Ein Gespräch mit dem Historiker Patrice G. Poutrus

»Es geht um das Selbstverständnis der Gesellschaft«

Auch in Deutschland wird nun über Denkmäler diskutiert, die Kolonialismus und Militarismus verherrlichen. Diese Auseinandersetzung ist Teil des Kampfes gegen Rassismus.
Interview Von

In einer Umfrage äußerten 92 Prozent der Deutschen Verständnis für friedliche Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in den USA. Anfang Juni haben 180 000 Menschen in Deutschland gegen Rassismus demonstriert. Nach den Anschlägen von Halle und Hanau gingen längst nicht so viele auf die Straße. Legen die Deutschen zweierlei Maß bei der Beurteilung von Rassismus an?

Das war eigentlich schon immer so. Als Student begegnete mir in Diskussionen immer die Behauptung, Rassismus gebe es in Deutschland nicht, den gebe es nur in Südafrika oder den Südstaaten der USA. Außerdem werden hierzulande die Auseinandersetzungen über gesellschaftliche Grundsatzfragen häufig über Konflikte anderswo geführt. Die Debatte über Rassismus in Deutschland beziehungsweise Westdeutschland ist oft dadurch angeregt worden, dass Konflikte in Großbritannien oder Frankreich sich zuspitzten und man sich dann fragte: »Wie ist das ­eigentlich bei uns?« Aber das finde ich legitim.

»Grundsätzlich ist Geschichts­schreibung immer die Umdeutung von Vergangenheit. Das ist das, was Historiker tun.«

Wie empfinden Sie die derzeitige gesellschaftliche Situation hierzulande?

Ehrlich gesagt war ich von den Demonstrationen in Deutschland überrascht. Und zwar davon, wie vielfältig und wie groß sie waren und an wie vielen ­Orten sie stattfanden. Ich glaube, es waren in Berlin sehr viel mehr Menschen da, als die Polizei bereit war zuzugeben. Überraschend war auch, wie viele schwarze Menschen auf der Straße waren. Ich habe schon vor 30 Jahren gegen Rassismus demonstriert und empfand damals, dass wir uns auf öffentlichen Plätzen verlieren. Es ist ­bemerkenswert, wie viele Leute in diesem Land bekundeten, Rassismus habe auch etwas mit ihnen selbst zu tun. Dabei ist gar nicht so wichtig, wie authentisch diese Aussage ist. Hinter dieser Art von Kritik an Bekenntnissen zum Antirassismus steht eine Vorstellung von Reinheit, die gerade in diesem Zusammenhang extrem unproduktiv ist. Die Diskussion gab es ja auch, als die Flüchtlingsbewegung in Deutschland auf große Sympathie stieß. Um es knapp zu sagen: Mit selbstsüchtigen Helfern kann ich besser ­leben als mit selbstlosen Menschenfeinden.

Kaum ist eine linke Bewegung stark oder droht sich die öffentliche Meinung in Deutschland gegen Polizeigewalt zu wenden, passiert etwas wie die Kölner Silvesternacht, der G20-Riot oder die Stuttgarter Krawallnacht. Da kann man schon ein bisschen paranoid werden, oder?

Der Gedanke kommt einem und man fragt sich, woher diese Leute ihr Demogeld bekommen. Aber mal im Ernst, ich glaube, die Ereignisse sind nicht das Problem, sondern in welchen Bedeutungskontext das gestellt wird. ­Bewegungen, die Hilfe für geflüchtete Menschen oder die Solidarisierung mit Opfern von rassistischer und eben auch staatlicher rassistischer Gewalt fordern, versucht man immer zu relativieren, und währenddessen werden solche Ereignisse von interessierter Seite generalisiert und gezielt gerahmt. Da sind wir wieder bei dem Problem von double standards in der Wahrnehmung von gesellschaftlichen Konflikten.

