Nach der Vereidigung des Präsidenten Lukaschenko halten die Proteste in Belarus an

Die Proteste gehen weiter

Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko hat sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit als Präsident vereidigen lassen. Dagegen protestierten am Sonntag Zehntausende.

Nichts deutete am Mittwoch voriger Woche in Belarus auf ein außerordentliches Staatsereignis hin. Am Vorabend hatten ausgewählte Personen die Aufforderung erhalten, sich zu einem offiziellen Treffen einzufinden; Details wurden nicht genannt. Die Überraschung war perfekt, als sich herausstellte, dass Alexander Lukaschenko die Einführung in seine sechste Amtszeit als Präsident als geheime Sonderoperation vor 750 geladenen Gästen inszeniert hatte, während der Rest der Bevölkerung erst im Nachhinein davon Kenntnis erhielt. Nicht einmal eine Fernsehübertragung gab es. In Belarus bleiben einem gewählten Präsidenten zwei Monate Zeit, um den Amtseid zu leisten. Die Präsidentschaftswahl hatte am 9. August stattgefunden. Lukaschenko hätte also noch Zeit gehabt, eine öffentliche Veranstaltung vorzubereiten, aber er hatte es offenbar eilig.

Der Kontrast zum Vorgehen des Koordinierungsrats der Opposition könnte nicht größer ausfallen. Dieser kündigte die Amtseinführung der von ihm anerkannten Wahlsiegerin durch die Bevölkerung an. Swetlana Tichanowskaja unterlag Lukaschenko dem offiziellen Ergebnis zufolge zwar mit 10,1 zu 80,1 Prozent der Stimmen, aber es gibt berechtigte Zweifel an diesen Zahlen. Am Sonntag fanden sich Zehntausende in Feierstimmung auf den Straßen des Landes ein. Mindestens 340 Menschen wurden festgenommen, in Gomel wurden Tränengas und Blendgranaten gegen die Protestierenden eingesetzt.

Von Protestmüdigkeit ist nichts zu bemerken, auch wenn schnelle Erfolge unwahrscheinlich sind. »Das kann noch lange dauern«, sagt Lizaweta Merliak aus Grodno der Jungle World. Sie ist bei der Belarussischen Unabhängigen Gewerkschaft zuständig für internationale Angelegenheiten. Die Gewerkschaft vertritt Beschäftigte im Bergbau, der chemischen Industrie und weiteren Branchen. Mit Begeisterung und ein wenig Wehmut in der Stimme erinnert sich Merliak an die von vielen in Belarus als »Woche der Demokratie« bezeichneten Tage vom 13. bis 19. August, die sie in Grodno erlebte. Dort wurde damals ein sogenannter Alternativer Rat gegründet, der Absprachen mit den staatlichen Stellen traf. »Die Plätze waren unsere, wir gingen, wann immer wir wollten, auf die Straße, um friedlich zu protestieren.« Sogar die Generaldirektoren der Betriebe waren ­verunsichert und suchten das Gespräch. Fast alles schien möglich zu sein.

Vielerorts kam es zu Arbeitsniederlegungen, auch im riesigen Chemiekombinat AZOT in Grodno. Aber im Unterschied zu anderen Betrieben ließ sich die Produktion dort aus Sicherheitsgründen nicht einfach herunterfahren. Um ein geordnetes Verfahren zu ermöglichen, ließ sich die Belegschaft auf eine von der Firmenleitung vorgeschlagene Abstimmung ein. Am vorgesehenen Tag konnten nur die Arbeiterinnen und Arbeiter abstimmen, die Schicht hatten. Wer sich Hoffnungen auf einen organisierten generellen Streik bei AZOT gemacht hatte, wurde bitter enttäuscht. Dienst nach Vorschrift ist als Protestmethode umstritten, hat jedoch bereits jetzt zu einer sichtbaren Reduzierung der Arbeitsleistung und damit verbundenen finanziellen Einbußen geführt.

Das bekommen Beschäftigte inzwischen durch die langfristige Streichung von Prämien und Sonderzahlungen zu spüren, die bis zur Hälfte ihres Gehalts ausmachen. Gesondert abgestraft werden jene, die in der »Woche der Demokratie« einmalig ihrem Arbeitsplatz fernblieben, weil sie an Verhandlungen des Alternativen Rats teilnahmen. Als Anlass für Konsequenzen reicht aber meist schon Dienst nach Vorschrift. Da dafür eigentlich keine Disziplinarmaßnahmen vorgesehen sind, kann man gerichtlich dagegen vorgehen. Betriebsleitungen haben es statt mit ­wilden politischen Streiks plötzlich mit arbeitsrechtlichen Konflikten zu tun. Infolgedessen steigt der Organisationsgrad unter den Beschäftigten.

Selbst im liberalen Lager fand die Idee, einen Generalstreik auszurufen, großen Rückhalt. Merliak dagegen hält sich mit ihrer Kritik am Koordinierungsrat der Opposition nicht zurück: »Der Koordinierungsrat um Swetlana Tichanowskaja versuchte, die Initiative an sich zu reißen, allerdings ohne eine Vorstellung von Arbeitern zu haben. Ich denke, er trägt eine Mitschuld daran, dass es nicht so weit kam.« Sie will keine Prognosen abgeben, äußert sich aber vorsichtig optimistisch: »Wir können ohne sie leben, sie ohne uns nicht.«

Fest steht, dass sich die belarussische Gesellschaft in den vergangenen Wochen und Monaten so stark verändert hat, dass es für Lukaschenko keinen Weg mehr zurück in Verhältnisse zu geben scheint, in denen er allein den Ton angibt. Oft wirkt er regelrecht genervt, beispielsweise wenn er der Opposition vorwirft, bei den Protesten Frauen in den Vordergrund zu stellen. Dass die Protestbewegung gegen ihn stark weiblich geprägt ist, scheint ihm zuzusetzen. Dafür gibt es neben seiner eigenen abschätzigen Haltung zu Frauen vermutlich einen praktischen Grund: Bilder von Polizeigewalt gegen weibliche Protestierende kommen auch in seiner Anhängerschaft nicht gut an. Selbst Strafverfahren können der dezentral organisierten Bewegung gegen ihn wenig anhaben, die nicht nur auf der Straße, sondern auch im Internet präsent ist. Cyberaktivisten verübten bereits mehrmals Attacken auf staatliche Portale und ­legten sogar kurzzeitig die Website des Diktators lahm.

Da die russische Regierung Lukaschenko vorerst finanziell und politisch unterstützt, kann dieser zwar weiter regieren, aber nicht mehr wie in seinen besten Zeiten. Kanada, die USA und Großbritannien kündigten Sanktionen gegen Belarus an, die Europäische Union hätte bereits eigene beschlossen, wenn Zypern kein Veto eingelegt hätte. Zwischen Ost und West zu lavieren, ist Lukaschenko nicht mehr möglich, doch trotz der Abhängigkeit von Russland gibt er sich als souveräner Herrscher. Auf welche Zugeständnisse er sich Mitte September im russischen Sotschi bei seinem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau einließ, ist nicht bekannt. Es wäre beispielsweise zu erwarten gewesen, dass Wiktor Babariko nach dem Gespräch freigelassen wird. Als Herausforderer Lukaschenkos, dem Unterstützung aus Russland nachgesagt wird, war er nicht zu den Präsidentschaftswahlen zugelassen worden. Er sitzt noch immer in Untersuchungshaft.