Der Attentäter von Halle wurde streng verurteilt, aber Fragen bleiben

Antisemitismus ohne Umwege

Im Dezember wurde der Attentäter von Halle zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Die Ideologie des »Großen Austauschs« verbindet ihn mit rechtsextremistischen Attentätern in anderen Ländern.

»Hey, mein Name ist Anon. Und ich glaube, der Holocaust ist nie passiert.« Mit dieser auf Englisch gesprochenen Äußerung begann Stephan Balliet am 9. Oktober 2019 die Videoaufzeichnung, mit dem er seinen Massenmord in der Synagoge von Halle (Saale) für sein internationales Publikum live ins Internet übertragen wollte. Er scheiterte an der stabilen Eingangstür, hinter der die kleine jüdische Gemeinde der Stadt den Feiertag Yom Kippur beging. Wutentbrannt über das Versagen seiner selbstgebauten Sprengsätze schoss er die Passantin Jana L., die ihn auf sein Treiben angesprochen hatte, in den Rücken. Als ein Kurierfahrer sich um sie kümmern wollte, drückte Balliet erneut ab, doch die Waffe funk­tionierte nicht. Er stieg in seinen Wagen und hielt vor einem Döner-Imbisslokal, wo er, nachdem er sein Hauptziel verfehlt hatte, »nahöstliche« Opfer zu finden glaubte. Er schoss den deutschen Malerlehrling Kevin S. an, dann holte er eine neue Waffe, kehrte zurück und vollendete den Mord. Die Polizei, die mit zwei Streifenwagen eintraf, konnte ihn nicht aufhalten.

Der Täter raste davon und steuerte sein Auto gezielt auf einen Passanten, den er als dunkelhäutig erkannt hatte, und verletzte ihn. Im 20 Kilometer entfernten Wiedersdorf schoss er ein Ehepaar an, um die Herausgabe eines anderen Fluchtwagens zu erzwingen. Unweit davon kaperte er ein Taxi in einer Reparaturwerkstatt. Das Taxiunternehmen konnte das Fahrzeug orten und informierte die Polizei. So konnte Balliet festgenommen werden. In seiner ersten Vernehmung bekannte er, dass er möglichst viele Juden töten wollte. Diese seien für unzufriedene weiße Männer wie ihn das größte Problem.

14 Monate später hatte der Angeklagte das Schlusswort vor Gericht. Nachdem er das Verfahren als Schauprozess bezeichnet und einen baldigen Bürgerkrieg angekündigt hatte, setzte er erneut dazu an, den Holocaust zu leugnen. Nach Protest der Nebenklage unterbrach ihn die Richterin und ließ ihn abführen.

Am 21. Dezember erging das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg: Balliet wurde wegen zweifachen Mordes und Mordversuchs in 66 Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Sofern nichts Unvorhergesehenes passiert, wird er wohl den Rest seines Lebens in der Zelle verbringen.

Der 28jährige steht in einer Reihe mit den anderen rechtsextremistischen Attentätern, unter anderem dem von Utøya (Norwegen), Anders Breivik, dem von Christchurch (Neuseeland), Brenton Tarrant, sowie dem von Poway (Kalifornien). Dort drang der 19jährige John Earnest am 27. April 2019 mit einem Sturmgewehr in eine Synagoge ein, tötete eine 60jährige Frau, die sich ihm in den Weg gestellt hatte, und verletzte drei weitere Personen. Earnest veröffentlichte ein Bekennerschreiben und wollte seine Tat auf Facebook streamen, was ihm jedoch nicht gelang. Er war von Robert Bowers inspiriert, der am 27. Oktober 2018 elf Menschen in der Tree-of-Life-Synagoge von Pittsburgh (Pennsylvania) ermordet hatte. Auch der Anschlag vom 3. August 2019 im texanischen El Paso gehört in diesen Kontext. Dort erschoss Patrick Wood Crusius 22 Kunden in einem Supermarkt, weil er Mexikaner töten wollte. Auch er hatte kurz vor seiner Tat ein Bekenntnis auf faschistischen Internetkanälen hochgeladen.

