Das algerische Regime geht mit Massenfestnahmen gegen die Protestbewegung vor

Pleite und aggressiv

Mit Massenfestnahmen und der Einführung des Straftatbestandes der »Verbreitung falscher Nachrichten« geht das algerische Regime gegen die Protestbewegung vor. Derweil droht der Staatsbankrott.

Angeblich bekommt dem neuartigen Coronavirus die Wärme nicht. Algerien verzeichnet allerdings derzeit, da der Sommer beginnt, einen erheblichen Wiederanstieg der Fallzahlen insbesondere im Süden und Osten seines Staatsgebiets. Dies bereitet der Regierung zwar Kopfzerbrechen, kommt ihr aber im Hinblick auf den Umgang mit gesellschaftlichen Protesten auch gelegen.

Am Sonntag meldete der Sprecher des »Wissenschaftlichen Komitees zur Verfolgung der Coronavirus-Pandemie«, Djamel Fourar, einen Tagesrekord von 305 registrierten neuen Infektionsfällen. Das ist die höchste Zahl seit dem 25. Februar, als der erste Fall einer solchen Infektion in Algerien vermeldet wurde. Die Gesamtbilanz lag bis zum Sonntag staatlichen Stellen zufolge bei 897 Toten im Land und 13 273 Infizierten.

Bei den Demonstrationen am 19. Juni wurden der Algerischen Liga zur Verteidigung der Men­schenrechte zufolge mehr als 500 Menschen festgenommen.

Gesundheitsminister Abderrahmane Benbouzid kündigte unterdessen in der Tageszeitung El Watan an, dass an die erneute Verhängung von Ausgangssperren in mehreren wilayat (Verwaltungsbezirken) des Landes zu denken sei, wenn die Dinge so weitergingen. Die Ausgangssperren sind derzeit aufgehoben, doch seit März sind die Moscheen geschlossen und seit dem 18. Mai besteht Maskenpflicht in der Öffentlichkeit. Doch schon zum Ende des Ramadan am 23. Mai nahm man das ­Infektionsrisiko nahm man das Infektionsrisiko in weiten Teilen der Gesellschaft weniger ernst. Eine Entscheidung über eine eventuelle Öffnung der Landesgrenzen, die seit dem 17. März geschlossen sind, und eine Wiederaufnahme des Luftverkehrs wurde zunächst auf Freitag dieser Woche vertagt.

Im Frühjahr hatte die Pandemie für die Behörden in Algerien den praktischen Nebeneffekt, dass diese zu einer vorläufigen Einstellung der Massenproteste führte, die im Februar 2019 begonnen hatten und zwei Monate später den seit 20 Jahren amtierenden Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika zum Rückzug zwangen. Dessen Entourage hatte versucht, den schwerkranken und faktisch amtsunfähigen 83jährigen für eine fünfte Amtszeit kandidieren zu lassen. Noch bevor das Regime, dem seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl vom 12. Dezember der neue Präsident Abdelmajid Tebboune vorsteht, ein Versammlungsverbot verhängte, hatte die Protestbewegung im März ohnehin bereits auf Demonstra­tionen verzichtet.

Diese sollten am 19. Juni wieder losgehen. Zuvor kam es bereits während des Ramadan zu sporadischen, vor allem nächtlichen, nach dem Fasten­brechen beginnenden Demonstrationen, insbesondere in der Berberregion Kabylei. Zu einem offiziellen landesweiten Neubeginn rief der Hirak, wie der Massenprotest allgemein bezeichnet wird, über die sozialen Medien und mehrere privat verlegte Zeitungen des Landes auf.

Den Versuch, am 19. Juni tatsächlich auf die Straße zu gehen, unternahm man vor allem in der Kabylei; er endete jedoch nach Angaben der Algerischen Liga zur Verteidigung der Menschenrechte (LADDH) für über 500 Menschen mit ihrer Festnahme – bislang ein Rekord bei Hirak-Protesten. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International reichte am 25. Juni deswegen eine zehnseitige Protestnote bei den algerischen Behörden ein. Tags darauf, am Freitag voriger Woche, fanden keine neuen Demonstrationen statt. Die meisten der Festgenommenen kamen inzwischen wieder frei, teilweise unter Androhung späterer Strafverfolgung, doch ein Dutzend blieb in Untersuchungshaft.

