Im Prozess gegen einen ehemaligen Wachmann des KZ Stutthof ist das Urteil gefallen

Jugendstrafe für einen Greis

Das Landgericht Hamburg hat den früheren KZ-Wachmann Bruno D. wegen Beihilfe zum Mord in mehreren Tausend Fällen und Beihilfe zum versuchten Mord in einem Fall zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.

Am Donnerstag vergangener Woche endete in Hamburg einer der vermutlich letzten NS-Prozesse mit einer Verurteilung. Es ging um Verbrechen, die vor 75 Jahren verübt wurden. Straftaten, die schon längst hätten aufgeklärt werden müssen.

Beinahe hätte auch das späte Verfahren gegen Bruno D., einem früheren Wachmann im KZ Stutthof, die letzte Hürde nicht genommen: Dieses Mal hing es weniger an unwilligen Staatsanwälten und Gerichten, sondern an dem Gutachter und Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE), Klaus Püschel, der dem Angeklagten im Mai vergangenen Jahres Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt hatte, wie die Nebenklagevertreterin Christine Siegrot in ihrem Schlussvortrag berichtete. Doch die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring hatte erhebliche Zweifel am dünnen Gutachten und beauftragte einen weiteren Sachverständigen, der dem Rentner sehr wohl Verhandlungsfähigkeit attestierte.

So begann im Oktober dann doch der Prozess – längstens zwei Stunden pro Termin. Ärzte begleiteten den Angeklagten, der stets mit dem Rollstuhl in den Saal gefahren und von seiner Tochter, seiner Ehefrau und weiteren Familienmitgliedern begleitet wurde. Jedes Mal trug er dabei Sonnenbrille und Hut ­sowie eine Mappe, die er sich vor das Gesicht hielt, bis die Fotografen den Saal verlassen hatten. Der Prozess fand nach Jugendstrafrecht statt, weil der Angeklagte zu Beginn der Tatzeit im Jahr 1944 erst 17 Jahre alt war.

Das KZ Stutthof bei Danzig gilt als das erste Konzentrationslager außerhalb der deutschen Grenzen und es war das letzte, das von den Alliierten befreit wurde. Die ersten Gefangenen kamen direkt nach Kriegsbeginn Anfang September 1939. Bis die Rote Armee das Lager am 9. Mai 1945 befreite, waren über 100 000 Menschen dorthin verschleppt worden: Juden aus Auschwitz und den geräumten Ghettos in Riga und Kaunas, gefangene Widerstandskämpfer aus Dänemark, Norwegen und Polen sowie sowjetische Kriegsgefangene. Historiker schätzen, dass etwa 65 000 Menschen dort umgebracht wurden – in geheimen Genickschussanlagen im Krematorium des Lagers, am Galgen, mit Zyklon B in einer Gaskammer und in einem verschlossenen Eisenbahnwaggon sowie durch die lebensfeindlichen Haftbedingungen.

Nach 44 Gerichtsterminen verurteilte das Gericht den 93jährigen D. vergangene Woche zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung. Darüber hinaus muss er die Kosten für seinen Anwalt und seine eigenen Auslagen übernehmen. ­Efraim Zuroff, der Direktor des Jerusalemer Simon-Wiesenthal-Centers, begrüßte die Verurteilung grundsätzlich. Das Strafmaß beurteilte er in der is­raelischen Tageszeitung Haaretz jedoch als »sehr, sehr enttäuschend«. Zuroff bezeichnete es als »ein Syndrom deplatzierter Sympathie«. In einem Tweet schrieb er, dass D. nun die Freiheit habe, ungestraft nach Hause zu gehen, während die Überlebenden mit ihren Alpträumen und Traumata zurückblieben.
Der Staatsanwalt Lars Mahnke hatte eine dreijährige Freiheitsstrafe gefordert. Zudem sollte der Angeklagte die Kosten des gesamten Verfahrens tragen. Der Verteidiger Stefan Waterkamp plädierte für einen Freispruch.

Für die Haupttat, die Beihilfe zum Mord an 5 232 Menschen zwischen August 1944 und April 1945, sei es egal gewesen, ob der Angeklagte auf dem Wachturm ­gestanden habe oder nicht. Den Terror gegen die Gefangenen hätten die SS-Mannschaften im Lager und deren Helfer, die sogenannten Kapos, ausgeübt. Sein Mandant sei zur Wehrmacht einberufen und zum Wachdienst in dem KZ gezwungen worden, nachdem seine Wehrmachtseinheit in die SS übernommen worden war. Die Maxime des ­Angeklagten sei es gewesen, keinen Schuss abzugeben und niemanden zu misshandeln. Den Wachdienst als solchen habe D. nicht als verbrecherisch erkennen können. Es habe keine Vorbilder gegeben, ebenso wenig die Möglichkeit der Befehlsverweigerung. »Wieso sollte ausgerechnet ein 18jähriger aus der Reihe tanzen?« so Waterkamp. Der Angeklagte behauptete in seinem Schlusswort, er habe erst durch die Berichte der Nebenkläger und der Sachverständigen von dem »Ausmaß der Grausamkeiten« erfahren. Er wolle sich bei den Überlebenden und Angehörigen entschuldigen.

»Ich möchte seine Entschuldigung nicht, ich brauche sie nicht«, sagte der 93jährige frühere polnische Gefangene Marek Dunin-Wasowicz der Nachrichtenagentur AFP in Warschau. Er ist einer der 40 Nebenkläger aus Polen, Israel, Australien, den USA, Frankreich und Norwegen. Wenn D. sage, dass er vom Geschehen im Lager nichts bemerkt habe, dann lüge er, so Dunin-Wasowicz. Vielen der Überlebenden war der Prozess wichtig, auch wenn die Aussage vor Gericht für einige enorm belastend war. Manche verlangten eine Verurteilung, aber keine Haft. Michael Kor, ein Stutthof-Überlebender, ließ über seinen Anwalt mitteilen: »Der Krieg ist vorbei. Ihm sollte vergeben werden. Ich möchte keine weiteren Bestra­fungen.«

Die Vorsitzende Richterin Meier-Göring sagte zum Angeklagten: »Sie hätten in Stutthof nicht mitmachen dürfen.« Sie kritisierte, dass D. seine Schuld bis zuletzt nicht wahrhaben wollte und dass er damals keinen Versuch unternommen hatte, sich versetzen zu lassen. »Sie sehen sich weiter nur als Beobachter dieser Hölle«, sagte sie. »Doch Sie waren einer der Gehilfen dieser menschengemachten Hölle.« Die Entschuldigung des Angeklagten habe sie zur Kenntnis genommen, aber »die Frage bleibt, wofür Sie sich entschuldigen«, so die Richterin bei der Urteilsverkündung.

Der Prozess gegen D., dessen Dienst als Wachmann den Ermittlungsbehörden seit 1982 bekannt gewesen war, hat eine wichtige symbolische Bedeutung, kam aber viel zu spät. Vieles lässt sich nach so vielen Jahrzehnten nicht mehr aufklären. Ob der Verurteilte im Prozess gelogen, ob er nur verdrängt und ver­gessen hat – auch das lässt sich nach 75 Jahren kaum noch feststellen. Und der Erziehungsgedanke einer ­Jugendstrafe ergibt bei einem Greis wenig Sinn. Der Prozess kam auch für vier der Nebenkläger zu spät: Sie verstarben noch vor dem Urteil.