Im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Rachid Ouaissa

»Dem Staat fehlt das Geld, sich Ruhe zu erkaufen«

Seit der Ölpreis sinkt, wachsen die Probleme der algerischen Staatsklasse. Die Covid-19-Pandemie bietet nun einen Vorwand, härter gegen die Proteste der Hirak-Bewegung vorzugehen.
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Die unter anderem von Hartmut ­Elsenhans entwickelte Theorie der Staatsklasse kritisiert eine ökonomistische Sichtweise, derzufolge sich durch Wirtschaftswachstum ökonomische und soziale Probleme quasi von selbst lösen. Es reiche also nicht aus, in Algerien beispielsweise die Produktivität der Landwirtschaft zu steigern. Die neoliberale Annahme, ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts komme auch den Ärmsten zugute, ist empirisch widerlegt. Worin liegen Elsenhans zufolge die Ursachen für Entwicklungsprobleme?

»Die Ausgangssperre wegen der Coronakrise wird ausgenutzt, um Demonstrationen zu verhindern und Einschüchterungsversuche sowie Verhaftungen vorzunehmen.«

Elsenhans entwickelte seine Theorie Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre. Damals gab es die Debatte über die Entwicklungspolitik: Was soll der Westen, was soll der Norden tun, damit die Länder des Südens, die post­kolonialen Staaten, es schaffen, die ­damals so bezeichnete Unterentwicklung zu überwinden? Elsenhans hat die ­Debatte insofern bereichert, als er gesagt hat, die Entwicklung im Süden ist nicht gescheitert, weil es an Geld mangelt. Nein, sie scheitert, weil kein produktiver Industriekapitalismus entstanden ist. Denn solche kapitalistischen Strukturen sind Strukturen, die auch die Gesellschaft verändern. Auch Marx hat das gesehen und gesagt, die Bourgeoisie ist schlimm, aber das Gute an ihr ist, dass sie die gesamte Gesellschaft auf den Kopf stellt. Der Kapitalismus ersetzt das feudale System und bringt die Befreiung von Minderheiten, von Frauen mit sich. Er führt auch zur Befreiung der Gesellschaft, weil es Möglichkeiten gibt, zu arbeiten, und Arbeit kann zu Verhandlungsmacht werden. Der Kapitalist schafft bessere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, nicht weil er ein gutes Herz hat, sondern weil er selber davon profitiert, wobei auch die Arbeiterklasse den Kapitalisten ­unter Druck setzen kann. Bereits eine kleine Gruppe von Arbeitern kann einen Riesenbetrieb in die Knie zwingen.

Was ist das Besondere an Algerien?

In Ländern wie Algerien ist der Staat oder das Herrschaftssystem nicht auf die Gesellschaft angewiesen, denn er hat Öl. Algerien oder Saudi-Arabien – diese Länder brauchen die Bevölkerung kaum, sie stört. Und das Geld, das sie haben, benutzen sie nicht, um produktive Industriestrukturen zu entwickeln, nein, sie benutzen es, um die ­Gesellschaft zu kaufen, um sich ihre Loyalität zu sichern, sie zu klienteli­sieren. Eine solche Führungsschicht hat Elsenhans als Staatsklasse bezeichnet. Die algerische Staatsklasse ist durch ihr Monopol auf die Ölrente vereint. Seit 2015 ist der Ölpreis gesunken. Derzeit ist er sehr niedrig, und das erklärt, warum es seit Februar 2019 zu Aufständen in Algerien gekommen ist: Der Staat hat kein Geld mehr, um sich Ruhe zu erkaufen. 2011, als der algerische Staat während des »arabischen Frühlings« noch reich war, hat Präsident Abdelaziz Bouteflika die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst erheblich erhöht, weil er Geld hatte.

Was wäre Elsenhans zufolge die ­Alternative zu einem von außen induzierten Wirtschaftswachstum?

Nach Elsenhans müsste man eigentlich die Erträge aus dem Erdölverkauf, die Ölrente, in die algerische Wirtschaft investieren, um den Binnenmarkt zu stärken. Man verteilt diese Rente als Gehälter an die Leute, nur so erhalten sie Kaufkraft und nur so kann ein Kapitalist sagen: Okay, anstatt wie die korrupten algerischen Bourgeois Geld in der Schweiz oder bei französischen Banken anzulegen, investiere ich in Produktion und Arbeit. Aber es lohnt sich nicht, Arbeitsplätze zu schaffen und etwas zu produzieren.

