Ein Gespräch mit dem britischen Historiker Daniel Sonabend

»Die 43 Group wurde ein Opfer ihres eigenen Erfolgs«

Hitler war besiegt, aber die Faschisten gaben keine Ruhe. Die von jüdischen ehemaligen Soldaten gegründete 43 Group ging nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in London gegen faschistische Aktivitäten vor.
Interview Von

Daniel Sonabend ist Autor und Historiker, er lebt in London. Im vorigen Herbst publizierte Verso Books sein Buch »We Fight Fascists: The 43 Group and the Forgotten Battle for Post-war Britain«, für das er sechs Jahre lang recherchiert hatte.

 

Wie haben Sie zum ersten Mal von der 43 Group gehört?

Vor einigen Jahren rief mich ein Freund aufgeregt an, während er eine Fernsehdoku über den berühmten Friseur und Unternehmer Vidal Sassoon sah, der in seiner Jugend Mitglied der Gruppe gewesen war. Wir waren beide verwirrt, weil wir von der 43 Group noch nie gehört hatten, obwohl wir beide der jüdischen community angehören. Später erfuhr ich dann, dass mein ­eigener Großvater ein, wenn auch unbedeutendes, Mitglied der Gruppe ­gewesen war. Gesprochen hat er darüber aber nie.

Warum ist die Geschichte der 43 Group so sehr in Vergessenheit geraten?

Das ist eigenartig. Denn die Aktivität der Gruppe sollte eigentlich genauso bekannt sein wie die berühmte Battle of Cable Street – jene gewalttätige Auseinandersetzung 1936, in der Juden und ihre antifaschistischen Verbündeten eine faschistische Demonstration durch das Londoner East End aufhielten. Für mein Buch habe ich Interviews mit ehemaligen Mitgliedern und ihren Familien geführt. Hinzu kamen Gespräche mit anderen Forschern, Quellen aus den Sicherheitsbehörden und aus jüdischen Organisationen sowie einige verstreute persönliche Dokumente wie Tagebücher und Briefe von Mitgliedern der Gruppe, an die ich über Umwege kommen konnte.

Wie sah die faschistische Bedrohung im Großbritannien der Nachkriegszeit aus?

Damals gab es Siegesgefühle und viel Hoffnung, gleichzeitig aber auch Aus­terität, Rationierungen und die Angst vor ökonomischen Krisen. Diese Situa­tion versuchten die britischen Faschisten auszunutzen. Während des Kriegs hatte die Regierung über 1 000 britische Faschisten interniert, die sie jedoch wieder freiließ, nachdem die Gefahr einer Invasion der Nazis abgewendet war. Die gemeinsame Inhaftierung hatte die Faschisten ideologisch so sehr ­zusammengeschweißt und radikalisiert, dass sie nach dem Krieg weitermachen wollten.

Wie gingen die Faschisten vor?

1946 begann Jeffrey Hamm, der Leiter der »British League of Ex-Servicemen and Women«, Straßentreffen in Ost-London abzuhalten – dort also, wo die Faschisten schon vor dem Krieg gewütet hatten. Hamm gelang es, ein beachtliches Publikum anzusprechen, das ihm seine Schuldzuweisungen an »Kommunisten« und »internationale Finanziers« – vulgo: Juden – für die ökonomischen Strapazen glaubte. Dazu kam der wachsende Antisemitismus in Großbritannien angesichts der Auseinandersetzungen zwischen jüdischen paramilitärischen Einheiten und britischen Truppen im Mandatsgebiet ­Palästina, den die Faschisten ebenfalls nutzten.

 »Die 43 Group wurde von jüdischen ehemaligen Soldaten gegründet, die wütend darüber waren, dass die Polizei und die Regierung faschistische Aktivitäten duldeten.«

Hamm begann, seine Straßenauftritte in Gegenden mit einem großen jüdischen Bevölkerungsanteil zu veranstalten, und seine Anhänger fingen damit an, dort lebende Juden zu belästigen oder gar anzugreifen und ihre Geschäfte zu beschädigen. Andere ­faschistische Gruppen versuchten das ebenfalls und verbreiteten antisemitische Schriften. Im Hintergrund unterstützte und ermutigte der angeblich politisch nicht mehr aktive Oswald Mosley (der Gründer der British Union of Fascists, Anm. d. Red.) Hamm und andere faschistische Straßenführer. Die 43 Group wurde von jüdischen ehemaligen Soldaten gegründet, die wütend darüber waren, dass die Polizei und die Regierung faschistische Aktivitäten duldeten.

Was waren die Ziele und Methoden der 43 Group und wie erreichte sie die Öffentlichkeit?

Die 43 Group war vor allem in London tätig und teilte sich in einzelne Untergruppen für bestimmte Gegenden auf, deren Aktivitäten vom im Stadtzentrum gelegenen Hauptquartier aus koordiniert wurden. Die Gruppe hatte im Wesentlichen zwei Ziele: sich den ­Faschisten aktiv entgegenzustellen, indem ihre Mitglieder bei den faschistischen Straßentreffen auftauchten und sicherstellten, dass die Agitatoren ihre Botschaft nicht verbreiten konnten. Das gelang zum Beispiel durch Störaktionen, das Provozieren von Chaos oder manchmal auch, indem sie den Redner von der Bühne vertrieben.

Presseberichte und die durch die Aktionen erregte Aufmerksamkeit trugen dazu bei, das zweite Ziel zu erreichen: offenzulegen und in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, dass die Faschisten wieder rege wurden. Mit On Guard veröffentlichte die Gruppe auch eine eigene Zeitung. Außerdem gelang es der 43 Group, Spione bei den Faschisten einzuschleusen. Später organisierte sie auch öffentliche Veranstaltungen.

