Die zweite Welle der Pandemie im Iran

Die zweite Welle rollt an

Im Iran steigt die Zahl der Covid-19-Infektionen stark an. Selbst aus der Nomenklatur des Regimes wird Kritik an geschönten Opferzahlen und dem fahrlässigen Umgang mit der Pandemie laut.

Auch der Iran hat seine Kreuz- und Querdenker. Am 17. Juni veröffentlichte die Website von Ayatollah Abbas ­Tabrizian einen Leitfaden zum Tragen von Masken. Eine Luftübertragung von Sars-CoV-2 finde durch Frauen statt, Männer würden nur durch physischen Kontakt mit Frauen infiziert. Daher müssten nur Frauen eine Maske tragen. Tabrizian propagiert eine sogenannte islamische Medizin. Die Schulmedizin verdammt er als Instrument des Kolonialismus, sehr zum Ärger des Teheraner Gesundheitsministeriums.

Als die Reaktionen auf den Leitfaden etwas stürmisch ausfielen, verschwand er wieder von der Website zugunsten heilkundlicher Empfehlungen, wie das Immunsystem zu stärken sei. Trotzdem ist Tabrizian nun berühmt und kann darauf hoffen, von Attila Hildmann eingeladen zu werden.

Seit Anfang Juni meldet der Iran der WHO durchschnittlich 2 500 neue Fälle pro Tag. Mitte August hat das Land nach Angaben seiner Regierung knapp 20 000 Tote zu beklagen.

Keine Furcht vor einer Blamage zeigten auch die Revolutionsgarden, deren Kommandant Hussein Salami bereits im März eine Wunderwaffe gegen die Pandemie vorstellte. Ein selbstgebauter Detektor könne innerhalb von fünf Sekunden jede Coronainfektion im Umkreis von 100 Metern erkennen. Die Revolutionsgarden wollten damit ihren Beitrag zum Jihad gegen das Virus liefern, mit dem der Oberste Führer Ali Khamenei kurz zuvor die Streitkräfte beauftragt hatte. Sie demonstrierten nur ihre Hilflosigkeit, der Wunderstab verschwand schnell in der Versenkung.

Zum iranischen Neujahrstag im März meldete sich der Oberste Führer mit einer Kampfansage gegen böse Geister. Von den Jinns hätten es einige Teufel auf die Islamische Republik ­abgesehen. Seitdem beschäftigen sich schiitische Exegeten mit der Frage, wie sich diese theologische Erkenntnis mit der weltlichen Behauptung verträgt, dass Sars-CoV-2 in US-amerikanischen Labors erfunden worden sei, um die chinesische und dann die iranische Wirtschaft zu schädigen. Es gebe viele Beweise, dass auch der israelische Geheimdienst sich der Jinns bediene, sekundierte Ayatollah Ahmad Abedi.

Die Fahrlässigkeit, Ignoranz und Ob­struktionsneigung der klerikalen, militärischen und politischen Führung offenbaren das Versagen des Regimes bei der Bewältigung der Pandemie. Die Folgen sind unausweichlich. Iran wurde sehr bald nach China von Covid-19 heimgesucht und musste als erstes Land das erneute rasante Ansteigen der Infektionszahlen registrieren, nachdem ein zeitweise effektiver lockdown wieder gelockert worden war. So deutlich wie in keinem anderen Land zeigen die offiziellen Statistiken eine zweite Welle: Anfang Mai erreichten die täglichen Neuinfektionen einen Tiefststand von 1 000 Fällen, in den vier Wochen darauf verdreifachten sie sich, Anfang Juni wurde der Höchststand von Ende März übertroffen. Seitdem meldet der Iran der Weltgesundheitsorganisation durchschnittlich 2 500 neue Fälle pro Tag. Ein ähnlicher Verlauf zeigt sich mit zeitlicher Verzögerung bei den coronabedingten Todesfällen. Mitte August hatte das Land nach Angaben seiner Regierung knapp 20 000 Tote zu beklagen.

