis für ein Solidarsemester gehen diese Vorhaben nicht weit genug. »Etwa zwölf Prozent der Studierenden erhalten Bafög. Ein Bruchteil dieser zwölf Prozent kann nun in sogenannten systemrelevanten Berufen jobben und profitiert von der Regelung«, erläutert Amanda Steinmaus, Vorstandsmitglied des Freien Zusammenschluss von Studierendenschaften (FZS). Dem stünden jedoch zahlreiche Studierende gegenüber, die für ihren Lebensunterhalt neben dem Studium einer Lohnarbeit nachgehen müssten, denen aber nun das Einkommen weggebrochen sei und die in der Regel keinen Anspruch auf Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld hätten. »Das scheint Ministerin Karliczek jedoch nicht zu interessieren. Wie sollen diese Studierenden Miete und Essen bezahlen?« fragt Steinmaus. »Die nötige Unterstützung kann erreicht werden, indem das Bafög für bisher nicht empfangsberechtigte Studierende geöffnet wird, oder indem das Arbeitslosengeld für Studierende zugänglich gemacht wird. Auch ein angemessen großer Solidaritätsfonds wäre möglich.«

Bis Anfang dieser Woche haben mehr als 54 000 Menschen eine Petition mit dem Titel »Soforthilfe für Studierende jetzt!« unterschrieben. FZS und andere studentische Zusammenschlüsse fordern darin vom Bundesfinanzministerium und dem Bundestag, Studierenden ohne vorherige Bedürftigkeitsprüfung eine Soforthilfe von 3 000 Euro zu gewähren.