Die EU-Kommission plant den grünen Sprung nach vorne

Bruchlandung auf dem Mond

Die EU will bis 2050 ein klimaneutrales Wirtschaftssystem schaffen und zur technologischen Führungsmacht werden. Nicht alle Mitglied­staaten unterstützen das Vorhaben gleichermaßen.

Wenn es um das Klima geht, ist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen um keinen Superlativ ver­legen. Der »europäische Grüne Deal« sei mit der Mondlandung in den sechziger Jahren vergleichbar, sagte sie Ende vergangenen Jahres, als sie die Klimaziele der Kommission vorstellte. Tatsächlich ist es ein ambitioniertes Vorhaben, Europa bis 2050 in einen klimaneutral bewirtschafteten Kontinent zu verwandeln. Rund eine Billion Euro möchte die EU allein in den kommenden zehn Jahren investieren, um die Energieversorgung, die Industrie, den Verkehr und die Landwirtschaft umzubauen.

Beim »Grünen Deal« geht es aber nicht nur darum, Emissionen zu reduzieren. Die EU-Kommission verspricht sich von ihm auch Wirtschaftswachstum. Er soll Europa weltweit an die Spitze der technologischen Entwicklung bringen und neue Arbeitsplätze schaffen. Das alte, auf fossilen Energieträgern basierende Produktionsmodell möchte die Kommission durch ein klima­neutrales ersetzen.

Bis es so weit ist, hat die EU-Kommission einige Etappenziele vorgegeben und zahlreiche Maßnahmen beschlossen. So soll der CO2-Ausstoss bis 2030 um 55 Prozent sinken, wie sie im September mitteilte. Ursprünglich waren 40 Prozent vorgesehen. Die Industrie und das verarbeitende Gewerbe dürfen langfristig nur noch mit erneuerbarer Energie arbeiten, weshalb Windkraft- und Offshore-Anlagen stark ausgebaut werden. Vorgesehen sind außerdem ein umfangreiches Programm zum Schutz und zur Wiederaufforstung von Wäldern sowie neue Energiesparmaßnahmen unter anderem durch die Sanierung von Gebäuden. Um die E-Mobilität zu fördern, sollen in den kommenden Jahren mindestens eine Million neue Ladestationen für Elektrofahrzeuge entstehen. Die EU-Kommission will außerdem die Batterieherstellung stärker subventionieren, den Flugverkehr verringern und strengere Regeln für den Schiffsverkehr einführen. Zudem erwägt sie eine Steuer auf Importe aus Ländern, die die EU-Standards beim Klimaschutz nicht einhalten.

Für die EU drängt die Zeit. Denn sie steht in direkter Konkurrenz zu den USA und China, die jeweils die technologische Führung bei der Etablierung eines möglichst klimaneutralen Kapitalismus übernehmen wollen.

Eine zentrale Rolle für den geplanten Umbau spielt der Emissionshandel (ETS). Luftfahrtunternehmen sowie Unternehmen energieintensiver Branchen müssen seit 2005 Zertifikate erwerben, um über eine bestimmte Grenze hinaus CO2 ausstoßen zu dürfen. Dieser Handel soll künftig in Deutschland für alle übrigen CO2-Emissionen, die durch Verbrennung fossiler Energieträger wie Kohle, Öl und Gas entstehen, erweitert werden. Er gilt dann für den

Bereich der Schiffahrt und für Unternehmen, die Benzin, Diesel oder Heizöl verkaufen.
Etwa zwei Drittel der CO2-Zertifikate werden an Börsen gehandelt, zum Tagespreis oder auf Termin. Emissionsrechte sind also Spekulationsobjekte. Kraftwerksbetreiber und Stahlkonzerne handeln mit ihnen, aber eben auch Hedgefonds und Investmentbanken. Mit den neuen klimapolitischen Vor­gaben der EU-Kommission werden die Preise steigen.

Die Kritik an den neuen EU-Vorgaben ließ nicht lange auf sich warten. Wenig überraschend teilte der deutsche Verband der Chemischen Industrie (VCI) mit, er halte das Ziel von 55 Prozent für »extrem ambitioniert« und »flankierende Maßnahmen« für notwendig. Die energieintensiven Branchen befürchten, dass die Produktion in Länder mit weniger strengen Umweltregeln abwandert.

Widerstand gegen den »Grünen Deal« kommt aber auch von den osteuropäischen EU-Staaten. In Polen, Ungarn und Tschechien basiert die Stromversorgung größtenteils noch auf fossilen Energieträgern. So steht in der polnischen Gemeinde Bełchatów, rund 500 Kilometer östlich von Berlin, das größte Braunkohlekraftwerk der Welt. Mehr als 45 Millionen Tonnen Kohle werden dort jährlich verstromt, wodurch 30 bis 40 Millionen Tonnen CO2 in die Atmosphäre gelangen. Damit stößt das Werk mehr Treibhausgase aus als die gesamte Slowakei oder Irland.