Im Fall von Algerien hat man es mit einer klientelisierten Gesellschaft zu tun, die stark vom staatlichen Rentensystem abhängig ist, das sich aus Erdöleinnahmen speist. Was heißt das in der Praxis?

Ein Kapitalist investiert sein Geld, um produktiver zu produzieren. Das aber passiert in einem Rentierstaat nicht. Es ist nicht notwendig, solange der Öl­verkauf genügend Geld einbringt. Die Machthaber des algerischen Regimes haben auch Angst vor der Schaffung einer Arbeiterklasse, die als Gegenmacht auftreten könnte.

Angesichts des sinkenden Ölpreises ist die Rente der algerischen Staatsklasse stark geschrumpft. Welche Kriterien entscheiden über ihre Verteilung?

Das ist eines der größten Geheimnisse der Blackbox der algerischen Staatsklasse. Diese besteht aus mehreren Segmenten, die man als Clans bezeichnen kann. Es gibt große Apparate, die eine Art Übermacht innerhalb der Staatsklasse innehaben: die Armee und die Geheimdienste. 25 Prozent des algerischen Staatshaushalts fließen ins Militär. Zudem ist Algerien sehr regionalisiert. Als Bouteflika noch an der Macht war, stammte die Mehrheit seiner Minister aus dem Westen des Landes, aus den Städten Tlemcen und Oran. Entscheidend ist, wer nützlich für das Regime ist, nützlich für die Ölrente und die korrupten Geschäfte. Das kann sich schnell ändern und ermöglicht rasante Auf-, aber auch Abstiege. Dies zeigt sich an Wirtschaftsoligarchen aus der Bouteflika-Ära wie Rafik Khalifa oder Ali Haddad, die gigantische Summen verdient und veruntreut haben. Mit Mitte Dreißig waren sie bereits wahnsinnig reich. Irgendwann bekamen sie Ärger und landeten im Gefängnis. In den siebziger Jahren war es wichtiger, ob man die Ideologie teilt. Aber inzwischen sind die Clans sehr heterogen geworden, man braucht jemanden aus der Kabylei, man braucht jemanden aus dem algerischen Westen, man braucht einen General, man braucht einen guten Journalisten, man braucht jemanden, der die Islamisten zähmen kann et cetera. Die Regeln, die entscheidend dafür sind, wie Macht und Ölrente verteilt werden, ändern sich also ständig.

Wenn man nicht zum Regime gehört, wie kann man dann etwas produzieren oder verkaufen?

Man kann das am informellen Sektor des Handels sehen. Ich habe in einem meiner Texte die algerische Staatsklasse als Trabendoklasse bezeichnet. Die Trabendos, das sind in der Regel Männer, die durch die Straßen ziehen. Sie legen ein Handtuch auf die Straße und verkaufen etwa Parfüm, Unterwäsche, Zigaretten, die sie aus dem Ausland mitbringen. Das ist ein Sektor, der vom Staat geduldet wird. Aber damit sie ihr Handtuch auf die Straße legen und in Ruhe verkaufen können, müssen sie dem Polizisten, der vorbeikommt, ein paar Dinar in die Hand drücken. So funktionieren auch die große ­Industriebetriebe und die großen Unternehmen in Algerien. Man braucht gute Beziehungen zum Bürgermeister, zum Oberbürgermeister und zum ­Militärbefehlshaber der Region, damit man keine Steuern zahlen muss. Um Waren zu verkaufen, braucht man in der Regel eine Importlizenz, denn fast alles, was verkauft wird, wird importiert. Und die algerische Staatsklasse hat diese Wirtschaft in der Hand: Sie vergibt die Lizenzen. Man kann zum Beispiel Spaghetti produzieren – das ist ja keine große Kunst –, aber wenn man Pech hat, hat ein General die Lizenz, billigere Spaghetti aus Italien zu importieren, weil er in irgendeinem korrupten Netz operiert. Dann hat man als kleiner Produzent Pech. Die Lizenzen sind das A und O der Wirtschaft in Algerien, und die werden innerhalb des Regimes nach Loyalität verteilt.

Alles super safe. Absperrung bei Hirak-Protesten am 6. März in Algier

Bild:
Reuters / Ramzi Boudina

Der korrupte Clan des Präsidenten Abdelaziz Bouteflika und der Geheimdienstclan haben 20 Jahre lang gut zusammengearbeitet. Letzteren führte der damalige Geheimdienstchef an, General Mohamed Mediène alias »General Toufik«. Als 2014 die Ölrente zu sinken begann, entstand ein Konflikt, der sich bis 2019 immer weiter zuspitzte. Worin bestand er?

