Coronakrise und informelle Arbeitsverhältnisse in Peru

Pandemie und Informalität

Peru ist nach Brasilien das Land mit den meisten Covid-19-Infektionen in Lateinamerika. Über 260 000 sind registriert, obwohl die Regierung früh Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus ergriffen hat.

Ende voriger Woche kam es nach langen Verhandlungen dann doch zu einer Einigung zwischen den Betreibern von Privatkliniken und der peruanischen Regierung von Präsident Martín Vizcarra. Die Privatkliniken sind der Regierung entgegengekommen: Sie werden nun auch Patienten mit Covid-19-Erkrankung behandeln. Der Entwicklungsexperte Carlos Herz ist dennoch eher skeptisch. »Das Grundproblem ist das total ineffiziente öffentliche Gesundheitssystem, das obendrein extrem segmentiert ist. Das wenige Geld für die Gesundheitsversorgung, wir reden von kaum mehr als zwei Prozent des Bruttosozialprodukts, wird auf mehrere Empfänger verteilt«, kritisiert der 66jährige. Ein Unding für Herz, der für eine kirchliche Bildungseinrichtung in Cusco arbeitet und auch immer wieder Orga­nisationen bei Entwicklungsprojekten berät: »Peru leistet sich ein ständig ­unterfinanziertes öffentliches Gesundheitssystem, dem unabhängige Gesundheitseinrichtungen der Streitkräfte und private Kliniken gegenüberstehen. Doch damit nicht genug: In Lima gibt es noch ein zusätzliches städtisches System und ein weiteres Netz von Gesundheitseinrichtungen für die Allerärmsten, das SIS«, kritisiert Herz kopfschüttelnd. Er hält das Gesundheits­system in Peru für absurd strukturiert und chronisch ineffizient.

Die Maßnahmen gegen Covid-19 pas­sen nicht zur Lebensrealität in den Armenvierteln, die meist nicht ans Wassernetz angeschlossen sind.

Deshalb war es richtig, dass die Regierung Mitte März schnell einen lockdown verhängte. Der wird nun langsam wieder gelockert, dabei spielen die wichtigsten Sektoren der Wirtschaft eine maßgebliche Rolle: der Bergbau und die Fischerei. Die entsprechenden Verbände machen seit Wochen Druck, die Förderung beziehungsweise die Fangmengen wieder steigern zu dürfen. Bei der Bevölkerung im andinen Hochland, wo das Gros der Minen angesiedelt ist, geht hingegen die Angst um, dass das Virus mit den Bergarbeitern in die abgelegenen Regionen kommen könnte. Das hat dazu geführt, dass sich Dörfer und Gemeinden mit Straßensperren abriegeln und möglichst keine Unbekannten passieren lassen. Fotos mit der Parole »Hier kommt Covid-19 nicht rein« kursierten in der Region von Cusco genauso wie im Norden des Landes, wo sich große Kupferbergwerke befinden, berichtet Carlos Monge, Lateinamerika-Koordinator des Natural Resource Governance Institute in Lima. Das Institut engagiert sich für einen transparenten und effektiven Umgang mit Ressourcen und beobachtet den Bergbausektor.

60 Prozent der peruanischen Exporte entfallen auf den Bergbau. Seit Mitte Mai haben die 17 großen Bergbaugesellschaften Perus erfolgreich Druck auf die Regierung ausgeübt, damit die Förderung wieder in vollem Umfang anlaufen kann; Mitte Juli soll das spätestens der Fall sein. Für die in den Minenregionen lebende, oft indigene Bevölkerung ist das ein Infektionsrisiko: Das Gros der Familien der Bergarbeiter lebt in den großen Städten wie Lima, Arequipa oder Cusco, nach Besuchen könnten die Bergarbeiter das Virus in die Regionen wie Espinar, Ancash oder La Libertad tragen. Die Angst ist begründet, zwei Minen sorgten mit hohen Infektionszahlen für negative Schlagzeilen. Die Kupfermine Antamina in der Region Ancash und das Konsortium Horizonte in der Region La Libertad haben mit 210 beziehungsweise 320 infizierten Bergarbeitern Zweifel an den in den Betrieben herrschenden Sicherheitsregeln geweckt. Anfang Juni waren landesweit über 820 infizierte Bergarbeiter registriert, zitiert das kritische Entwicklungsnetzwerk Muqui aus einem internen Papier aus dem Bergbau- und Energieministerium. Die Sicherheitskonzepte scheinen alles andere als effektiv zu sein, so Monge, der zudem darauf hinweist, dass das Gesundheitssystem in den ländlichen Regionen wesentlich schlechter ist als in den Städten.