Anfang Juni hatte das Landesweite Komitee für die Freilassung der Gefangenen (CNLD), eine im Zusammenhang mit den Hirak-Protesten entstandene Organisation gegen die Repression, von seinerzeit 60 hinter Gittern sitzenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Proteste gesprochen. Die Mehrzahl von ihnen sitzt wegen Veröffentlichungen auf Facebook ein. Kürzlich korrigierte das Komitee diese Zahl auf 70.
Am 2. Juni wurde die Begnadigung und bald bevorstehende Freilassung von zwei Protagonisten der Hirak-Bewegung und langjährig in der Opposition Engagierten, Karim Tabbou und Samir Benlarbi, angekündigt. Diese hatten Präsident Tebboune und der Vorsitzende der sich etwas opportunistisch an die Proteste anlehnende Oppositionspartei Jil Jadid (Neue Generation), Soufiane Djilali, ausgehandelt; sie sollte als versöhnliche Geste der Staatsmacht wirken. Kurz zuvor hatte Tebboune im Mai einen Entwurf für eine neue Verfassung bekanntgegeben und an Oppositionsparteien sowie Gewerkschaften übermittelt. Zuvor hatte das Regime unter dem Eindruck der Massenproteste die Abschaffung der bisherigen Verfassung zugestanden.

Auch Amnesty International nimmt dazu in dem Schreiben vom 25. Juni Stellung und konstatiert zwar einige Fortschritte gemessen an der vorherigen Verfassung, etwa in puncto Frauenrechte, kritisiert jedoch »das Fehlen jeglichen verbindlichen Reformkalenders« und eklatante Mängel besonders bei den Themen Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Erst am 22. April war der neue Straftatbestand der »Verbreitung falscher Nachrichten« eingeführt worden, für den drei Jahre Haft verhängt werden können.

Am 13. Juni wurde die Inhaftierung dreier Hirak-Mitglieder, Merzoug Touati, Yanis Adjila und Amar Beri, in der Berbermetropole Béjaïa publik. Sie sollten unter anderem wegen Aufrufs zu unerlaubten Versammlungen und Aufstachelung mit Hilfe von »gegen die nationale Einheit gerichteten Schriften« – dieser Vorwurf trifft regelmäßig Veröffentlichungen zur Berberfrage – in einem Eilverfahren bereits am selben Tag verurteilt werden. Ihr Prozess wurde jedoch auf diese Woche verschoben.

Verurteilt wurde am vorvergangenen Sonntag die seit langem in der Opposition engagierte prominente Gynäkologin Amira Bouraoui. Die 44jährige muss eine einjährige Haftstrafe antreten, weil sie in einem Eilverfahren in sechs Anklagepunkten für schuldig befunden wurde, darunter Präsidentenbeleidigung, Verunglimpfung der Staatsreligion Islam, »Angriff auf die nationale Einheit« und der neue Straftatbestand der »Verbreitung falscher Nachrichten«. Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt, es gilt als ernsthafte Warnung an alle Oppositionellen.

Die wirtschaftliche Situation des extrem von Rohöl- und Erdgasexporten abhängigen Staats droht sich unterdessen immer weiter zu verschlechtern, denn der Ölpreis sank in jüngerer Zeit erheblich. 2014 verfügte die öffentliche Hand in Algerien über umgerechnet 200 Milliarden US-Dollar Devisenreserven, im März dieses Jahres waren es noch über 55 Milliarden. Derzeit drohen diese Reserven vollständig aufgezehrt zu werden: Im Staatshaushalt musste der zugrunde gelegte Preis pro Barrel von 45 auf 27 Euro korrigiert werden und für das laufende Jahr wird ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um 5,2 Prozent vorausgesagt. Am Dienstag voriger Woche bildete Tebboune seine Regierung um, der Energie- und der ­Finanzminister wurden ausgetauscht. Dies allein dürfte kaum für Abhilfe sorgen.