Da Kohlekraftwerke jedoch nur eine bestimmte Menge an Emissionen ­ausstoßen dürfen, muss die polnische Regierung der Rest mit dem Ankauf von Emissionsrechten ausgleichen. Lange Zeit konnten diese Rechte günstig erworben werden, doch zuletzt ist der Preis pro Tonne CO2 deutlich gestiegen – Kosten, die der Staat tragen muss.

Die polnische Regierung prüft daher die Möglichkeit, aus dem EU-Emissionshandel auszusteigen – und damit aus einem zentralen Element des »europäischen Grünen Deals«. Auch die tschechische Regierung hat die EU-Kommission kürzlich aufgefordert, den »Grünen Deal« zu vergessen und sich stattdessen auf die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise zu konzentrieren. Sie steht dem Klimavorhaben der EU ohnehin skeptisch gegenüber.

Um die osteuropäischen Staaten zu überzeugen, will die EU-Kommission ab 2021 Staaten im Strukturwandel mit dem »Just Transition Fund« unterstützen. An die 100 Milliarden Euro werden bereitgestellt, um den Übergang zu ­finanzieren. Die polnische Regierung hat jedoch schon moniert, dass der Betrag nicht ausreichend sei.

Andere EU-Staaten sind da schon weiter. So will Schweden bis 2045 klimaneutral sein, Österreich möchte ­dieses Ziel bereits bis 2040 erreichen. In beiden Ländern unterscheiden sich die Ausgangsbedingungen gravierend von denen in Osteuropa. In Österreich zum Beispiel tragen erneuerbare Energien bereits jetzt rund 75 Prozent zur Stromerzeugung bei, dank des hohen Anteils von Wasserkraft, den die gebirgige Natur des Landes ermöglicht. In Schweden, das sich vollständig selbst mit Energie versorgen kann, liegt der Anteil der fossilen Träger gerade mal bei fünf Prozent. In Polen sind es fast 80 Prozent.

Es sind aber nicht nur die extremen regionalen Unterschiede, mit denen die EU-Kommission zu kämpfen hat. Selbst in den wirtschaftlich starken Ländern fehlt oft der politische Wille, Änderungen durchzusetzen. So hat die Bundesregierung, die sich gern als Vorreiterin in der Klimapolitik geriert, wenig Anlass, stolz zu sein. Die CO2-Emissionen durch den Straßenverkehr sind in Deutschland im vergangenen Jahr deutlich angestiegen. Das liegt unter anderem daran, dass sich große SUVs mit hohem Ausstoß weiterhin bestens verkaufen. Der Wandel hin zur ­E-Mobilität kommt hingegen spät und zögerlich. Klare Signale wie in Frankreich, wo die Produktion von Verbrennungsmotoren 2040 verboten werden soll, sind von der Bundesregierung bislang nicht zu vernehmen. Die Niederlande und Irland wollen sogar schon 2030 nur noch Autos ohne Verbrennungsmotor neu zulassen. Mit dem bisherigen Maßnahmenkatalog wird Deutschland jedenfalls bis 2030 nicht die neuen Klimaziele der EU erreichen können.

Für die EU drängt die Zeit. Denn sie steht in direkter Konkurrenz zu den USA und China, die jeweils die technologische Führung bei der Etablierung eines möglichst klimaneutralen Kapitalismus übernehmen wollen. So kündigte der US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden an, im Fall seines Wahlsiegs die USA zur führenden Kraft im Klimaschutz zu transformieren. Bis 2035 will er insgesamt zwei Billionen US-Dollar in saubere Energien investieren lassen und die CO2-Emissionen bei der Stromerzeugung stark verringern. Doch die USA haben teils mit ähnlichen Problemen wie Europa zu kämpfen. Insbesondere die nordöstlichen Staaten des sogenannten Rust Belt mit ihren energieintensiven Industrien sind weit von einem ökologischen Strukturwandel entfernt. Auch hält Biden sich mit Aussagen zurück, wie er es mit der fossilen Fracking-Industrie halten will.

Bei der E-Mobilität haben die USA und andere Staaten die EU hingegen schon längst hinter sich gelassen. So fahren 38 Prozent aller weltweit zugelassenen Elektroautos auf US-ameri­kanischen Straßen, 24 Prozent in Japan und gerade mal elf Prozent in der EU, davon drei Prozent in Deutschland. Zudem gelten für Autohersteller in den USA, China und selbst in Indien strengere Vorgaben für den Benzinverbrauch ihrer Mororen als in der EU. Auch der Ausbau der erneuerbaren Energien verlagert sich seit Jahren in andere Kontinente. China und die USA haben die EU beim Ausbau der Windkraft ­abgehängt, bei der Photovoltaik ist China unangefochten Spitzenreiter. Bis zur klimapolitischen Mondladung hat die EU also noch einen langen Weg vor sich.