Doch der Hauptgrund dafür, dass Peru deutlich höhere Infektionsquoten aufweist als das benachbarte Bolivien oder Ecuador, ist Carlos Herz zufolge der hohe Anteil von 72 Prozent der Bevölkerung, die ihr Auskommen im informellen Sektor erwirtschaften. »Diese Menschen können vielleicht zwei Wochen zu Hause bleiben, wenn Präsident Martín Vizcarra sie dazu auffordert. Danach sind die Rücklagen aufgebraucht. Sie erhalten nicht wie ich am Monats­ende ein fixes Gehalt auf ihr Bankkonto. Oft haben sie nicht mal eines«, sagt Herz. Er arbeitet im andinen Hochland Perus, in Städten wie Cusco, Puno oder Abancay. Dort sind die Infektionszahlen bisher noch niedrig. Das habe bereits zu Spekulationen geführt, ob das Virus mit der Höhe, in der diese Regionen liegen, nicht klarkommt, berichtet Herz. Covid-19 sei in Peru ein Küstenphänomen: »In Lima und der Küstenregion ballen sich die Infektionszahlen, dort arbeitet das Personal in den Kliniken seit Wochen am Rande des ­Zusammenbruchs.«

Obwohl die Regierung früh reagierte und bereits Mitte März die Schulen schloss und die Wirtschaft auf die existentiell wichtigen Bereiche beschränkte, hat es lange gedauert, bis sich die Infektionskurve langsam abflachte. Doch nun hat sich die Zahl der registrierten Infektionen binnen 29 Tagen auf mehr als 268 000 verdoppelt, es gab bereits rund 8 800 Tote. Die Regierung, die in den ersten Wochen Lob für ihr Krisenmanagement bekam, scheint das Virus auch nach mehr als 100 Tagen des lockdown nicht in den Griff zu bekommen. Die Maßnahmen passen schlicht nicht zur Lebensrealität in den Armenvierteln Limas und anderer großer Städte. »Oft haben diese Stadtteile keine Wasseranschluss, werden von Tankwagen beliefert, die viel Geld für das angelieferte Wasser verlangen. Da ist die Aufforderung, sich regelmäßig die Hände zu waschen, schlicht zynisch. Das Infektionsrisiko ist folglich hoch«, schildert Carlos Herz die Verhältnisse.

Aus Sicht der Bevölkerungsmehrheit, die sich ohne feste Anstellung durchschlägt, ist es nicht eine Pandemie, die den Alltag dominiert, sondern es sind mehrere Geißeln: die Arbeitslosigkeit, die ständige Unsicherheit wegen der herrschenden Kriminalität, die schlechte öffentliche Infrastruktur, etwa im Gesundheitssystem, bei der Trinkwasserversorgung und im öffentlichen Nahverkehr. Auf diese alltäglichen Probleme und auf ein Gesellschaftsmodell, dass auf Egoismus und Geschäft basiere, hat auch der Erzbischof von Lima, Carlos Castillo Mattasoglio, in mehreren Predigten aufmerksam gemacht.

Die Entwicklungsexperten Carlos Herz und Carlos Monge verweisen zudem auf eine Häufung von Korruptionsfällen. Ein Nebeneffekt der Pandemie, der damit zusammenhängt, dass die Regierung weiterhin nach tradierten Mustern agiert. Ein Beispiel ist, dass die großen Lebensmittelkonzerne beauftragt wurden, auf staatliche Kosten Lebensmittelpakete für die notleidende Bevölkerung zu packen, statt auch die Kleinbauern zu beteiligen. »Das ökonomische Modell des Landes wird nicht in Frage gestellt. Förderung für Kleinbauern gibt es genauso wenig wie ­einen Wandel im Gesundheits- und im Bildungssystem, die reformiert gehören«, kritisiert Herz. »Wir bezahlen derzeit die Quittung für eine Privatisierungslogik, die vor beiden Sektoren nicht haltgemacht hat. Ein Land wie Peru sollte zwölf Prozent seines BIP für Bildung und Gesundheit ausgeben.« In der Realität ist es nicht einmal halb so viel.