20 Jahre Unklarheit
Der »Aufstand der Anständigen«, den Bundeskanzler Gerhard Schröder im Herbst 2000 ausrief, dient bis heute als Referenzpunkt für Proteste gegen rechte Anschläge. Die misslungene Aufarbeitung des antisemitischen und rassistischen Anschlags am Düsseldorfer Bahnhof Wehrhahn erinnert aber daran, dass demonstrative Empörung die mangelhafte Strafverfolgung rechten Terrors weder verhindert noch behebt. Mit seinem Appell reagierte Schröder kurz nach den Einheitsfeierlichkeiten 2000 auf energische Äußerungen Paul Spiegels, des damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Dieser hatte nach einem nächtlichen Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge am 2. Oktober 2000 Solidarität eingefordert. Explizit hob Spiegel hervor, dass es sich bei diesem Anschlag um den zweiten Angriff auf Juden binnen eines halben Jahres handelte. Während die Täter dieses zweiten Anschlags, zwei junge Männer, die ihre Tat antiisraelisch begründeten, schnell ausgemacht werden konnten und der »Aufstand der Anständigen« zum geflügelten Wort avancierte, blieb der erste Fall, der Wehrhahn-Anschlag, bis heute ungelöst. Der umfangreiche Strafprozess gegen einen Verdächtigen, der im Jahr 2018 mit einem Freispruch endete, legte offen, wie mangelhaft die Behörden vor nunmehr 20 Jahren ermittelten, während die Politik den moralischen Aufstand probte.
Am 27. Juli 2000 explodierte kurz nach 15 Uhr eine Splitterbombe in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt. Zehn Menschen wurden auf ihrem Heimweg von einer nahegelegenen Sprachschule am S-Bahnhof Wehrhahn teils sehr schwer verletzt, eine im fünften Monat Schwangere erlitt eine Fehlgeburt, weil sie ein Bombensplitter in den Bauch traf.
Die verletzten Sprachschüler stammten aus Russland, der Ukraine, Kasachstan und Aserbaidschan. Sechs der Opfer waren Jüdinnen und Juden, Mitglieder der lokalen jüdischen Gemeinden. Nur weil die rund 300 Gramm TNT in der selbstgebauten Rohrbombe verunreinigt waren, sei kein schlimmerer Schaden entstanden, befand knapp 18 Jahre später ein Sachverständiger vor Gericht, wie in Prozessprotokollen der Düsseldorfer Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) nachzulesen ist.
Nach der Tat riefen antifaschistische Gruppen mit Unterstützung der Jüdischen Gemeinde zu einer Demonstration auf, an der sich rund 2000 Personen beteiligten. Die Solidarität von Zivilgesellschaft und Politik habe damals geholfen, sagt Sophie Brüss von Sabra, der Beratungsstelle gegen Antisemitismus der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, im Gespräch mit der Jungle World. Die Angst, es könne »jederzeit wieder passieren«, sei in der Gemeinde nach wie vor sehr präsent. Der antisemitische Terror hänge immer noch als ständige Bedrohung über der Gemeinde.
Unter Verdacht geriet schnell der Rechtsextreme Ralf S., der 500 Meter vom Tatort entfernt, direkt gegenüber der Sprachschule, einen Militaria-Laden betrieb. S. war in der Stadt bekannt: Der ehemalige Soldat galt als »Waffennarr«, er lief mit seinem Rottweiler im Viertel regelrecht Streife und erzählte, dass dieser auf den Befehl »Asylant« abgerichtet sei. Zudem pflegte er enge Kontakte zur damals starken lokalen Neonaziszene und dem jungen Anführer der »Kameradschaft Düsseldorf«, Sven Skoda.
Lokale Antifa-Gruppen kannten den vorbestraften S. und seine Kontakte gut, in der Jungle World wurde sein Name schon wenige Tage nach der Tat genannt. Obwohl rassistische oder antisemitische Motive auch für die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft der »Hauptermittlungsansatz« waren und Politiker die Tat zum Anlass nahmen, sich gegen Rechtsextremismus zu bekennen, ermittelten die dafür zuständigen Behörden mit eher mäßigem Eifer: Erst zwei Tage nach der Tat sahen sich zwei Polizisten erstmals eine knappe Stunde in der Wohnung von Ralf S. um, die Überwachung seiner Telefonate begann noch später. Ein Phantombild des Täters wurde offenbar jahrelang nicht genutzt. Einige Tage nach dem Anschlag wurde S. kurzzeitig festgenommen, die Ermittlungen wurden 2002 jedoch eingestellt, da sich ein Tatverdacht nicht habe erhärten lassen.
In den Medien wurden über die Jahre unterschiedliche Thesen zum Tathergang präferiert, die Ermittlungsbehörden richteten ihren Verdacht außer auf die lokale Naziszene auch auf die osteuropäische organisierte Kriminalität und den islamistischen Terrorismus. Als Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück die Ermittlungen im Jahr 2009 einstellte, schloss er einen rechtsextremen Hintergrund mit der Begründung aus, dass es »nie ein Bekennerschreiben gegeben« habe.
Erst 2014 kam wieder Bewegung in die Angelegenheit, nachdem ein Mithäftling von Ralf S., der wegen kleinerer Delikte einsaß, angegeben hatte, dieser habe ihm die Tat gestanden. Das Verfahren wurde wiederaufgenommen und S. Anfang 2017 in Untersuchungshaft genommen. Er stritt die Tat weiterhin ab und sah sich als Opfer einer Verschwörung des vermeintlich jüdischen Staatsanwalts Herrenbrück.
Staatsanwaltschaft und Nebenklage forderten für S. eine lebenslange Haftstrafe wegen zwölffachen versuchten Mordes. Der Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf unter dem Vorsitzenden Richter Rainer Drees reichte die Indizienkette jedoch nicht, um die Schuld von S. festzustellen.
Dazu beigetragen haben möglicherweise einige Versäumnisse bei den Ermittlungen im Jahr 2000, die etwa MBR und der NSU-Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags scharf kritisierten. Das Verfahren endete im Juli 2018 mit einem Freispruch. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs über die Revisionsanträge von Staatsanwaltschaft und Nebenklage stehe derzeit noch aus, teilte die Staatsanwaltschaft der Jungle World auf Anfrage mit.
Fabian Reeker, der für die Opferberatung Rheinland (OBR) Opfer von rechter Gewalt unterstützt, kennt die Folgen derart langer Ermittlungs- und Strafverfahren: Ihre Dauer stehe der emotionalen Bewältigung des Erlebten »diametral entgegen«, da dieses nicht abschließend verarbeitet werden könne und es zu »fortwährenden Reaktualisierungen der traumatischen Erfahrungen« komme, sagt er im Gespräch mit der Jungle World.
Brüss beklagt, dass die Aufmerksamkeit für das Verfahren und für den noch immer ungeklärten Anschlag geschwunden sei. Zwar gebe es Lichtblicke wie eine kürzlich aufgestellte Gedenktafel am Tatort oder einzelne Gedenkveranstaltungen. Insgesamt nehme sie heute aber »erschreckend wenig« Interesse an dem Anschlag und dessen Folgen wahr. Sie frage sich manchmal, ob die solidarische Positionierung der Mehrheitsgesellschaft damals und heute geheuchelt sei: »Das ist Effekthascherei, statt das Problem des Antisemitismus an der Wurzel anzupacken.«