Die ungarische Regierung nutzt die Coronakrise für den Ausbau ihrer Macht

Tristesse und Wahn

Die ungarische Regierung bietet denjenigen, die unter den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie leiden, wenig Hilfe. Ministerpräsident Viktor Orbán versucht, seine Wähler mit revisionistischer Geschichtspolitik und antisemitischen Verschwörungsgeschichten bei der Stange zu halten.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán von der Partei Fidesz beendete Mitte Juni den Status des Notstands, den er Mitte März erklärt hatte, doch einige Einschränkungen bleiben in Kraft. Zuvor hatte das ungarische Parlament das Ende März verabschiedete Notstandsgesetz aufgehoben, das es der Regierung erlaubte, unbefristet per Dekret zu regieren (Jungle World 15/2020). Diese ließ Mitte Juni jedoch ein Gesetz beschließen, das es ihr ermöglicht, ohne Parlamentszustimmung einen Gesundheitsnotstand auszurufen. Damit signalisierte sie die Absicht, so weiterzumachen wie bislang.

Ungarns Gesundheitswesen wurde zwischen 2006 und 2018 sträflich vernachlässigt. In diesem Zeitraum wurden die Gesundheitsausgaben pro Kopf in Tschechien um 36, in der Slowakei um 44 und in Polen um 77 Prozent erhöht, dagegen waren es in Ungarn lediglich drei Prozent. Die Ausgaben für Sport hingegen sind 2017 auf 7,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen. Der EU-Durchschnitt beträgt 1,3 Prozent.

Am 19. Juli veröffentlichte Index, das meistbesuchte ungarische Nachrichtenportal, ein Video, das ungarische Krankenhäuser in miserabler baulicher Verfassung zeigt. Dass das Gesundheitswesen von der Coronakrise völlig überfordert ist, wird deutlich, wenn man die Wartezeiten für bestimmte Operationen im Juni mit denen im Februar vergleicht. So betrug die Wartezeit für größere Operationen der Bauchhöhle mit Laparoskopie 355 Tage (Februar: 99 Tage), für Krampfaderoperation 284 Tage (31), für das Einsetzen einer Knieprothese 280 Tage (25), für die Operation am offenen Herzen 266 Tage (50) und für eine größere Rückgratoperation 261 Tage (63). Was die Covid-19-Pandemie jedoch nicht verursacht, sondern nur offensichtlich macht, ist der wachsende Ärztemangel.

Seit 2010 hat die Regierung sukzessive den Sozialstaat liquidiert. Einem 2012 beschlossenen Gesetz zufolge kann ein Unternehmer einem gekündigten oder entlassenen Arbeitnehmer wegen »schlechter Arbeitsleistung oder Benehmen« die Abfindung verweigern, die in Ungarn gewöhnlich bei Beendigung eines Arbeitsverhältnisses zu zahlen ist. In der Coronakrise wird dieses Gesetz unrechtmäßig angewendet. Betriebe entlassen Arbeiter ohne Abfindung, nachdem diese zuvor ohne jegliche Verfehlung zehn oder 20 Jahre gearbeitet haben.

Die Regierung zeigt sich den Opfern der Krise von ihrer knauserigen Seite. Sie hält fest an ihren Anschauungen über eine, in der nur Arbeit zählt, und gewährt Familien, die ihre Existenzgrundlage verloren haben, keine Unterstützung. Das gilt auch für Kinder, die wegen den Schulschließungen ihre regelmäßigen Mahlzeiten verloren haben, und diejenigen, die schon früher keine Arbeit hatten. Die Arbeitslosen werden nach wie vor lediglich drei Monate unterstützt.

Im Vergleich zu Westeuropa sind die Löhne in Ungarn niedrig und die Beschäftigungssicherheit ist gering. Fachkräfte suchen deshalb oft eine Beschäftigung im Ausland, wo schätzungsweise mehr als eine halbe Million Ungarn arbeiten. Die Regierung hat nichts übrig für den Markt, wenn etwa bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Klienten begünstigt werden sollen. Wenn es aber darum geht, die Arbeitskraft als Ware zu behandeln, gibt sie sich marktradikal.

Revisionismus und Geschichtsklitterung dienen dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán dazu, von der tristen Lage der ungarischen Gesellschaft abzulenken.

