Die »Democratic Socialists of America« fordern das Establishment der Demokratischen Partei heraus

Größer als Sanders

Viele Unterstützer von Bernie Sanders, der sich zweimal erfolglos um die Präsidentschaftskandidatur der US-Demokraten beworben hat, sind den Democratic Socialists of America beigetreten. Die fordern weiter das Establishment der Demokratischen Partei heraus, manchmal mit Erfolg. Zudem leisten sie Hilfe in der Covid-19-Pandemie und unterstützen die »Black Lives Matter«-Bewegung.

Es war das Stigma, Sozialistin zu sein, das Ana Perez lange Zeit davon abhielt, Mitglied der Democratic Socialists of America (DSA) zu werden. »Ich war 2016 Sanders-Unterstützerin, davor war ich nicht politisch aktiv«, erzählt sie. Bereits vor vier Jahren hörte Perez zum ersten Mal von den DSA. Eigentlich wollte sie sich mehr engagieren, war aber unentschlossen, auch weil eine Stelle als Englischlehrerin in Spanien winkte. Zurück in Texas nahm sie dieses Jahr am Haustürwahlkampf für Bernie Sanders teil, der sich wie schon vor vier Jahren um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten bewarb. Mit Beginn der Covid-19-Pandemie wurde Perez Mitglied der DSA; »endlich«, wie sie sagt. Sie wollte bei selbstorganisierten Hilfsprojekten mitmachen und mit Menschen zusammenarbeiten, »die meine Weltsicht teilen«.

Bereits nach der ersten Kampagne für die Präsidentschaftskandidatur von Sanders wuchsen die DSA stark. Vor ­jener Kampagne hatten sie rund 10 000 Mitglieder, im vergangenen Jahr waren es etwa 55 000. Seit dem Scheitern von Sanders’ zweiter Kampagne werden erneut viele Menschen Mitglied der Organisation. Die DSA waren mit der Kampagne eng verbunden. Viele DSA-Mitglieder arbeiteten als bezahlte ­organizer für Sanders’ Team. Die DSA betrieben eine eigene kleine Kampagne. 91 Ortsgruppen machten Haustürwahlkampf für den Senator aus Vermont, DSA-Mitglieder klopften an eine halbe Million Türen. Verbunden war das aber immer auch mit Werbung für die eigene Organisation, die so neue Mitglieder gewinnen wollte. Nachdem Sanders seine Kampagne am 8. April beendet hatte, luden in vielen Orten DSA-Mitglieder dessen Unterstützer zu Nachtreffen ein und warben ­unter dem Motto »Bigger than Bernie« um Mitglieder. Sanders empfahl seinen Unterstützern, sich weiter zu engagieren, und nannte dafür mehrere Organisa­tionen, darunter die DSA. Diese haben mittlerweile mehr als 70 000 Mitglieder. Der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 30 Jahren. Die deutsche Linkspartei hat über 60 000 Mitglieder. Diese sind im Durchschnitt deutlich älter als die Mitglieder der DSA.

»Unsere Ortsgruppen verlassen die Bernie-Kampagne größer und erfahrener, sie sind jetzt mehr denn je ›schlachterfahren‹«, sagt Megan Svoboda vom National Political Committee (NPC), dem Vorstand der DSA. Mit der Pandemie kamen die nächsten politischen Kämpfe. Viele Unternehmer wollten, dass ihre Angestellten ohne Schutz­ausrüstung weiterarbeiten. Zusammen mit der unabhängigen Gewerkschaft »United Electrical, Radio and Machine Workers of America« haben die DSA ein Notfallkomitee gebildet, an das sich die Arbeiter wenden können. DSA- und Gewerkschaftsmitglieder leisten Hilfe zur Selbsthilfe. In einem Land, in dem es immer weniger Gewerkschaftsmitglieder gibt, erklären sie, wie man sich organisiert und Arbeitgeber unter Druck setzt, um zu erreichen, dass etwa Gesichtsmasken zur Verfügung gestellt werden.

»Die Coronakrise zeigt, dass die Kapitalisten bereit sind, das Leben vieler Menschen für ihren Profit zu riskieren«, sagt Marianela D’Aprile, DSA- und NPC-Mitglied aus Chicago. »Viele wollen dagegen ankämpfen und die DSA sind der Ort, um das zu tun.« Wie andere DSA-Gruppen versucht die Orts­gruppe, zusammen mit anderen linken Organisationen, Mietern in der Coronakrise zu helfen. Zudem leisten DSA-Mitglieder Nachbarschaftshilfe, indem sie in den ärmeren Vierteln von Chicago Menschen in Not versorgen.

Das macht nun auch Ana Perez. Sie ist Mitglied des »Mutual Aid Committee« und hilft, Lebensmittelspenden zu koordinieren; auch bei einem Gartenprojekt arbeitet sie mit. »Ich habe mehrere Wochen hintereinander an organizer-Trainings teilgenommen, bei denen wir über Macht und Strategie gesprochen haben und darüber, wie man eine erfolgreiche Kampagne organisiert«, sagt sie. Neumitglieder werden in Onlineveranstaltungen fortgebildet. In Austin, Texas, gibt es inzwischen eine sozialistische Abendschule, in der DSA-Mitglieder per Stream über Theoriefragen, die Abschaffung der Polizei oder die »Black Lives Matter«-Bewegung diskutieren. So wird versucht, die neuen Mitglieder zu integrieren und fortzubilden.

