In der Türkei wird eine umstrittene Hilfspolizei mit Schusswaffen ausgestattet

Mit Trillerpfeifen und Schusswaffen

Die türkische Regierung ließ die Befugnisse der »Markt- und Nachbar­schaftswächter« erweitern. Oppositionelle befürchten, künftig von Angehörigen der Hilfspolizei überwacht und denunziert zu werden.

»Ich möchte die Pfeife des Wächters hören, wenn ich im Bett liege«, soll der türkische Präsident Recep Tayyip Erdo­ğan zu seinem Innenminister Süleyman Soylu gesagt haben. Das erzählte Soylu, als er erläuterte, warum sein Ministerium ein Gesetz entworfen hat, das den »Markt- und Nachbarschaftswächtern« (Çarşı ve mahalle bekçileri) erhebliche Befugnisse verleiht. Bei diesen handelt es sich um eine Art Hilfspolizei.

Die Geschichte, die Soylu erzählte, dürfte viele Türken an alte Filme erinnert haben, die ein eher romantisches Licht auf die Wächter werfen. Zudem erweckte sie den Eindruck, das Gesetzesvorhaben gehe nicht direkt auf einen Befehl des Präsidenten zurück und als stammten die Einzelheiten nicht von ihm. Dieser Teil der Botschaft richtete sich an diejenigen, die sich durch die Wächter nicht beschützt, sondern kontrolliert fühlen.

Es ist kaum plausibel zu machen, dass es in der Türkei an Polizisten mangeln soll.

Die Wächter gibt es schon lange. Erstmals eingeführt wurde die Hilfspolizei kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Nach einer wechselvollen Geschichte wurde die Truppe 2008 aufgelöst. Nach dem Putschversuch von 2016 wurden 2017 erneut Wächter rekrutiert. Derzeit gibt es rund 28 500 Wächter, die meisten davon sind Männer. In einem Fernsehinterview sprach Soylu davon, eventuell 10 000 weitere einzustellen. An Interessenten dürfte es nicht mangeln, beträgt doch das Anfangsgehalt das Anderthalbfache des Mindestlohns. Zudem dauert die Ausbildung derzeit nur drei Monate. Wann die Hilfspolizei personell vergrößert wird, ist indes noch unklar. Das dürfte auch eine finanzi­elle Frage sein. Nach zwei Jahren Wirtschaftskrise, militärischen Abenteuern in Syrien und Libyen sowie der Covid-19-­Pandemie sind die Staatskassen nicht gerade voll.

Vergangene Woche beschloss das türkische Parlament gegen erbitterten Widerstand der Oppositionsparteien ein Gesetz, das die Befugnisse der Wächter erweitert. Diese dürfen in ihrem jeweiligen Viertel nun Leute anhalten, deren Personalien feststellen, sie befragen und durchsuchen, sie dabei allerdings nicht ausziehen. Sie dürfen Verdächtige oder Gesuchte festnehmen und der Polizei übergeben. Zudem dürfen sie Schusswaffen gebrauchen. Die Wächter können »gegen Kundgebungen, Demonstrationen und Aufruhr, die derart sind, dass sie die öffentliche Ordnung gefährden, bis zum Eintreffen der Polizei Maßnahmen ergreifen«. Nach Eintreffen der Polizei dürfen sie diese unterstützen. Einschreiten dürfen sie auch, wenn Personen »des Volkes Ruhe und Erholung stören oder andere stören«.

Die Wächter dürfen ihre Befugnisse nur während ihrer Arbeitszeit und in ihrem Viertel ausüben. Für Durchsuchungen von Fahrzeugen und länger währende Festnahmen müssen sie die reguläre Polizei oder die paramilitärische Gendarmerie rufen. Einigen Passagen des Gesetzes merkt man den schlechten Ruf an, den sich manche Wächter in den vergangenen Jahren mit als willkürlich empfundenen Kontrollen erworben haben. So wird das Anhalten von Personen an vage bezeichnete Gründe gebunden, womit die Sache eigentlich gut sein könnte. Doch dann wird den Wächtern noch ausdrücklich verboten, Personen andauernd und willkürlich anzuhalten.