Die offiziellen Zahlen fallen im internationalen Vergleich gar nicht mal sonderlich auf. Die Johns Hopkins University, deren Pandemiedaten weltweit Beachtung finden, setzt den Iran auf Platz zehn ihrer Liste von Ländern, die derzeit am stärksten betroffen sind. Doch die amtlichen Angaben über den Verlauf der Covid-19-Pandemie sind im Iran heftig umstritten. Sie werden inzwischen selbst von denen angezweifelt, die die Zahlen erheben. Seit Monaten gibt es eine Vielzahl von Eingaben und offenen Briefen, welche die Opferzahlen dreimal, fünfmal oder sogar zehnmal so hoch schätzen wie von der Regierung angegeben. Regelmäßig wird solche Kritik als Desinformation und Feindpropaganda zurückgewiesen, ganz gleich, ob es sich bei den Autoren um Ärzte, Wissenschaftler, Abgeordnete oder Kommunalpolitiker handelt.

Zuletzt kritisierte der Epidemiologe Mohammadreza Mahboubfar, der zum Beraterstab der Regierung gehört, die offiziellen Verlautbarungen. Sie seien unglaubwürdig und ihre Angaben lägen nur bei einem Zwanzigstel der wahren Zahlen. Die Daten würden aus politischen und sicherheitstechnischen Gründen frisiert, sagte Mahboubfar in einem Interview mit der Teheraner Tageszeitung Jahane Sanat. Am 10. August wurde die Zeitung mit einem Publikationsverbot bestraft.

Dabei hatte Mahboubfar nur an das angeschlossen, was Gesundheitsminister Saeed Namaki vier Wochen zuvor in ungewöhnlicher Offenheit enthüllt hatte. Der monatliche Iran-Report der Heinrich-Böll-Stiftung (8/2020) gibt ihn mit der Drohung wieder, er werde »auspacken und dem Volk Dinge ­mitteilen, die für manche Leute unangenehm werden könnten«. Er stehe unter enormem Druck. »Ich bin darüber verärgert, dass wir den höchsten Verantwortlichen des Staates falsche Informationen geben, mit der Folge, dass dann falsche Entscheidungen getroffen werden.«

Namaki spricht unverblümt davon, wie gefährlich der leichtfertige Umgang der Verantwortlichen mit der Pandemie sei. Zwar verteidigt er die Entscheidung der Regierung, den lockdown aus wirtschaftlichen Gründen aufzuheben; andernfalls würden Hunger und Armut Rebellionen wie im November vergangenen Jahres hervorrufen. Dieses Vorgehen sei jedoch nur zu verantworten, wenn man erheblich mehr Mittel zur Bekämpfung der Krankheit bereitstelle. Namaki verweist auf die USA und Großbritannien, um für den Iran festzustellen: »Ich habe von einer Milliarde US-Dollar, die der Revolutionsführer mir zugesagt hat, bis heute nur von 20 Prozent erhalten.« Bei dieser Darstellung blieb das Gesundheitsministerium auch Anfang August. Dessen Sprecherin Sima Sadat Lari sagte, von der zugesagten Summe aus dem Nationalen Entwicklungsfonds seien bisher nur 30 Prozent eingegangen. Eine Eskalation der Lage könne nur durch das allgemeine und konsequente Tragen von Masken vermieden werden. Das können sich viele Iraner schlicht nicht leisten.

An anderer Stelle fehlt es freilich nicht an Geld. Kurz vor der Beendigung des UN-Waffenembargos gegen den Iran, das gemäß dem Wiener Atomabkommen JCPOA im Oktober ausläuft, hat der iranische Außenminister Mohammed Javad Zarif in Moskau eine Vertiefung der Beziehungen zu Russland angekündigt. Allgemein wird ­erwartet, dass der Iran einen umfangreichen Einkauf von russischen Waffensystemen tätigt. Auch das Atomprogramm läuft in unvermindertem Tempo. »This is Iran«, wie der Revolutionsführer Ali Khamenei einmal an die Adresse des Westens gerichtet gesagt hatte.