All diese Attentäter ähneln sich nicht nur darin, wie sie die Massaker ausgeführt und soziale Medien benutzt haben, wo sie sich fanatisierten und vielleicht potentielle Nachahmer inspirierten. Sie teilen auch die ideologische Begründung ihrer Taten, indem sie vorgeben, einen »Bevölkerungsaustausch« zu bekämpfen. Diese Idee stammt aus dem Buch »Le grand remplacement« des neurechten französischen Ideologen Renaud Camus, dessen deutsche Übersetzung 2016 im rechtsintellektuellen Verlag Antaios erschien.

Der »Große Austausch« ist auch der Kern der Ideologie der rechtsextremen Identitären, die ihre politische Heimat bei den sogenannten Rechtspopulisten in der AfD oder FPÖ gefunden haben. Ihren im Kern antisemitischen Glauben an eine Weltverschwörung projizieren sie regelmäßig auf den jüdischen Investor George Soros, der auch von Regierungschefs wie Donald Trump oder Viktor Orbán als Bösewicht bemüht wird. Auf solche Umwege verzichten Attentäter wie Stephan Balliet.

Der bestätigt übrigens auch den Zusammenhang von Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus: Der Feminismus sei schuld an der niedrigen Geburten­rate in den westlichen Ländern, die zur Masseneinwanderung führe. Die »Wurzel all dieser Probleme« sei »der Jude«, sagte er in seinem Video. Während seines Amoklaufs spielte Balliet Lieder, deren Texte dem Rechtsextremismusforscher Bernhard Weidinger zufolge »nationalsozialistische Propaganda reinsten Wassers« seien. Die Ermittler fanden auf Balliets Festplatten Hitlers »Mein Kampf«, Dateien mit Bildern Hitlers, Hakenkreuzen und Gewaltvideos, auch vom »Islamischen Staat«.

Anders als bei den Mitgliedern des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) verlief Balliets politische Sozialisation allerdings weniger in Jugendbünden und an Lagerfeuern, sondern über rechtsextremistische Foren und Killerspiele im Netz. So entsteht der Eindruck, er habe einsam gelebt und seine Taten allein verübt, allerdings nicht als Einzelgänger, sondern vernetzt mit Gleichgesinnten, die über alle möglichen Länder verstreut sind. Tatsächlich geistern haufenweise Pläne durchs Internet, mit spektakulären Verbrechen die Verhältnisse zu destabilisieren und einen »Tag X« herbeizuführen, an dem überall Aufstände ausbrechen sollen, ausgelöst durch ein großes Attentat oder eine große Katastrophe. Oder durch eine verlorene Präsidentenwahl.

Doch wie eng ist die Vernetzung wirklich? Anhand der beschlagnahmten Computer und Smartphones wäre es möglich, solche Verbindungen aus­zuleuchten. Denn obwohl Balliet in seinem Tatvideo Englisch sprach, sah es das Gericht nicht als seine Aufgabe an, der Frage nachzugehen, welche Rolle terroristische Onlinegemeinschaften spielen, wie es eine der 17 Nebenklägerinnen und Nebenkläger am Jahrestag des Attentats im Spiegel forderte. Man müsse terroristische Online-Gemeinschaften in den Fokus rücken, in denen sich die Anhänger der white supremacy ausleben können, hieß es in ihrer Erklärung. Ein gravierender Irrtum wäre es freilich zu glauben, die digitale Fanatisierung würde sich unabhängig von analogen Umständen in der Familie, in Schule oder Bundeswehr vollziehen.

Am Ende erhielt das Gericht Lob, weil es die Angehörigen der Opfer und die Zeugen, die das Geschehen in der Synagoge miterleben mussten, nicht bürokratisch als Verfahrensbeteiligte behandelte, wie es im Münchner NSU-Prozess der Fall gewesen war. Stattdessen bekamen sie die Möglichkeit, unzensiert ihre Erfahrungen, ihre Schmerzen und Traumata zu schildern. (Zeit der letzten Worte).

Das alles erscheint im Januar 2021, nach dem Sturm auf das Washingtoner Kapitol, in einem besonders grellen Licht. Am Angriff der Trump-Anhänger können sich die Identitären berauschen, denen er trotz allen Dilettantismus’ einen Vorgeschmack auf den »Tag X« zu bieten scheint (siehe Der gefallene Erlöser). Der Prozess von Halle endete mit einer harten Strafe für den Täter, gewiss, aber er war kein exemplarischer Prozess gegen den wiedererstarkenden Nationalsozialismus in seinem Ursprungsland.