Das naive Verständnis politischer Konflikte des »Letter on Justice and Open Debate«

No Justice, No Debate

Ein Appell zur offenen Debatte von Intellektuellen, Journalisten und Künstlern hat in der vergangenen Woche Widerspruch ausgelöst – zu Recht, denn die Unterzeichnenden zeigen ein naives Verständnis von politischen Konflikten.
Disko Von

153 Prominente, darunter die Kinderbuchautorin Joanne K. Rowling, der Philosoph Noam Chomsky und die feministische Journalistin Gloria Steinem, haben den auf der Website des Harper’s Magazine veröffentlichten »A Letter on Justice and Open Debate« unterschrieben.

Darin warnen sie: »Unsere Kulturinstitutionen stehen vor einer Prüfung.« Der Brief bezieht sich auf die derzeitigen politischen Bewegungen wie »Black Lives Matter«, deren Ziele gewürdigt werden, die jedoch »auch ein neues Instrumentarium moralischer Einstellungen und politischer Bekenntnisse verstärkt haben, die dazu tendieren, unsere Normen der offenen Debatte und der Toleranz von Differenzen zugunsten ideologischer Konformität zu schwächen«. Zwar begrüßen die ­Unterzeichnenden die Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit – das war es aber auch schon mit der Gesellschaftskritik. Nach dieser Floskel mischen sich Plattitüden, etwa, dass Gerechtigkeit und Freiheit nicht ohne einander zu haben seien, mit der kulturpessimistischen Erzählung, der »freie Austausch von Informationen und Ideen« werde »von Tag zu Tag mehr ein­geengt«. Die so geschaffene »erstickende Atmosphäre« werde letztlich den »wichtigsten Anliegen unserer Zeit« schaden. Diese Formulierungen zeigen, was viele Kritiker des Briefs schon als ­»Geraune« bezeichnet haben: Die Unterzeichnenden sind alle wohlbekannte Leute, mit Buchverträgen und großer Reichweite, wer ihnen diese Bedeutung streitig machen könnte, bleibt aber diffus. Statt Beispiele zu bringen und konkrete Probleme zu benennen, werden lediglich Andeutungen präsentiert wie: »Journalisten werden daran ­gehindert, über bestimmte Themen zu schreiben.«

Für die Rechten erfüllt die Rede von der cancel culture dieselbe Funktion wie der Kampfbegriff der political correctness.

Diesen Andeutungen ist eine Initiative von »journalists of color« in einem »More Specific Letter on Justice and Open Debate« nachgegangen. Sie ­vermuten, einer der gemeinten Redakteure, die entlassen worden seien, »weil sie umstrittene Beiträge gebracht haben«, könne James Bennet sein. Der Redakteur der New York Times hatte Anfang Juni einen Kommentar des ­republikanischen Senators Tom Cotton mit dem Titel »Send In the Troops« publiziert. Cotton forderte darin, das Militär gegen die »Black Lives Matter«-Proteste und »die Antifa« einzusetzen. Nach Protesten auf Twitter und aus der Redaktion hatte Bennet den Text erst verteidigt, dann angegeben, ihn vor der Veröffentlichung gar nicht gelesen zu haben, und war schließlich von ­seinem Posten zurückgetreten. Die Zeitung fügte dem Meinungsstück online eine redaktionelle Anmerkung hinzu, in der sie sich für die nachlässige ­redaktionelle Betreuung des Artikels entschuldigte. Zudem sei der Ton des Textes unnötig scharf und deshalb einer »nützlichen Debatte« nicht zuträglich. In anderen Fällen, auf die die Andeutungen des offenen Briefs mutmaßlich ­anspielen, würden, so der »More Specific Letter«, Ereignisse aufgebauscht, die weder zu Entlassungen noch zur Verhinderung von Publikationen geführt hätten.

Die Hintergründe der jeweiligen Fälle mögen Rowling und den anderen ­Unterzeichnenden des offenen Briefs irrelevant erscheinen, allerdings ermöglicht erst deren Kenntnis, überhaupt zu beurteilen, ob es ein Problem gibt – oder, im Gegenteil, eines behoben wurde. Am Fall Bennets könnte man ja tatsächlich kontrovers diskutieren, ob Meinungen von hochrangigen Politikern noch zusätzlich ein prominenter Platz in der Presse eingeräumt werden sollte. Dies für nicht sinnvoll und sogar schädlich zu halten – sowohl für die Zeitung als auch für die Demokratie –, wäre jedenfalls auch eine legitime Meinung und nicht Teil einer ominösen cancel culture.

Dieser Begriff taucht zwar in dem offenen Brief nicht auf, die Denkfigur, aufgebrachte Aktivisten und Aktivistinnen gefährdeten die freie Rede und damit die Demokratie, ist aber die gleiche.