Notstandsgesetze wurden auch in anderen Ländern beschlossen, doch nirgendwo sonst in der EU wurden diese Werkzeuge eines autoritären Systems. Die Krise ermöglichte es der Regierung, noch härter als sonst gegen die Opposition sowie Städte und Kommunen vorzugehen, die, wie die Hauptstadt Budapest, nicht von der Fidesz regiert werden. In den anderen EU-Staaten sollten die Notstandsgesetze die Menschen schützen, doch die ungarische Regierung will lediglich ihre eigene oligarchische Herrschaft retten.

Revisionismus und Geschichtsklitterung dienen Orbán dazu, von der tristen Lage der ungarischen Gesellschaft abzulenken. So ließ er kürzlich gegenüber dem Parlamentsgebäude in Budapest für umgerechnet rund 15 Millionen Euro ein Denkmal errichten, das an den Friedensvertrag von Trianon (1920) erinnert. Mit dessen Unterzeichnung verlor Ungarn zwei Drittel seines vormaligen Staatsgebiets. Am 6. Juni hielt Orbán in Sátoraljaújhely an der slowakischen Grenze eine Rede, in der er Ungarn wieder einmal als Opfer fremder Mächte darstellte. »Der Westen hat die tausendjährigen Grenzen und die Geschichte Mitteleuropas vergewaltigt«, sagte er. »Sie zwangen uns, zwischen ungeschützten Grenzen zu leben, beraubten uns unserer natürlichen Ressourcen und machten unser Land zu einem Trauerhaus.« Das werde man dem Westen »nie vergessen«.

Orbán verbreitet weiterhin antisemitische Verschwörungsgeschichten. Am 19. Juni sagte er dem staatlichen Sender Kossuth Rádió: »Es gibt eine internati­onale Politik, die nationale Regierungen und Nationen schwächen, liquidieren und in ein Reich einordnen möchte. Diese wird von über den Staaten stehenden globalen, internationalen Organisationen und den diese finanzierenden – sich über den Nationen fühlenden – Geschäftsleuten, Geldmenschen betrieben.« Zudem sagte er: »Die Brunnen werden schon seit langem vergiftet, wenigstens ist das eine 150 Jahre alte Geschichte, dass gewisse ungarische Politiker auf der internationalen Bühne systematisch gegen ihre Heimat arbeiten.«

Immer auf Konflikt aus, äußert Orbán Verständnis für die Diskriminierung von Roma. Im kleinen Ort Gyöngyöspata, in dem 20 Prozent der Bevölkerung Roma sind, wurden Roma-Kinder 2002 bis 2017 in der Schule segregiert. Die Zwei- bis Viertklässler und die Fünft- bis Siebtklässler wurden jeweils in einem eigenen Klassenzimmer unterrichtet. Sie durften weder mit den anderen Kindern ins Schwimmbad gehen noch an Schulausflügen teilnehmen. Ein Gericht sprach den Schülern 2012 Entschädigungszahlungen zu. Gyöngyöspata legte Berufung ein. Das Berufungsgericht bestätigte 2019 das Urteil und erhöhte die Entschädigungssumme. Doch die Stadt hat erneut Berufung eingelegt.

Anfang dieses Jahres sagte Orbán in einer Pressekonferenz für Auslandsjournalisten: »Ich bin kein Einwohner von Gyöngyöspata. Aber wenn ich dort lebte, dann würde ich fragen: Wie kann das eigentlich sein, dass eine Gemeinde, die mit mir im selben Dorf lebt, die zu einer bestimmten ethnischen Volksgruppe gehört, eine erhebliche Summe bekommt, ohne jegliche Arbeit?« Noch bis Mitte August läuft eine Volksbefragung über dieses und zwei weitere Gerichtsurteile, die der Regierung missfallen. Orbán will sich damit eine Legitimation für weitere Einschränkungen der Unabhängigkeit der Justiz verschaffen. Ungarische Intellektuelle hingegen warnten, wenn dieses Aufschaukeln der Emotionen gegen Roma zu Gewalt führe, trage er persönlich dafür Verantwortung.

Die ungarische Regierung schränkt nicht nur demokratische und soziale Rechte ein. Sie legitimiert auch rassistische sowie antisemitische Gesinnungen und reproduziert diese, um rechtsextreme Wähler für sich zu gewinnen.