Wer war aktiv in der 43 Group?

Die Gruppe stand allen Antifaschisten offen. Obwohl sie sich selbst als jüdische Veteranenorganisation bezeichnete, konnten sich auch Nichtjuden und Menschen ohne Erfahrungen in der Armee beteiligen. Die meisten Mitglieder kamen aus der jüdischen Arbeiterklasse des Londoner East End, wenngleich sich auch ökonomisch Bessergestellte engagierten. Die Mehrheit war links, es gab aber auch viele zentristisch oder gar zentristisch-rechts eingestellte Gruppenmitglieder. Zudem spielte es keine Rolle, ob jemand Zionist oder Antizionist war. Debatten über politische Themen, die nichts mit ­Antifaschismus zu tun hatten, waren nicht erlaubt.

In welchem Verhältnis stand die 43 Group zu anderen jüdischen ­Organisationen?

Es gab damals zwei große jüdischeVerteidigungsorganisationen. Der Jewish Defence Counsel (JDC) des Board of Deputies of British Jews (die älteste und größte jüdische Organisation Großbritanniens, Anm. d. Red.) war die Organisation des jüdischen Establishments. Sie versuchte, sich mit Lobbyarbeit, Briefen, Anwälten und Vortragsveranstaltungen gegen die Faschisten zu wehren – stets im Rahmen der Legalität und darauf bedacht, den eigenen Ruf nicht zu schädigen. Dazu kam die Association of Jewish Ex-Servicemen (AJEX), die Straßenveranstaltungen organisierte, um öffentlich die Propaganda der Faschisten zu widerlegen, die Juden hätten im Krieg nicht selbst gekämpft, sondern daraus Profit geschlagen. Da AJEX mit dem Board of Deputies verbunden war, blieben deren Aktivitäten ebenfalls strikt im Rahmen des Gesetzes.

Eine Beschränkung, die die 43 Group abgelehnt hat …

In der Tat, und genau deshalb hat sich die 43 Group von AJEX abgespalten. Sie war willens, das Gesetz zu brechen, wenn das ihrer Einschätzung nach der Sicherheit der jüdischen community diente. Für eine Zusammenarbeit mit anderen antifaschistischen und antirassistischen Organisationen war die 43 Group offen. Mit der Kommunistischen Partei hat sie, wenn auch nur ­informell, etwa zur Verteidigung ihrer Straßenbühnen und auch größerer Treffen gegen faschistische Angriffe zusammengearbeitet.

Wie reagierte die jüdische community auf die Gründung und die Aktivitäten der 43 Group?

Die offizielle Reaktion wurde vorgetragen vom JDC und ihrem Vorsitzenden Louis Hydleman, der die Gruppe absolut hasste und immerzu versuchte, ihre Tätigkeit zu beenden. Er und einer der Vorsitzenden der 43 Group, Geoffrey Bernerd, hatten eine Reihe von hitzigen Debatten in der Leserbriefrubrik des Jewish Chronicle, einer Zeitung, die mit den Zielen der 43 Group sympathisierte, ihre Methoden aber sehr kritisch sah. Mit der Zeit wurde das jüdische Establishment etwas offener für die 43 Group, so dass sie etwa auch eingeladen wurde, ihre Arbeit in Synagogen vorzustellen. Dass die 43 Group so lange aktiv sein konnte, lag auch an der starken Unterstützung aus der jüdischen community.

Welche Resonanz hatte die Gruppe in britischen Medien?

Dort wurde die Gruppe zunächst meist in einen Topf mit den linksradikalen Organisationen geworfen und oftmals für einen Haufen kommunistischer ­Radikaler gehalten. In den letzten Jahren ihres Bestehens konnte die Gruppe aber ein eigenes Profil aufbauen. So gab es sogar einige längere Artikel in landesweiten Zeitungen, die Bericht­erstattung war in der Regel ausgewogen und manchmal sogar positiv.

Warum löste sich die 43 Group 1950 auf?

Die Gruppe wurde Opfer ihres eigenen Erfolgs. Denn den Faschisten gelang es nicht, ihre Bewegung wiederherzustellen, so dass sie für die Juden, die bis 1948 ihre einzigen Angriffsziele waren, kaum noch eine Bedrohung darstellten. Später begannen die Faschisten dann, sich mit ihren Attacken auf die neuen Migranten aus der Karibik zu konzentrieren. So war Hamm einer der Initiatoren der berüchtigten rassistischen Notting Hill Riots von 1958. Um 1950 wurde die 43 Group zudem unter Druck gesetzt, sich aufzulösen, da sie zu diesem Zeitpunkt vorwiegend aus hitzköpfigen Jugendlichen bestand, die schlichtweg kämpfen wollten und nur schwer zu kontrollieren waren. 1950 entschied sich die Führung der 43 Group dazu, die Gruppe aufzulösen.

Wie blicken die ehemaligen Mit­glieder, die Sie für Ihr Buch interviewt haben, auf ihren Aktivismus zurück?

Sie waren sehr stolz – darauf, sich gegen die Faschisten zu wehren sowie für ihre eigene community aufzustehen und zu zeigen, dass Juden nicht einfach Opfer sind. Viele Aktivisten haben in den Sechzigern in der Nachfolge­organisation 62 Group weitergemacht. Jenseits ihres Engagements haben die Gruppenmitglieder ein normales Leben geführt, mit Beruf und Familie.