Frank Witzel, die alte Bundesrepublik, therapeutische Maßnahmen und die Spuren des Vergangenen

SOS in der BRD

Der neue Roman von Frank Witzel erinnert an die alte Bundesrepublik und oszilliert dabei zwischen Autobiographie und Therapie.

Der österreichische Autor Christian von Zedlitz schrieb: Tot ist nur, wer vergessen wird. In diesem Sinne könnte man die Hinterbliebenen die letzte Bastion gegen den Tod bezeichnen. So gesehen wird Trauerarbeit zur Kampfzone und die Erinnerung zur Front.

Ganz so dramatisch beziehungsweise martialisch geht es in Frank Witzels neuem Buch »Inniger Schiffbruch« nie zu. Doch ringt der Ich-Erzähler des Buchs sehr häufig mit sich, mit der Trauer und den Erinnerungen. Seine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, der Tod des Vaters liegt erst wenige Wochen zurück. Auch wenn er, der Erzähler, keine Trauer empfindet (wenn überhaupt, ein Gefühl des Bedauerns), lähmt es ihn. Er ist Schriftsteller, und das Schreiben fällt ihm schwer.

Eine große Erzählung wartet nicht auf die Lesenden. Zwar wird der Roman zusammengehalten von Anmerkungen bezüglich Aktivitäten der Hauptfigur; mal fährt sie wohin, mal räumt sie auf. Der Großteil des Textes besteht allerdings aus oft stringenten und lose miteinander verknüpften Gedankengängen, Traumerzählungen und deren Deutung sowie aus Rückschauen. Dazwischen versammelt Frank Witzel allerlei Reminiszenzen an und Trivia aus der Geschichte der BRD.

»Inniger Schiffbruch« besteht großteils aus stringenten und lose miteinander verknüpften Gedankengängen, Traumerzählungen und deren Deutung, aus Rückschauen.

Im Mittelpunkt stehen die sechziger Jahre. »Das Wunderbare verlagert sich aus der Welt der Märchen langsam in die Welt der Dinge: In der Fernsehwerbung ziehen Kinder eine Knete zu einem meterlangen dünnen Faden auseinander«; vor allen Dingen das Fernsehprogramm und seine Protagonisten sind dem Erzähler im Gedächtnis geblieben, hatten sie doch, wenn auch bisweilen nur subtil, einen direkten Einfluss auf seine Wesensbildung. Man ahnt schon, in welchen Gefilden sich dieser Roman bewegt: Der Autor Witzel selbst wird zum Ich-Erzähler, schreibt eine inoffizielle Autobiographie – auch wenn dies nie offen ausgesprochen wird.

Doch wie sollte das hier Erzählte nicht autobiographisch sein? Wie sollen diese Berichte und diese Trauer nicht der Person Witzel entspringen? Schon nach dem ersten Satz (»Zwei Monate nach dem Tod meines Vaters hatte ich einen Traum … «) hat man als Leser den Eindruck, eingeweiht zu sein, womöglich durch ein Tagebuch. Autobiographische Bücher haben derzeit Hochkonjunktur. Da wäre etwa das soziologische Essay eines Didier Eribons, da wären die romanhaften Erzählungen von Annie Ernaux oder auch von Saša Stanišić, dann ist da noch das Projekt von Karl Ove Knausgård, der in seinem Romanzyklus »Mein Kampf« ein ­Archiv seines eigenen Lebens anlegt.

Sie alle eint, dass sie Profiteure, aber auch Opfer einer Entwicklung sind, die in den vergangenen zehn bis 20 Jahren erheblichen Einfluss auf die Literaturwelt hatte: Die Wiederkehr des Zwangs zur Authentizität in Form der Autofiktion. Dieser unscharf definierte Begriff wird neuerdings auf alles angewandt, was sich nicht ausdrücklich gegen autobiographische Lesarten sperrt. Der Buchmarkt dankt: Die Möglichkeit, literarisch das Bedürfnis nach verbürgten – meint: echten! – Geschichten zu befriedigen, kommt an. Neben dem sogenannten nature writing(das im Übrigen von einem ähnlichen ­Mythos der Echtheit getragen wird) ist das fraglos der Trend der vergangenen Jahre. Dass die Erfüllung der Wünsche des Publikums auch ihre Schattenseiten hat, zeigt sich leider ebenfalls: So entstanden massig Bücher voller tagebuchhaftem Palaver, Bekenntnisliteratur und Seelenstriptease.