»Internes organizing« nennt D’Aprile das. Sie sagt, in Chicago sollten ein Mentorenprogramm und eine »virtuelle Kaffeestunde« den über 400 Neumitgliedern helfen, »ihren Platz zu finden«, und socializing trotz der Pandemie möglich machen. In der virtuellen Kaffeestunde werden sechs bis zehn Neu- und Altmitglieder für eine Stunde per Zoom-Call zusammengebracht. Dort können auch Nichtmitglieder Fragen stellen und DSA-Mitglieder kennenlernen. Sarah Hurd, ein DSA-Mitglied aus Chicago, sagt: »Ich denke, die Leute kommen zu den DSA, weil sie die Nase voll haben und von den eigenen Erfahrungen radikalisiert werden.«

Nach der Tötung George Floyds ­haben die DSA an »Black Lives Matter«-Demonstrationen teilgenommen. ­Dabei leisteten sie praktische Unterstützung, etwa für Festgenommene. »Ein neues Mitglied hat mit erzählt, wie er im Gefängnis mit einem anderen DSA-Aktivisten andere davon überzeugt hat, beizutreten«, sagt Hurd. Perez ­erzählt, ihre Gruppe habe Essen und Wasser sowie Erste Hilfe bereitgestellt. Im Zuge der Proteste wurde die seit längerem etwa vom zu den DSA gehörenden »Afrosocialists and Socialists of Color Caucus« geäußerte Kritik an der Organisation lauter, diese rede zwar viel von der »Arbeiterklasse«, werde aber von Akademikern und Weißen ­dominiert. Vorige Woche hat die Spitze der Organisation reagiert, in das 16köpfige NPC wurden drei Schwarze berufen.

New York City ist mit 5 000 Mitgliedern, darunter 1 000 Neumitglieder, eine Hochburg der Organisation. Dort erproben die DSA eine andere Strategie, um people of color mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Sie stellten zu den Vorwahlen der Demokraten zum Kongress und zum Staatsparlament fünf people of color als Kandidatinnen und Kandidaten auf: Samelys López, eine Nachbarschaftsaktivistin mit ­puertoricanisch-dominikanischem Hintergrund; Marcela Mitaynes, eine ­peruanisch-US-amerikanische Mietenaktivistin; die haitianischstämmige Krankenschwester Phara Souffrant Forrest; den Sohn ugandisch-indischer Einwanderer Zohran Kwame Mamdani und den schwarzen Lehrer Jabari Brisport. Über 50 000 US-Dollar an Klein­spenden sammelte die New Yorker DSA-Gruppe für ihre Kandidatinnen und Kandidaten. Mitaynes, Mamdani und Brisport konnten sich durchsetzen. Das Magazin Politico schrieb: »Die DSA sind zu einer ernstzunehmenden Kraft in der New Yorker Politik geworden.«

Seit das DSA-Mitglied Alexandria Ocasio-Cortez 2018 überraschend in das Repräsentantenhaus gewählt worden war, galt der von engagierten Mitgliedern geführte Haustürwahlkampf als Stärke der Organisation. Die Pandemie erzwang jedoch eine Umstellung. »Es wurde vor allem teurer, es waren schon Mietverträge für Kampagnenbüros unterschrieben, nun kamen höhere Kosten für Telefonkampagnen-Tools und die Verschickung von Werbematerial dazu«, sagt das DSA-Mitglied Devin McManus.

In Austin traten die DSA im März mit einer eigenen Kandidatin, der linken Aktivistin und Landwirtin Heidi Sloan, zur Vorwahl der Demokraten in einem Kongresswahlbezirk an. Doch Sloan scheiterte mit 30 Prozent der Stimmen. Der Anwalt José Garza, ebenfalls ein DSA-Mitglied, kandidierte für das Amt des Bezirksstaatsanwalts in Travis County, dem fünftgrößten Landkreis in Texas, und zog in die Stichwahl ein. Diese gewann er am vorvergangenen Dienstag mit 68 Prozent der Stimmen. Am Vortag hatten Ana Perez und rund zwei Dutzend DSA-Mitglieder noch 6 000 Wähler mit einem Telefon-Tool angerufen, um für Garza zu werben. Der will Anzeigen wegen Marihuanabesitzes nicht mehr verfolgen lassen und die für Arme oft unerschwinglichen Kautionszahlungen abschaffen.

Zudem hat er versprochen, bei Polizeigewalt gründlich ermitteln zu lassen. Derzeit sitzen mehr als 100 DSA-Mitglieder in den USA in Stadträten und Staatsparlamenten sowie drei im Kongress.
Trotz strategischer Debatten und schwieriger Bedingungen wegen der Pandemie wachsen die DSA weiter und sind vermehrt auch abseits der Großstädte präsent. Inzwischen haben sie über 400 Ortsgruppen. Die Mitgliederzahl soll bis Anfang 2021 auf 100 000 steigen. Sie sei unsicher, ob dieses Ziel erreicht werde, doch »es fühlt sich an, als ob es möglich sei«, sagt Hurd.