Toufik war der Meinung, eine fünfte Amtszeit für Bouteflika sei zu viel, man brauche eine neue Figur. Dann hat Bouteflika die Geheimdienste zugunsten des Militärs entmachtet. Er hatte Angst, weil die Geheimdienste sagten, sie könnten ihn als Präsidenten nicht halten, er sei zu alt und zu krank. Deshalb waren sie auch gegen eine er­neute Kandidatur Bouteflikas, im Gegensatz zu treuen Generälen wie Ahmed Gaïd Salah, der sich für ein fünftes Mandat von Bouteflika einsetzte.

Der im Dezember verstorbene Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah wollte zunächst an Bouteflika festhalten …

… bis das Volk auf die Straßen gegangen ist und protestiert hat, seit Februar 2019 (in der sogenannten Hirak-Bewegung, Anm. d. Red.). Wäre das nicht passiert, so wäre Bouteflika heute noch Präsident. Bei dem Konflikt ging es lediglich um den Präsidenten, ansonsten ist die Arbeitsteilung klar: Der Geheimdienst ist zuständig für die Kontrolle, die Abriegelung des Landes, für Folter, die Kontrolle der Presse. Das Militär kontrolliert den Importsektor. Und der Bruder des Präsidenten, Said Bouteflika, hat Aufgaben seines kranken Bruders übernommen und war somit auch in die korrupten Geschäfte des Bouteflika-Clans involviert.

Was hat sich geändert seit dem Rücktritt Bouteflikas und der Präsidentschaftswahl im Dezember 2019, die Abdelmadjid Tebboune gewann?

Alle Kandidaten, die zu den Präsidentschaftswahlen antraten, waren Anhänger des Regimes. Aber es gab innerhalb der Armee zunächst keinen Konsenskandidaten. Dennoch wurde Tebboune nominiert; von »gewählt« kann man bei einer so geringen Wahlbeteiligung nicht sprechen. Er ist de facto eine Marionette der Armee. Im Übrigen hat Tebboune nach seiner Wahl zum Prä­sidenten Freitag für Freitag um seine Legitimität gekämpft, denn bis zur Coronakrise war die Bevölkerung jeden Freitag auf der Straße.

Wegen der Verbreitung von Sars-CoV-2 kamen Forderungen aus der Bevölkerung, das Gesundheits­system auf die Pandemie vorzubereiten und Ausgangssperren zu verhängen. Wie verhielt sich die Regierung Tebboune dazu?

Es scheint, als sei die Pandemie unter Kontrolle. Das hat aber nichts mit der Effizienz der algerischen Regierung zu tun, anscheinend ist die Pandemie auch in Marokko und Tunesien unter Kontrolle. Das algerische Gesundheitssystem ist bisher nicht überfordert, weil es relativ wenige Fälle gibt. Ein Problem ist aber, dass wir keine Statistiken und keine Tests haben. Wir haben keine zuverlässigen offiziellen Angaben darüber, wie viele Menschen tatsächlich an der Krankheit gestorben und wie viele tatsächlich infiziert sind.

Mitte März verhängte die Regierung Tebboune eine nächtliche Ausgangssperre bis sieben Uhr morgens. Versammlungen wurden verboten. Was sind die Folgen der Ausgangssperre für die Protestbewegung ­Hirak?

Die Anzahl der Verhaftungen von Hirak-Aktivisten ist gestiegen. Und es finden seltsame Gerichtsverhandlungen statt, mit willkürlichen Urteilen. Der Prozess gegen den Hirak-Aktivisten Karim Tabbou zum Beispiel fand statt, ohne dass seine Anwälte zugegen waren, binnen weniger Minuten wurde er zu einem weiteren Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. Die Ausgangssperre wurde kürzlich um 15 Tage verlängert. Sie wird ausgenutzt, um weitere Demonstrationen zu verhindern und Einschüchterungsversuche sowie Verhaftungen vorzunehmen.

Wie steht es um die Pressefreiheit?

Vor einigen Wochen wurde das sogenannte Pressegesetz verabschiedet. Damit ist es nun erlaubt, jeden, »der fake news verbreitet«, zu verhaften.