Derzeit diskutiert man in vielen Ländern vermehrt über die Entfernung von Denkmälern aus der ­Kolonialzeit und Statuen von Rassisten. Welches Denkmal hierzu­lande sähen Sie gern entfernt?

Ich hätte gerne, dass die monarchis­tischen Insignien auf der Kuppel des Humboldt-Forums wieder abgenommen werden – Kreuz, Reichsapfel und solche Sachen. Diese Dinge sind nicht aus dem frühen Mittelalter. Friedrich Wilhelm IV. installierte sie bewusst als Symbol gegen die liberal-bürgerliche Bewegung von 1848. Die Art und Weise, wie man diese Symbolik heute für bedeutungslos erklärt, das ist ­tatsächliche Geschichtsvergessenheit.

Und welchen Straßennamen würden Sie als Erstes ändern?

In Berlin sollte die Treitschkestraße endlich umbenannt werden. Straßen sollten nicht nach Antisemiten benannt sein. Ansonsten kann alles auf den Prüfstand, das der Huldigung von Monarchie, Kolonialismus, Imperialismus und Militarismus dient. ­Diese ermöglicht es nämlich, dass im Alltag Menschenfeindlichkeit als ­unproblematisch oder normal erscheint.

Man hört oft den Vorwurf, dass sei alles nur Symbol- oder gar Identitätspolitik. Ist da etwas dran?

Die Mutter aller moderner Identitätspolitik ist doch der chauvinistische ­Nationalismus im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese Denkmäler von Generälen, Helden und Vordenkern entstanden alle vor diesem geschicht­lichen Hintergrund. Sie haben eine ganz bestimmte Bedeutung, die die Leuten, die diese Denkmäler errichteten, bewusst hervorgehoben haben. Deswegen ist dieses Argument sehr einseitig. Es ist richtig, ein gestürztes Denkmal wird keinem Flüchtling weiterhelfen, dem an der europäischen Außengrenze oder in den Erstaufnahmeeinrichtungen seine Rechte vorenthalten werden. Zugleich ist es aber sehr schwierig, eine öffentliche Kultur von Bürger- und Menschenrechten zu etablieren, wenn die Feinde von Bürger- und Menschenrechten weiter öffentliche Ehrung erfahren.

Welche Rolle spielt die Auseinandersetzung über Statuen und Denk­mäler im Kampf gegen Rassismus?

Letztlich ist es nur ein Feld von vielen. Wer sich darauf beschränkt, tut zu ­wenig. Darauf zu verzichten, ist aber auch falsch. In Erfurt, der Stadt, in der ich arbeite, gibt es eine Initiative namens »Decolonize Erfurt«. Mit Stadtführungen zeigt sie, wie präsent kul­turelle Vorstellungen von Ungleichheit und Minderwertigkeit anderer Menschen im Stadtbild sind. Die Führung führt vorbei an einem Bismarck-Denkmal, das erst in den frühen neunziger Jahren errichtet wurde. Es geht also nicht nur um Denkmäler aus dem 19. oder sogar 18. Jahrhundert, sondern auch um eine Symbolpolitik aus der unmittelbaren Vergangenheit, die auf die Gegenwart zielt.

Wie hängen der Kampf um bildliche Repräsentation im öffentlichen Raum und der um politische Rechte und Repräsentation zusammen?

Nehmen wir ein Beispiel: In Belgien gibt es ganz viele Denkmäler für Leopold II., den belgischen König, unter dem dieses furchtbare Regime in der Kongo-Region etabliert wurde. Es gibt eine Diskussion, wie man mit den Denkmälern umgeht, weil er gleichzeitig Symbolfigur für den belgischen Nationalismus ist. Es gab den Vorschlag, allen Statuen von Leopold II. den rechten Arm abzuschlagen, was eine gängige Praxis bei der Unterwerfung der Bevölkerung in der Kongo-Region war. Oder den Arm mit roter Acrylfarbe zu überstreichen. Nur wäre es ja durchaus möglich, dass unter diesen umgedeuteten Denkmälern sich die Feinde dieser Umdeutung erneut versammeln, um ihren eigenen Opferkult zu zelebrieren. Deswegen glaube ich, dass solche Dinge ins Museum gehören.