Türkische Oppositionelle fühlen sich an die iranische freiwillige Hilfspolizei Basij-e Mostaz’afin (Mobilisierte der Unterdrückten) erinnert. Die meist kurz Basij genannte Truppe wurde in den vergangenen Jahren immer wieder zur Unterdrückung der Opposition eingesetzt. Der Verdacht, dass die Wächterstellen mit Anhängern von Erdo­ğans Partei AKP besetzt werden könnten, die sich in ihrem Viertel gut auskennen und die Menschen auch politisch überwachen, liegt nicht allzu fern.

»Wird eine paramilitärische Organisation gebildet oder wird das Wächtertum als lokales Denunziantentum begründet?« fragte rhetorisch der Abgeordnete Behiç Çelik von der einer strengen law and order-Politik eigentlich nicht abgeneigten İyi Parti. Der parteilose Abgeordnete Cihangir İslam sagte in einem Interview, er befürchte in erster Linie, dass der Zweck der Truppe weniger sei, den Bürgern Sicherheit zu geben, als sie unter Kontrolle zu halten. Die Abgeordnete Dirayet Dilan Taşdemir von der prokurdischen HDP stellte die Frage, ob die Wächter überhaupt nötig seien und man das Geld nicht besser für Bildung und Gesundheit ausgeben sollte.

Tatsächlich ist es kaum plausibel zu machen, dass es in der Türkei an Polizisten mangeln soll. Soylus Ministerium antwortete auf eine parlamentarische Anfrage, im Jahr 2019 sei ein Polizist auf 211 Einwohner gekommen. 2018 lag das Verhältnis noch bei eins zu 247. Wenn man die Einsatzkräfte der Gendarmerie hinzurechnet, ergibt sich ein Verhältnis von eins zu 185. In Deutschland kommt ein Polizist auf 336 Einwohner. Hinzu kommen in der Türkei noch die Wächter sowie im Osten die lokale Hilfstruppe gegen die PKK, die sogenannten Dorfschützer, die inzwischen offiziell »Sicherheitsschützer« heißen – rund 80 000 Mann unter Waffen (Stand 2016).

Erdoğan hat jedoch allen Grund, sein Regime gegen den Unmut der Bürger abzusichern. Zum Jahreswechsel gab es leichte Hoffnungen, die Türkei könnte aus der anhaltenden Wirtschaftskrise herauskommen. Dann kam die Pandemie. Die Türkei schloss rasch ihre Grenzen, es folgte eine Reihe befristeter Ausgangssperren. Das sah aber keineswegs professionell aus. Eine mehrtä­gige Ausgangssperre wurde erst zwei Stunden vor Inkrafttreten angekündigt, woraufhin viele Menschen schnell noch einkaufen gingen und dabei kaum Abstand hielten. Der Ärger darüber war so groß, dass Soylu seinen Rücktritt anbieten musste, den Erdoğan aber Mitte April gnädig verweigerte. Für das Wochenende des 6. und 7. Juni wurde zunächst eine befristete Ausgangssperre angekündigt, dann aber von Erdoğan persönlich abgesagt, wohl als eine Art Geschenk an die Bürger. Am 12. Juni meldete die Türkei dann einen deutlichen Anstieg der Infektionszahlen.

Als besonderes Zuckerchen für seine religiösen Wähler ließ Erdoğan am 29. Mai Koranverse in der Hagia Sophia lesen. An diesem Tag hatten im Jahr 1453 die Osmanen Konstantinopel erobert, das heutige Istanbul. Es war wohl die erste Lesung aus dem Koran in der Hagia Sophia seit der Umwandlung der einstigen Kirche und späteren Moschee in ein Museum 1935 unter Mustafa Kemal Atatürk. Doch nun dringen religiöse Gruppen und neuerdings auch Erdoğans ultranationalistischer Verbündeter Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der rechtsextremen MHP, darauf, die Hagia Sophia wieder in eine Moschee zu verwandeln. Das ist aber gar nicht so einfach. Die christlichen Mosaike müssten wohl erneut übertüncht werden. Das wäre keine gute Reklame für die Türkei. Für eine Moschee könnte man auch kein Eintrittsgeld mehr verlangen.

Umfragen sehen Erdoğans AKP nur noch bei rund 30 Prozent der Stimmen, nicht bei 50 Prozent wie einst. Da mag er hoffen, mit mehr Polizei auf den Straßen ruhiger schlafen zu können, während seine Trolle online Propaganda und Falschmeldungen verbreiten. Doch denen hat Twitter inzwischen 7 430 Accounts gesperrt, wie das Unternehmen am 12. Juni mitteilte.