In Polen demonstrieren Hunderttausende gegen das Abtreibungsverbot

Gegen das Bündnis von Knüppel und Kanzel

Nachdem das Verfassungsgericht Polens Abtreibungen fast vollständig verboten hat, demonstrierten Hunderttausende. Der Protest richtet sich nicht allein gegen das Urteil.

Trotz mancher Warnungen war es für viele in Polen ein Schock: Das Verfassungsgericht hat am 22. Oktober Schwangerschaftsabbrüche bei schwerwiegender und lebensbedrohlicher Schädigung des Fötus für verfassungswidrig erklärt. Da dies 98 Prozent aller legalen Abtreibungen in Polen betrifft, kommt es einem vollständigen Verbot gleich. Der Einfluss der nationalistisch-autoritären Regierung unter der Führung der Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) auf das Gericht steht außer Zweifel, es wurde von ihr nach dem Regierungsantritt 2015 zu einer willfäh­rigen Institution umgestaltet. Das Urteil wird allgemein als Parteibeschluss von PiS auf besonderes Betreiben des Vorsitzenden Jarosław Kaczyński verstanden.

Es scheint, als habe PiS eine Jugendrevolte gegen das auf der polnischen Gesellschaft lastende katholische Joch provoziert.

Da die nächsten Parlamentswahlen erst 2023 anstehen und die Zahl der an Covid-19 Erkrankten seit Anfang Oktober rasant gestiegen ist, mochte der Regierung der Zeitpunkt für die Verkündung dieser unpopulären Entscheidung günstig erscheinen. Denn seit den Massenprotesten 2016 gegen den ersten Versuch, ein Abtreibungsverbot durchzusetzen, hat PiS das Thema im Parlament immer wieder vertagt. Eine deut­liche Mehrheit der polnischen Bevölkerung ist gegen ein Verbot des Schwangerschaftsabbruchs. Der absolute ­»Lebensschutz« ist jedoch für die Kernwählerschaft von PiS sowie für den mächtigen Bündnispartner der Partei, die katholische Kirche, ein unumstöß­liches Postulat. Der Weg über das Gericht schien die Möglichkeit zu bieten, eine größere öffentliche Debatte zu vermeiden.

Doch weder die Pandemie noch der Schein richterlicher Autorität konnten eine heftige gesellschaftliche Reaktion verhindern. Wütende Proteste flammten auf, wie sie das Land seit den achtziger Jahren nicht mehr gesehen hat. Hunderttausende folgen den Aufrufen feministischer Organisationen, in Großstädten kommt es immer wieder zu Massendemonstrationen und Straßenblockaden, auch auf dem Land und in vielen kleineren Städten kommt es zu Protesten. Bemerkenswert ist die ­Breite des Protests, der überwiegend von jungen Menschen getragen wird.

Demonstriert wird vor Parteibüros von PiS und dem Wohnsitz Kaczyńskis, der Protest richtet sich aber auch direkt gegen den ideologischen Urheber des Angriffs auf das körperliche Selbstbestimmungsrecht von Schwangeren: Am ersten Protestsonntag wurden die Kirchen des Landes zum Ziel von Demonstrationen und Störungen. Bischofssitze wurden ebenso belagert wie die Büros der international vernetzten christlich-fundamentalistischen Lobbyorganisation Ordo Iuris, die nicht zuletzt für die Ausrufung der berüchtigten sogenannten »LGBT-freien Zonen« im Südosten des Landes mitverantwortlich ist. Gerade für Jugendliche steht der Protest auch im Zusammenhang mit der seit Jahren stark wachsenden polnischen Pride-Bewegung, die sich jüngst der von Kirche und Regierung initiierten homofeindlichen Hetzkampagne entgegenstellte. Regenbogenflaggen sind bei den Demonstrationen häufig zu sehen.