Auch in Deutschland bleibt es bei der Behauptung, es gebe eine solche »Kultur«, ohne dass plausiblere Belege vorlägen als eine Handvoll Auseinandersetzungen, bei denen zudem die Kritisierten alles andere als mundtot ­gemacht wurden. Dem politischen Gegner das Podium zu nehmen, ist eine Strategie, die in politischen Auseinandersetzungen zur Anwendung kommt, spätestens seit Publius Clodius Pulcher 56 v. u. Z. von der römischen Rostra ­geprügelt wurde. Berechtigung hat der Begriff cancel culture wohl am ehesten als selbsterfüllende Prophezeiung: Mit seiner Hilfe wird versucht, Kritik abzuwehren und die Debatte auf die Form der Kritik (zu wütend, zu viele, zu Internet) statt auf die ursprünglich kritisierten Inhalte (waren sie rassistisch, menschenfeindlich, antisemitisch?) zu lenken.

Die selbsternannten Verteidigerinnen und Verteidiger der »freien Rede« zeigen ein ausgesprochen naives Verständnis politischer Auseinandersetzungen: »Schlechte Ideen besiegt man, indem man sie entlarvt«, heißt es in dem Brief, so, als würden sich politische Konflikte mit dem Austausch von Argumenten beilegen lassen, als könnte man Rassismus, Antisemitismus oder LGBT*QI-Feindlichkeit einfach wegdiskutieren. Diese Ideologien wirken nicht, weil sie argumentativ so gut begründet sind, sondern weil sie auf irra­tionale Ressentiments bauen.

Öffentliche Äußerungen zur Verbreitung dieser Ideologien sind keine Sprachspiele, an deren Ende sich der zwanglose Zwang des besseren Arguments durchgesetzt haben wird, sondern propagandistische Absichtserklärungen. Die Versuche, bestimmte Leute und ihre Ideologien zu canceln, sollen die Hassrede gegen Minderheiten eindämmen, auf die auch Taten folgen.

Manchmal ist es auch eine Strategie, Räume zu erobern, in denen man sich nicht andauernd rassistisch, sexistisch oder transfeindlich beschimpfen lassen muss. Sicherlich gibt es dabei auch ­ätzende Positionen und nicht jede Person, die einen Shitstorm erlebt, hat diesen auch verdient. Wenn aber der Redakteur oder die Professorin immer als erste Strategie die Legitimität der Kritik, die ihnen zuteil wird, in­frage stellen, dürfen sie sich eigentlich auch nicht wundern, dass die Gegenstimmen lauter und ärgerlicher werden.

Die nicht liberale, sondern liberalistische Position der Unterzeichnenden fetischisiert die Methode und ignoriert den Inhalt. Sie behauptet Gleichgültigkeit bezüglich der politischen Haltungen hinter den Versuchen, den öffentlichen Einfluss von Personen oder Gruppen zu mindern. Sie folgt dem klassischen Schema, nach welchem sich die Linken und Rechten wie die Ränder eines Hufeisens einander annäherten. Auch der offene Brief bedient dies, indem Donald Trump als »mächtiger Verbündeter« des Illiberalismus bezeichnet und im nächsten Satz gefordert wird, Widerstand dürfe sich nicht zum Dogma oder Zwang »verhärten«.

Es wird postuliert, jeden Ausschluss von Meinungen oder Per­sonen zu verurteilen, problematisiert werden dann aber meist nur Aktionen von Linken. Es macht aber einen Unterschied, ob dem Mitbegründer der AfD, Bernd Lucke, Zutritt zum Hörsaal verwehrt werden soll, ob die AfD aufruft, antifaschistische Lehrerinnen zu ­denunzieren, oder ob die Bundesregierung beschließt, keine Räume oder ­finanziellen Mittel an die antisemitische BDS-Bewegung zu vergeben. Diese Ereignisse sollten in erster Linie politisch und nicht nach der Methode des verwehrten Zugangs zu öffentlichen ­Räumen bewertet werden. Liberale mögen es für Fairness halten, die ­Methode angeblich überall gleichermaßen abzulehnen, allerdings wird ­dabei immer wieder ignoriert, wie viele gesellschaftlich Marginalisierten a priori überhaupt keine Möglichkeiten haben, sich öffentlich wirkmächtig zu äußern. Sie sind sozusagen seit ihrer Geburt gecancelt.

Für die Rechten erfüllt die Rede von der cancel culture dieselbe Funktion wie der Kampfbegriff der political correctness. Es wird eine vermeintliche linke Meinungshegemonie konstatiert, gegen welche sich die Freigeister zur Wehr setzen müssen, und damit der Anschluss an das liberale und konser­vative Lager gesucht. Sich auf diese Weise des Streits zu entledigen, kann aber ­offenbar auch Linke oder Linksliberale – denn als solche verstehen sich viele Unterzeichnende des Briefs – locken: Rowling wurde kürzlich wegen ihrer bioessentialistischen Positionen zu Geschlecht angegangen, zum einen in Form teilweise frauenverachtender Online-Kommentare, zum anderen aber auch mit pointierter bis polemischer Kritik. Ihre »schlechten Ideen« konnten zwar mit wissenschaftlichen Studien »entlarvt«, aber eben nicht »besiegt« werden. Stattdessen verstand sie es, die Debatte auf ihre angeblich bedrohte freie Rede umzulenken. Dieser billige Ausweg, den die Rede von einer cancel culture und der Ruf nach einer vermeintlich »offenen Debatte« bietet, sollte nicht genommen werden.