Die Gegner der Umbenennung von Denkmälern aus der Kolonialzeit behaupten, man versuche, die ­Geschichte auszulöschen oder um­zudeuten. Was sagen Sie dazu?

Grundsätzlich ist Geschichtsschreibung immer die Umdeutung von Vergangenheit. Das ist das, was Historiker tun. Zu behaupten, Geschichte sei so etwas wie ein Körper, den man nur freilegen müsse, und dabei bliebe das alles unverändert, ist eher Teil des Problems als der Erklärung. Historiker, aber auch moderne Gesellschaften, fragen sich ständig, in welchem Bezug sie zu ihrer Vergangenheit stehen, und schreiben ihre Geschichte deshalb auch immer wieder neu. Ich möchte ja, dass Geschichte umgedeutet wird: Ich ziehe eine Geschichte vor, die aufklärt und nicht heroisiert.

Auch kritische Stadtführungen nutzen die besagten Denkmäler gern, um Geschichte anschaulich zu machen.

Das stimmt. Aber diese Stadtführungen müsste es nicht geben, wenn es ein kritisches Bewusstsein in der Gesellschaft für diese Problematik gäbe. Letztlich führt kein Weg daran vorbei, zu fragen, mit welchen Absichten zu welcher Zeit welche Denkmäler, Straßennamen und Ähnliches etabliert wurden. Es ist, wie Sami Omar kürzlich und so treffend zu kolonialen Denk­mälern sagte: »Die Frage sollte nicht sein: Warum sollen wir sie entfernen? Die Frage müsste sein: Warum wollen wir sie behalten?«

Nach dem Ende der DDR waren es Konservative, die es eilig hatten, Ostdeutschland von sozialistischen Baudenkmälern und Straßennamen zu säubern. Wie passt das zusammen?

Da sind wir wieder bei der Frage der double standards. Da gab es manche Umbenennungen, die ich verstanden habe. Die Umbenennung der Clara-Zetkin-Straße in Berlin-Mitte war mir hingegen komplett unverständlich. Hier ist in einer Art und Weise vorgegangen worden, die wiederum zeigt, dass die Auseinandersetzung über die Ehrung im öffentlichen Raum eine Auseinandersetzung über das Selbstverständnis einer Gesellschaft ist. Was damals geschah, hatte viel mit der Auseinandersetzung über die diktato­rischen Seiten der DDR zu tun. Es zeigt aber auch, dass die gegenwärtig vor­gebrachte Behauptung, solche Umbenennungen seien ein Sakrileg an der Geschichte, unaufrichtig ist.

Wie steht es um das Bewusstsein der Deutschen, wenn es um Denkmäler und Straßennamen aus der Zeit des Nationalsozialismus geht?

Ich glaube, es ist sehr gering. Die wenigsten wissen wohl, wie in Berlin die Spanische Allee zu ihrem Namen kam (die vormalige Wannseestraße erhielt 1939 diesen Namen zu Ehren der aus dem Spanischen Bürgerkrieg zurückkehrenden Legion Condor, Anm. d. Red.). An dem Beispiel wird deutlich, dass es sich dabei um eine ganz gezielte politische Intervention in den öffentlichen Raum handelt. Die Auseinandersetzung über Denkmäler und Straßennamen kann nur befördern, dass dafür ein Bewusstsein entsteht. Aus längeren Diskussionen weiß ich, dass es sich dabei um einen schwierigen Prozess handelt. Da brechen oft Konflikte aus, die wohl­meinende Freunde eines homogenen und sinnstiftenden Geschichtsbilds für die nationale Gemeinschaft gern unter den Teppich kehren würden.