Glücklicherweise gehört »Inniger Schiffbruch« nicht zu dieser Sorte Buch. Denn Witzel ist ein begabter Autor. Das hat er spätestens 2015 einem größerem Publikum bewiesen, als er mit dem 800seitigen Roman »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« den Deutschen Buchpreis gewann. Gut unterrichteten Kreisen war Frank Witzel schon zuvor ein Begriff. Die Romane »Bluemoon Baby« von 2001 und »Revolution und Heimarbeit« von 2003 waren Underground-Tipps der slipstream-Literatur.

Voriges Jahr erschien dann »Uneigentliche Verzweiflung«, ein Werk, das sich im Untertitel ein »metaphysisches Tagebuch« nennt und das man durchaus als Skizze für »Inniger Schiffbruch« bezeichnen könnte. Hier testet Witzel nämlich schon einmal, wie man die eigene Wahrnehmung in Frage stellen kann, was es bedeutet, sich ein Ich auszudenken, das vermutlich weitestgehend deckungsgleich mit dem des Autors sein soll und im Moment der Verdichtung eben doch neue und andere Züge annehmen muss.

»Es war ein Gefühl des leichten Schwindels, das mich beim Durchblättern dieser Seiten überkam, wobei allein der Besitz dieses Werkes natürlich noch nichts darüber aussagte, wie meine Mutter ihren Säugling tatsächlich behandelt hatte«, sagt der Erzähler, nachdem er im Nachlass seiner Mutter eine Ausgabe von Johanna Haarers »Die Mutter und ihr erstes Kind« entdeckt hat. Das Buch gab es wirklich, es erschien zuerst 1934 unter dem Titel »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind«. Seine Autorin war Mitglied der NSDAP, ihre Bücher erfreuten sich auch nach 1945 einiger Beliebtheit.

Neben allem Abwägen und Erinnern zeigt sich »Inniger Schiffbruch« von seiner stärksten Seite, wenn Witzel den Ich-Erzähler die ­Verbindungen zwischen seiner Jugend und Überbleibseln aus Nazi­zeiten auffinden, beschreiben und erläutern lässt. Diese Spuren des Vergangenen schaut sich Witzel immer auf zwei Ebenen an: Was bedeuteten sie damals? Und was weiß man heute darüber? Besonders gut gelingt dies etwa in der Passage zur Serie »Das Kriminalmuseum«, die von 1963 bis 1970 im ZDF ausgestrahlt wurde. In der ersten Folge dieser Serie verkörperte der Schauspieler Hubertus von Meyerinck ­einen Rittmeister a. D., der über den Untergang des Adels klagt. Meyerinck war ein erfolgreicher Schauspieler in der Zeit des Nationalso­zialismus. Er war allerdings auch homosexuell und soll in der Reichs­pogromnacht Juden auf dem Berliner Kurfürstendamm seine Hilfe angeboten haben.

Es ist dieses verloren geglaubte und nachträglich hinzugewonnene Wissen, es sind diese Artefakte, die der Ich-Erzähler in großer Zahl birgt und präsentiert. Die Fundstücke sind vielfältig: Bücher, Fotos, Briefe, Aufzeichnungen. Es dürfen aber auch mal Marotten der eigenen Eltern sein, über die berichtet wird. Allmählich erkennt man in diesem Dickicht, wie Diktatur und Krieg Versehrte produzierten, die sich ihrer Traumata kaum bewusst waren. Für diese Generation legt sich der Ich-Erzähler auf die imaginäre Couch.

»Inniger Schiffbruch« trägt möglicherweise Elemente der Autobiographie in sich, ist aber am Ende vielleicht eher eine therapeutische Maßnahme. Frei schwebend und ohne Unterbrechung wird man Zeuge eines »Wachrufens von Erinnerungen mit Katharsis«, wie Freud es einmal nannte. Das manchmal beschwingte, dann hadernde Erzählen kennt letztlich nur ein Ziel: ein letztes Mal dies alles aufrufen, um es anschließend verarbeiten zu können; nicht die geschichtliche Realität, sondern bloß das persönliche Verhaftetsein in ihr. Trauerarbeit soll ein Denken im Futur I ermöglichen; dafür muss das Präteritum auch lernen zu schweigen.

Frank Witzel: Inniger Schiffbruch. Matthes und Seitz, Berlin 2020, 360 Seiten, 25 Euro