Als »fake news« kann man alles bezeichnen …

Genau. Das einzige, was Tebboune geschafft hat, ist, dieses Pressegesetz zu er­lassen, mit dem Youtuber, Hirakisten, Facebooker und Journalisten verhaftet werden können.

Die vom Ausland finanzierte Zeitung »Maghreb Émergent« wurde vor kurzem verboten, weil ein Journalist geschrieben hatte, dass es der Regierung Tebboune nicht gelinge, die Wirtschaftskrise zu überwinden. Auch Khaled Drareni vom regierungskritischen Radio M ­wurde jüngst verhaftet, weil er die Wirtschaftspolitik von Tebboune kritisiert hatte. Im Vergleich zu Tunesien vor dem Sturz von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali 2011 gab es in Algerien eine kritischen Presse, die vom Regime geduldet wurde. Damit scheint es vorbei zu sein. »Ich denke, jetzt traut sich niemand mehr zu schreiben«, sagte der Journalist Ihsane El Kadi am 6. Mai auf Radio M. Warum geht die neue Regierung so repressiv gegen die ­Medien vor?

Früher gab es mehr Meinungs- und Pressefreiheit. Das hat sich geändert. Denn die Hirak-Bewegung ist von der Presse intensiv begleitet und dokumentiert worden. Ich glaube, sie denken, wenn sie die kritische Presse zum Schweigen bringen, verhindern sie eine neue Protestwelle.

Aber manche Journalisten, wie El Kadi, werden nicht verhaftet, obwohl sie sich immer noch kritisch über das Regime äußern. Sie scheinen geschützt zu sein.

Das ist möglich. Aber das Problem in diesem System ist: Du kannst diese Woche noch geschützt sein, aber weißt nicht, ob derjenige, der dich schützt, nächste Woche noch da ist. Also, man muss schon aufpassen.

Wegen des niedrigen Ölpreises droht die Wirtschaft des Rentierstaats ­Algerien zusammenzubrechen. Was bedeutet das?

»Seit vorletzter Woche gibt es Nachtdemonstrationen in der Kabylei, und auch in der Region um die Stadt Sétif.«

Grundsätzlich besteht die Chance, das Ölrentensystem zu überwinden und die Wirtschaft zu diversifizieren. Allerdings hätte man das früher machen müssen, nicht jetzt, wo der Ölpreis unter 30 US-Dollar pro Barrel gesunken ist. Große Reformen kann man nur machen, wenn man viel Geld hat. Algerien funktionierte früher mit einem Erd­ölpreis von 90 US-Dollar.

Was unternimmt die Regierung ­angesichts der drohenden Staatspleite?

Präsident Tebboune hat sich bereits an den Internationalen Währungsfonds (IWF) gewandt, denn es ist kein Geld mehr da. Das Geld reicht nicht mal zum Überleben. Ich fürchte, wenn es so weitergeht mit dem niedrigen ­Ölpreis, wird Algerien gezwungen sein, Verhandlungen mit dem IWF aufzunehmen.

Mit der Verbreitung von Sars-CoV-2 in Algerien sind die wöchentlichen Massenproteste der Bewegung Hirak zum Stillstand gekommen. In ­welchem Zustand ist die Protest­bewegung?

Der Hirak existiert noch. Er ist für viele Algerierinnen und Algerier ein Lebensziel geworden, eine raison d’être. Der Hirak hat das Land immerhin aus dem 20jährigen Tiefschlaf unter Bouteflika wachgeküsst. Und die Algerier wollen nicht wieder stillschweigend alles akzeptieren. Eine einmalige, unabhängige Bewegung ist entstanden, die alle 48 Distrikte des Landes erfasst hat. Der Hirak ist derzeit vor ­allem in den sozialen Medien aktiv.

Es hat in Algerien immer eine parlamentarische Opposition gegeben, die sich mit dem Regime arrangieren musste und insofern nicht wirklich unabhängig war. Welche Rolle spielen Oppositionsparteien im Hirak?

Es gibt das Collectif de Transition Démocratique (etwa: Kollektiv für den ­demokratischen Übergang), das vor allem aus Vereinen, aber auch aus Oppositionsparteien besteht, die sich treffen und gemeinsame Erklärungen ­abgeben. Und dazu gehören auch Oppositionsparteien, wie die kabylischen Parteien RCD (Vereinigung für Kultur und Demokratie) und FFS (Front sozi­alistischer Kräfte) sowie der PT (Arbeiterpartei). Aber im Moment dürfen ­keine Versammlungen abgehalten werden, dadurch ist der ganze Prozess blockiert.