Es scheint, als habe PiS eine Jugendrevolte gegen das auf der polnischen Gesellschaft lastende katholische Joch provoziert. Der Organisator des jährlichen rechtsextremen Warschauer »Unabhängigkeitsmarschs«, Robert Bąkie­wicz, sagte: »Wir befinden uns mitten in einer neobolschewistischen Revolution, wie man sie aus dem Westen kennt.« Es gelte, katholischen Selbstschutz zu organisieren. Mit Billigung lokaler Pfarrhäuser hält nun eine aus rechtsextremen Kadern gebildete »Nationalwehr« Wache vor den Kirchentoren. Deutlicher könnte sich die klerikalfaschistische Allianz kaum präsentieren. Am Dienstag voriger Woche hetzte dann auch Jarosław Kaczyński in einer Video­botschaft seine Anhängerschaft auf: »Wir müssen die polnischen Kirchen um jeden Preis schützen. Ich rufe alle dazu auf, an der Verteidigung der Kirche teilzunehmen. (…) Das ist ein Angriff, der Polen vernichten soll.«

Den Worten folgten Taten. In vielen Städten greifen immer wieder rechts­extreme Schlägertrupps und Hooligans mit Knüppeln und Messern die Pro­teste an. In Czernikowo bedrohte ein Priester die Demonstrierenden mit einer Schusswaffe. Die Bischofskonferenz erklärte die Beteiligung an den Demonstrationen zur Sünde.

Die Rechte formiert sich mit kirchlicher Unterstützung gegen eine Bewegung, die sie als geschlossene Front von Feinden wahrnimmt. Doch die Protestbewegung ist keineswegs einheitlich und widerspruchsfrei. Die Teilnahme des Warschauer Bürgermeisters Rafał Trzaskowski an den Demonstrationen kommentierte das queerfeministische Kollektiv Stop Bzdurom auf Twitter mit einem eindeutigen »verpiss’ dich«. Der Protest sei nämlich auch gegen die Politik der Zeit vor der Regierungsübernahme der PiS 2015 gerichtet. Insbesondere Trzaskowskis liberal-konservative Bürgerplattform (PO) hatte, als sie an der Macht war, eisern das damals bereits extrem restriktive Abtreibungsrecht verteidigt.

Im Rahmen der Proteste treffen unterschiedliche feministische Richtungen aufeinander. Auf der einen Seite steht eine linksradikale Strömung, die seit 20 Jahren um den 8. März herum sogenannte Manifa-Demonstrationen organisiert, auf denen Patriarchats­kritik immer auch mit grundsätzlicher Kapitalismuskritik und Solidarität in anderen sozialen Kämpfen verbunden wird. Die Bewegung Strajk Kobiet (Frauenstreik), die aus dem Protest 2016 hervorgegangen ist, steht hingegen der liberalen Opposition nahe. Mit ihrer charismatischen Anführerin Marta Lem­part ist Strajk Kobiet hauptverantwortlich für die Organisation der laufenden Proteste und hat die Forderung nach einem Rücktritt der PiS-Regierung populär gemacht.

Feministische Linke halten eine Verengung des Protests auf den Kampf ­gegen PiS an der Seite der liberalen Opposition für einen Fehler. Natalia Bro­ni­arczyk vom Abortion Dream Team (ADT), das sich über Möglichkeiten für einen Schwangerschaftsabbruch informiert, zeigt sich besorgt darüber, dass die überschwänglichen Anti-PiS-Parolen das Thema Reproduktionsrechte in den Hintergrund zu drängen drohen. Das ADT setzt darum auf den Demonstrationen bewusste Akzente im Sinne einer Pro-Choice-Kampagne.

Unter dem Motto »Sozialer Feminismus, kein liberaler!« formierte sich auf der zentralen Großdemonstration in Warschau am Freitag vergangener Woche ein Block verschiedener queer­feministischer linksradikaler Gruppen. Linke setzen alles daran, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch zum Hauptthema der Proteste zu machen, damit eine grundsätzliche Kritik an der Dominanz der katholischen Kirche sowie der heteronormativen patriarchalen Ordnung zu verbinden und den Protest nicht der liberalen Opposition zu überlassen.

Unabhängig von den Auseinandersetzungen über die weitere Ausrichtung des Protests, unabhängig auch davon, wie dieser sich in den kommenden ­Wochen auf die nationalistisch-autoritäre Regierung auswirken und welcher neue »Kompromiss« in der Abtreibungsfrage womöglich ausgehandelt werden wird, ist bereits jetzt von einem langfristigen, tiefgreifenden Effekt auszugehen. Die Erfahrung eines derart breiten, von der Jugend getragenen Protests mit einem emanzipatorischen Ausgangspostulat dürfte die Gesellschaft prägen. Dass ein Gott oder vielmehr dessen irdische Vertreter die Verfügungsmacht über den eigenen Körper nicht außer Kraft setzen dürfen, wurde in Polen noch nie so massenhaft und lautstark zum Ausdruck gebracht.