Was ist mit islamistischen Parteien?

Die islamistischen Parteien sind diskreditiert, sie sind im Abseits.

Aber haben nicht auch Islamisten an den Demonstrationen des Hirak teilgenommen?

Als Individuen ja, aber die islamistischen Parteien wurden aus der Bewegung rausgeworfen, weil sie damit einverstanden waren, dass Bouteflika ein fünftes Mal für die Präsidentschaft kandidiert. Insofern haben sich die ­Islamisten diskreditiert, es bleibt nur die demokratische Mitte der vor allem kabylischen Parteien. Ein wichtiger Bestandteil des Hirak ist auch der RAJ (Vereinigung für Aktionen der Jugend), dessen Führungsfiguren inzwischen im Gefängnis sitzen. Es zirkulieren Vorschläge, wie man nach der Corona­krise wieder beginnt. Seit vorletzter Woche gibt es Nachtdemonstrationen in der Kabylei und auch in der Region um die Stadt Sétif. Nach dem Fastenbrechen gehen die Leute raus und ­demonstrieren.

Diese Demonstrationen wurden nicht zerschlagen?

Sie sind erst mal zugelassen worden, wobei ich denke, die Demonstrierenden wurden einfach nicht erwischt.

Wie will der Hirak weiter vorgehen, um eine Demokratisierung durchzusetzen?

Die Hauptforderung des Hirak lautet: Wir wollen keinen Militärstaat, sondern einen zivilen Staat. Die entscheidende Frage ist: Wie schafft man es, die informelle Macht der Clans und Oligarchen abzuschaffen? Das geht nur mit einer verfassunggebenden Versammlung so wie in Tunesien, das fordert der Hirak.

Würde sich das derzeitige Regime auf eine solche Forderung ein­lassen?

Niemals. Ich denke, dass die Proteste nach Aussetzen der Coronamaßnahmen weitergehen und wachsen werden. Denn das Land steckt in einer ­tiefen Krise. Selbst manche derjenigen, die regimetreu waren und nicht protestiert haben, wenden sich nun gegen das Regime. Proteste und Forderungen nach Demokratie werden zu weiteren Konflikten führen, denn Tebboune möchte schnell eine neue Verfassung verabschieden, um seine präsidiale Macht abzusichern. Es gibt Clans innerhalb des Regimes, die mit dem Weg Tebbounes nicht einverstanden sind, sie sind bereit für eine Öffnung. Es handelt sich um eine neue Generation von Offizieren, die weg wollen von der Clanpolitik, die nicht mehr so politisch sind, die einfach ihre Arbeit profes­sionell machen wollen.

Wie machen sich diese Konflikte bemerkbar?

Kürzlich gab es Schießereien zwischen Soldaten in einer Kaserne. Das heißt, es gibt kein Vertrauen zwischen den Trägern des Regimes. Die Angst, dass einer die Macht an sich reißt, ist groß. Wir hören jetzt Stimmen aus den Reihen des Militärs, die eine internatio­nale Vermittlung zwischen den Clans vorschlagen. Dann wird wahrscheinlich ein Mittelweg gefunden werden. Ich sehe darin inzwischen auch den einzigen Weg. Tunesien zum Beispiel könnte vermitteln, das muss nicht ­Europa sein.

 

Bild:
Oberhessische Presse Marburg

Rachid Ouaissa ist seit 1999 Professor für ­Politikwissenschaft am Zentrum des Nahen und Mittleren Ostens der Universität ­Marburg. Nach seinem Abitur 1989 studierte er zunächst an der Universität Tizi Ouzou in der Bergregion Kabylei Medizin. Als mit der politischen Öffnung Algeriens zu Beginn der neunziger Jahre islamistische Parteien an die Macht drängten, was in einen Bürgerkrieg mündete, wollte Ouaissa das Land verlassen, zumal er zur Armee sollte. »Es war eine Zeit, wo jeder einen Ausweg gesucht hat – Hauptsache nicht im Lande bleiben«, erzählte er der »Jungle World«. Ab 1993 studierte Ouaissa in Halle Politikwissenschaft, Philosophie und Romanistik. Später promovierte er in Politikwissenschaft bei Professor Hartmut ­Elsenhans an der Universität Leipzig zum Thema »Staatsklasse als Entscheidungsakteur in der Dritten Welt«.